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Dunkle Blätter

DAS JAGDSCHLOSS

Dunkle Blätter aus den alten Zeiten des Papyrus wie aus den neuen des Papiers gibt es genug in diesem sonnigen Lande, doch liegen sie nicht am Wege der Herdenreisenden von Stangen und Cook. Im grellen Licht, das selbst die Wüste ausstrahlt, gehen die meisten achtlos an ihnen vorüber. Natürlich! Man kommt nicht nach Ägypten, um dunkle Blätter zu betrachten. So muß ich wohl ausführlich erzählen, wie ich dazu kam, eines der dunkelsten so nahe zu streifen, daß es mir auf Wochen den ägyptischen Sonnenschein entleidete. Die überaus sach- und landeskundigen Herdenreisenden würden mir sonst kaum glauben. Sie hatten nichts dergleichen bemerkt. Es war alles so hell, so klar, so durchsichtig unter dem blauleuchtenden Himmel, die Fellachen, ein mit dem Wenigsten zufriedenes, lärmendes, malerisch zerlumptes Völkchen, und die Paschas so komisch, wenn sie auch nicht immer ganz so gesittet und liebenswürdig sein mochten wie wir selbst, sobald wir auf Reisen sind. Das wenigstens war der Eindruck, den die Mehrzahl der eingeborenen oberen zehn Zehner von Alexandrien und Kairo gegen die Mitte der sechziger Jahre auf uns machte.
Das Schicksal gestattete mir jedoch nicht, meine Beobachtungen auf die Allerweltsstraße der hereinbrechenden Touristenflut zu beschränken. Ich stak eines Tages, zum Beispiel, in einem Brunnenschacht zu Terranis bei Damiette, den Kopf und ein ängstlich flackerndes Öllämpchen in dem riesigen Ventilkasten einer hundertachtzigpferdigen Dampfpumpe alten Schlages, die sich seit einigen Tagen hartnäckig geweigert hatte, die umliegenden Reisfelder mit dem nötigen Trinkwasser zu versorgen. Es war eine jener turmhohen Wasserhebemaschinen, wie sie in Bergwerken üblich sind und von englischen Ingenieuren und Agenten zum Beginn der landwirtschaftlichen Entwicklung neuen Stils gut genug für Ägypten gehalten wurden. Das drei Zentner schwere messingene Saugventil, einer großen Glocke ähnlich, hing provisorisch an einer Kette, welche kunstvoll in einen Baststrick überging, der über eine Seilscheibe am Dach des Maschinenhauses lief. Am andern Ende des Seiles hingen fünf Fellachen und gaben sich den Anschein, eine qualvoll schwere Last emporzuziehen. Auf dem Zylinderdeckel, zwei Stockwerke über mir, saß mit gekreuzten Beinen, behaglich wie ein Pascha der alten Schule, mein Dragoman Abu-Sa und übersetzte brüllend die englischen Kommandoworte, die aus der dunklen Tiefe zu ihm heraufdrangen, in verständliches Fellaharabisch, worauf die fünf Mann lebenden Gegengewichts nicht ohne häufige Anrufung Allahs und seines Propheten den Strick anzogen oder nachließen.
Ich atmete erleichtert auf, trotz der scheinbar unerquicklichen Umgebung von Nilschlamm, triefendem Wasser und ägyptischer Finsternis, in der ich wie ein Molch herumkroch. Die Ursache des Jammers, der mich Hals über Kopf von Kairo hierher, nach der nördlichsten Besitzung Halim Paschas, gesprengt hatte - damals eine Reise von zwei Tagen trotz aller Beförderungsmittel, die mir zur Verfügung standen -, war endlich nach mehrtägigem Suchen gefunden. Ein großer Fisch hatte ein Loch im Saugkorb der Rohrleitung benutzt und sich in seiner Neugierde bis zum ersten Ventil der Pumpe durchgearbeitet. Dort war er zwischen Ventil und Ventilführung mit abgeschnittenem Kopf und auch sonst lebensgefährlich verletzt steckengeblieben. Nach dieser Heldentat, die das Ventil an dem unberufenen Eindringling verübt hatte, weigerte es sich, seine gewöhnliche Alltagsarbeit weiter zu verrichten, so daß die große Pumpe stöhnend und ächzend, pustend und gurgelnd seit fünf Tagen aufgehört hatte, Wasser zu geben. Manchmal, je nachdem der tote Fisch sich in dem Ventilkasten drehte, stieg plötzlich das Wasser im Druckrohr mächtig und hoffnungsvoll empor; dann aber, mit einem alles erschütternden Knall in den untersten Tiefen des Schachtes, lief das kostbare Naß zischend und sprudelnd wieder davon. Es ist nicht immer ganz einfach, derartige faule Fische in dem Riesenleib einer Dampfpumpe sofort zu entdecken, namentlich ehe man weiß, ob sie überhaupt vorhanden sind. Deshalb war ich nach meiner Entdeckung in der besten Stimmung. Die Reisernte von Terranis brauchte nicht verloren zu sein. Es handelte sich jetzt bloß darum, den kopflosen Fisch aus dem Ventil herauszubekommen und ihn, soweit die Fellachen damit zu tun hatten, zu verspeisen. War dies geschehen, so mußte die Pumpe wieder ihre viereinhalb Tonnen Wasser in der Sekunde speien wie je zuvor.
Ich beleuchtete das Ungetüm von allen Seiten. Es stak fest zwischen Ventil und Ventilführung und sah mit seinen zerfetzten Flossen kläglich, fast mitleiderregend aus. 'Das kann schließlich jedem passieren!' dachte ich, mit dem Kopf unter der hängenden Glocke, zum Beispiel auch mir, wenn Abu-Sa ein falsches Kommando gibt und die drei Zentner Messing auf mich herunterkämen. ' Ich getraute mir deshalb nicht einmal "Festhalten!" hinaufzuschreien. Wie leicht konnte das Wort mißverstanden oder falsch übersetzt werden; und dann wäre der Fisch nicht schlimmer daran gewesen als ich und die wertvolle Reisernte sicherlich verdurstet.
Und wirklich, oben schien plötzlich eine große Bewegung auszubrechen: rasche Tritte, einzelne Rufe, verwirrtes Schreien. Der tote Fisch begann zu zittern, und das Ventil tat einen Ruck. Ich bin nie aus einem Ventilkasten so schnell herausgekommen wie damals. Sobald ich aber bemerkte, daß all meine Gliedmaßen noch aneinanderhingen und mir nichts fehlte, bemächtigte sich meiner ein heiliger Zorn, der wohl jeden erfaßt, dem aus Versehen der Kopf abgeschnitten zu werden drohte. Das Gefühl der Dankbarkeit gegen eine gütige Vorsehung verflüchtigt sich in solch kritischen Augenblicken vielleicht allzu rasch. Ich flog die Leiter hinauf, um mich auszusprechen.
Dazu kam es allerdings nicht. Man wird innerlich ruhiger, wenn man an einer senkrechten Leiter von fünfundzwanzig Sprossen sehr rasch emporklettert. Und dann sah ich sofort, daß sich etwas Außerordentliches ereignet haben mußte. Abu-Sa hatte seinen beherrschenden Sitz auf dem Zylinderdeckel verlassen. Nur noch zwei der Fellachen hingen gewissenhaft, aber jammernd an dem Strick, jeden Augenblick gewärtig, von dem schwebenden Ventil in die Luft gehoben zu werden. Die andern drei hatten sich in harmloser Neugier zu der Gruppe gesellt, die in der Mitte des Maschinenhauses den aufgeregt keuchenden Nasir - den Gutsverwalter - von Terranis, den majestätischen Scheich el Beled - den Dorfschulzen - und einen Mamelucken Halim Paschas umgab, dessen dampfendes Pferd zwischen den Eseln der beiden Würdenträger vor der Türe stand.
Achmed el Soyer, "der kleine Achmed", ein mir wohlbekannter Leibdiener Halims, der in Schubra für die Tschibuks seines Herrn verantwortlich war, schien etwas erstaunt, denn er hatte mich noch nie in einem Überzug von Nilschlamm gesehen, wie ich ihn aus dem Schacht heraufbrachte. Doch zog er sofort ein kleines Billett aus der Brusttasche seines Stambulrockes (1), und überreichte es mir mit der Feierlichkeit, zu der ihn ein Ritt von zwölf Stunden berechtigte. Es war eine Briefchen in den mir bereits wohlbekannten Krähenfüßen des Paschas, der sich auf einer Jagdrundreise befand und gestern in Kassr-Schech, fünfundsiebzig Kilometer westlich von Terranis, angekommen war. Er schrieb:
"Haben Sie die Güte, mit dem Mamelucken Achmed hierher zu kommen. Der Nasir von Terranis hat Befehl, Ihnen Pferde zu geben. Ich habe auf dem Schutthügel einer altgriechischen Stadt Sackra bei Kassr-Schech einen wundervollen Platz für mein gußeisernes Jagdschloß gefunden. Vor meiner Abreise von hier möchte ich mit Ihnen die Grundmauern des Gebäudes festlegen; auch anderes besprechen. Bitte ohne Verzug zu kommen. Halim."
Kein Wunder, daß die Bevölkerung des Bezirks in einiger Aufregung war und von allen Seiten herbeiströmte. Schon waren die Fenster des Maschinenhauses mit Zuschauern besetzt, die still, aber mit weitaufgerissenen Augen die Nasen gegen die Scheiben drückten, wo diese noch nicht zerbrochen waren. Ein so unmittelbarer Befehl Effendinis war in Terranis nichts Alltägliches. Da mußte man mindestens wissen, um was es sich eigentlich handle. Zwanzig Hände fütterten und tränkten das Pferd des Mamelucken, Jusef ben Chalil, der wackere Maschinenwärter der verunglückten Pumpe, kochte unter seinem Dampfkessel eiligst Kaffee, und Nasir und Scheich el Beled wetteiferten in guten Ratschlägen, wie ich am besten und schnellsten nach Kassr-Schech kommen könne.
Das war nun der dritte wundervolle Platz, den mein derzeitiger Herr und Gebieter für sein eisernes Jagdschloß gefunden hatte. Ungefähr vor Jahresfrist wurde ein junger französischer Gießereibesitzer durch ein Brustleiden nach Ägypten geführt. Dieser Herr benutzte eine frühere, oberflächliche Berührung mit dem ägyptischen Prinzen in der Ecole Centrale zu Paris dazu, dem künftigen Vizekönig seine Aufwartung zu machen. Halim erinnerte sich seiner kurzen Pariser Studentenzeit immer gerne, und seine Bekannten, auch die entferntesten, aus jenen Tagen waren eines gastfreundlichen Empfangs sicher. So kam es, daß nach einem heiteren Frühstück a la française in den Gärten zu Schubra, bei dem die Gebote des Korans nicht buchstäblich gehalten worden waren, der Gießereibesitzer Seine Hoheit von der Notwendigkeit eines gußeisernen Jagdschlosses überzeugt hatte, das nach einer kunstvoll aquarellierten Zeichnung in der Tat recht hübsch aussah und, versicherte der Brustkranke, für tropische Ameisen - die es in Ägypten nicht gibt - völlig unzerstörbar war. Zuerst, als das Gebäude nach acht Monaten in drei Nilbooten von Alexandrien heraufgesegelt kam, sollte es in der Nähe von Heliopolis aufgestellt werden und als Ausgangspunkt der in der dortigen Gegend häufig veranstalteten Gazellenjagd dienen. Doch noch ehe ich mit dem Ausladen der Nilboote bei Schubra beginnen konnte, hatte Halim den zweiten wundervollen Platz am andern Ufer, zehn Stunden flußabwärts bei Thalia, gefunden. Die Feluken wendeten deshalb ihre Schnäbel wieder nach Norden, woher sie gekommen waren, und die zahllosen Säulen und Konsolen, Blechwände und Zinkdachplatten lagen seit einigen Wochen in halbzerbrochenen Riesenkisten unterhalb Kaliubs am Nilufer im Sand und warteten auf mich und ihre Zusammenstellung. Nun also schien der dritte wundervolle Platz am entgegengesetzten Ende des Deltas entdeckt worden zu sein, so daß das Jagdschloß einer abermaligen und, wie ich mit Besorgnis überlegte, diesmal sehr schwierigen Wanderung entgegensah. Doch war ich zum Glück schon ein wenig daran gewöhnt, technische Aufgaben im Stil von Tausendundeiner Nacht zu behandeln, und ließ mich nicht mehr so schnell verblüffen.
Das französische Billett des Paschas, welches der gelehrte Schreiber des Dorfschulzen mit hoffnungslosem Kopfschütteln betrachtete und auf das ich von Zeit zu Zeit mit drohendem Finger hinwies, versetzte männiglich in fieberhafte Tätigkeit. Selbst mein fetter, schläfriger Abu-Sa, dem der zeitweise Abschied von der behaglichen Dahabia, dem Nilboot, in dem wir in Terranis hausten, besonders sauer fiel, ließ sich durch wenige ermunternde Rippenstöße zu ungewohntem Übersetzungseifer aufstacheln. In einer Stunde waren zwei Pferde, zwei Kamele und ein Esel zur Stelle. Mit angstvoller Miene fragte jetzt der Nasir, seiner Reisfelder gedenkend, was um's Himmels willen aus der Pumpe werden solle. Der Maschinist Jusef, ein herzensguter Kerl, der sich zu jeder Arbeit willig zeigte, die er auf morgen verschieben konnte, schlug zuerst vor, zu warten, bis ich wieder zurückgekommen sei. Dagegen protestierte der Nasir mit allen Zeichen leidenschaftlicher Empörung, so daß der eingeschüchterte Mechanikus die Hoffnung durchblicken ließ, den Fisch mit Gottes Hilfe selbst schon morgen herausziehen zu wollen. Ich erklärte ihm, so gut es ging, wie er sich dabei zu verhalten habe, wie er den Ventilsitz und die Führung des Ventils säuberlich reinigen und den Ventilkastendeckel wieder anschrauben müsse, und empfahl der ganzen Gesellschaft schließlich große Vorsicht. Diese versprachen sie alle laut und einmütig, und ich glaubte, soweit ich meine Leute kannte, nie weniger Grund gehabt zu haben, an einem Versprechen zu zweifeln. Ob sie überhaupt den Versuch machen würden, das Ventil von den störenden Fischgräten und -schuppen zu befreien, war eine ganz andre Frage.
In einer weiteren Stunde hatte ich meine Kleider gewechselt, einen Koffer gepackt, mein Bett samt einer eisernen Bettstelle auf den Rücken des einen Kamels geladen, Abu-Sas und meines Kochs wunderliches Reisegepäck auf dem Rücken des zweiten festbinden sehen und ein halbes Dutzend Eier gefrühstückt. Dann setzte die Karawane in einem bedenklich bresthaften Kahn unter vielem Geschrei der Leute und heftigem Widerstand der Kamele glücklich über den Nil. Am andern Ufer erst machte man sich eigentlich reisefertig; ich und Achmed el Soyer zu Pferd, der Koch auf dem Küchen- und Gepäckskamel in fröhlichster Stimmung die Situation beherrschend, Abu-Sa in meinem Namen, wenn auch ohne Auftrag, jedermann verschimpfend, auf dem Kreuz des Esels, wie und wo der eingeborene Ägypter zu sitzen pflegt. Der allzu rasche Aufbruch hatte ihn tief verstimmt; in dieser Weise konnte man unmöglich weiterleben! Zwei Kameltreiber und ein Sais liefen nebenher und versuchten von Zeit zu Zeit mit Hilfe eines hinten zufällig herabhängenden Stricks das zweite Kamel und mein Bett zu besteigen, was jedoch Abu-Sa mit gebührender Entrüstung und unerwartetem Schicklichkeitsgefühl zu verhindern wußte. So zogen wir gegen zehn Uhr über die ersten besten Kleestoppeln querfeldein gen Westen, in den glühenden Tag hinein.
Es war mir nichts Ungewohntes mehr, eine solche Wanderung durch die grüne Deltaebene mit ihrem stillen Blühen und Sprossen, Reifen und Welken; über die saftig dunklen Kleefelder, die endlosen Flächen, die der etwas kümmerliche Weizen bedeckt, durch die am Horizont zusammenlaufenden Staudenreihen der Baumwolle. Von Zeit zu Zeit unterbricht eine kleine Erhöhung die Einförmigkeit des Bildes. Es sind die Lehmmauern eines Fellahdorfes mit seinen viereckigen, gradlinig abgedachten Häusern, seinem kleinen krummen Minarett, seiner Sykomore oder der spärlichen Palmengruppe und einem halbvertrockneten Teich. Da und dort taucht ein höherer Hügel auf, der in dieser Ebene vom fernen Horizont her ganz gewaltig dreinschaut und die begrabenen Trümmer einer Stadt aus der Zeit der Ptolemäer oder selbst des ältesten Ägyptens andeutet. Bei dem Ritt von Ost nach West, beinahe an der Grenze des bebauten Landes, wo dieses in die brackigen Sumpfflächen des Burlossees und des nahen Meeresufers übergeht, unterbricht den einförmigen Reitpfad nicht selten ein halbvertrockneter Kanal, ein fast versandeter Nilarm. Die Kamele gurgeln grämlich, wenn sie unsicheren Schrittes an der Böschung der zerfallenen Dämme hinabgleiten. "Man sauft nicht schon wieder", scheinen sie ärgerlich zu denken, "wenn man kaum vier Stunden lang in der angenehm brennenden Sonne spazieren gegangen ist." Die Pferde, bis am Bauch in dem lauen, gelbbraunen Wasser versinkend, machen dagegen trotz des heftigen Widerstandes ihrer Reiter Versuche, ein gründlicheres Bad zu nehmen, während der sich verzweifelt sträubende Esel von Abu-Sa hinten ins Wasser geschoben werden muß, sich dann aber plötzlich, laut schreiend vor Freude über das köstliche Naß, auf den Rücken legt und alle vier Beine dankbar gen Himmel streckt. All das gibt eine willkommene Veranlassung zu einer kurzen Rast im Schatten der einsamen Sykomore, welche die Furt bezeichnet, oder bei der kleinen Grabmoschee eines Dorfheiligen, die der stillen, unabsehbaren Fläche einen hübschen Vordergrund verschafft. Und dann geht es wieder weiter; Kleefelder, Weizenfelder, Baumwollfelder ohne Ende.
Ein solcher Ritt, wenn er auch nur zehn Stunden währt, gibt Zeit, an mancherlei zu denken; zum Beispiel an die Frage, wo man herkomme und wo man hingehe. Ich war nun zwei Jahre in Ägypten und hatte begonnen, mich in Land und Leute einzuleben. Die erste neugierige Freude des Daseins hatte sich gelegt und auch vieles Unangenehme seinen Stachel verloren. Selbst die Moskitos fingen an, mich als Landsmann zu betrachten und nach ihrer Art etwas milder zu behandeln. Mein Arbeitsfeld als Ingenieur Halim Paschas hatte sich ausgedehnt, wie ich es kaum für möglich gehalten hätte. Der während der letzten Jahre ungemein ergiebige Baumwollbau hatte mächtig dazu beigetragen, die ausgedehnten Landstrecken, die Halim als jüngster Sohn Mohammed Alis geerbt hatte, in einer bisher ungekannten Weise unter Kultur zu bringen. Der erste ägyptische Dampfpflug, den ich infolge einer glücklichen Vereinigung von Umständen vor dem Untergang retten konnte, hatte andere rasch nachgezogen, so daß ich in Schubra eine förmliche Schule für arabische Dampfpflüger im Gang erhalten mußte. In Terranis, in Thalia, in El Mutana und namentlich in Kassr-Schech dampfte es auf den Feldern, die bisher nie etwas anderes kennengelernt hatten als den altägyptischen Zinken, der auch in den Grabkammern von Memphis und Theben zu sehen ist. Dann waren an all diesen Punkten, mit Ausnahme von Kassr-Schech, große Pumpwerke zur Bewässerung der Güter errichtet worden oder im Bau begriffen und gossen zu jeder Jahreszeit Ströme von Wasser über die zum erstenmal tiefgepflügten Felder. Es war ein emsiges, hoffnungsvolles Treiben von einem Ende des Landes zum andern. Doch war es unter der heißen Sonne warme Arbeit, auf dem alten Boden einer neuen Welt zum Aufkeimen zu verhelfen, und manches Pflänzchen ging dabei zugrunde. Ich selbst war manchmal nicht weit davon.
Was mich auch in den schwersten Tagen munter hielt, war Halim Pascha, der mit der Lebhaftigkeit seines arabischen Blutes das ganze große Getriebe in Bewegung gesetzt hatte. Man sah ihm an, daß er nur halb Türke war. Manchmal lag wohl ein Zug melancholischen Phlegmas und selbst finsteren Stolzes in seinem dunkeln Gesicht, den er von seinem Vater geerbt haben mochte, dem genialen, rücksichtslosen Despoten, der das heutige Ägypten geschaffen hat. Seine Mutter aber war arabischen Blutes: ein Beduinenmädchen, welches der Pascha auf einem Ritt von Suez nach Kairo am Wüstenrande gesehen und mitgenommen hatte. Die Fürstin lebte noch, in dem blauen Palast von Schubra, an der Spitze von Halim Paschas Harim: eine kluge Frau, die trotz der Harimsmauern Erfahrungen aller Art hinter sich hatte und auch am Hofe des regierenden Vizekönigs Ismael, des nachmaligen ersten Khediven, als die allein noch lebende Frau des Gründers der Familie und als die Mutter eines künftigen Vizekönigs mit hoher Achtung behandelt wurde. Damals dachte noch niemand außer dem Vizekönig Ismael daran, daß sein Onkel das Recht auf den Thron Ägyptens verlieren werde; am wenigsten Halim selbst, der mit ruhelosem Eifer an der inneren Entwicklung des Landes arbeitete, welches er als Halbaraber mehr als irgendein anderes Mitglied der vizeköniglichen Familie als das seine, als sein Vaterland ansah.
Kassr-Schech war der Mittelpunkt des größten Distrikts, den er besaß. Derselbe mochte dreißigtausend Hektar umfassen, auf denen sich gegen zwanzig Fellahdörfer und Weiler befanden. Obgleich ein glänzendes Stück des Deltas, war er nicht ohne seine Nachteile. Er lag abseits vom Wege und nicht einmal an einem der Hauptarme des Nils. Während des Hochwasserstandes des Stromes führte der sechzig Kilometer lange Kanal von Kassr-Schech dem Bezirk das erforderliche Wasser zu. Von Februar bis August dagegen lag dieser Kanal trocken. Die nördliche Grenze des Gebiets, die, nur acht Kilometer von Kassr-Schech entfernt, von Ost nach West läuft, bildeten die Sümpfe des Sees von Burlos, dessen brackige Wasser da und dort aus dem Boden drangen und weite Strecken in eine Salzwüste zu verwandeln drohten, wenn das Nilwasser fehlte, um sie auszulaugen. So kam es, daß der Gau bisher ziemlich vernachlässigt geblieben war und nahezu alles erst geschaffen werden mußte, um das großartige Besitztum der Kultur, wie wir sie verstehen, zugänglich zu machen. Im vorigen Jahr hatte ich unter beträchtlichen Schwierigkeiten drei Dampfpflüge an verschiedenen Punkten der Gegend in Tätigkeit gesetzt. Eine Baumwollentkörnungsfabrik war im Bau begriffen, eine Reparaturwerkstätte war aufgestellt. Man überlegte sich die erforderliche Vertiefung des Kanals von Kassr-Schech, eine Trambahn oder die Errichtung eines Straßenlokomotivverkehrs nach der nächsten Bahnstation, der sechzig Kilometer entfernten Stadt Tanta. Doch das waren Zukunftspläne, wie sie damals zu Dutzenden in der Luft lagen, wo sich Halim Pascha zeigte.
Es ist hohe Zeit, zur Gegenwart zurückzukehren. Als die Dämmerung hereinbrach und wir etwa fünfzig Kilometer hinter uns hatten, war mir's, ich gestehe es, nur noch halb wohl im Sattel. Doch die Häusergruppe von Kassr-Schech und nicht weit davon der hohe Scherbenhügel, den man Sackra nannte, lagen endlich purpurfarbig am verbleichenden Abendhimmel. Wie mir Achmed sagte, hatte Halim und sein Gefolge, einen Kilometer vom Dorf entfernt, am Fuß des Hügels ein kleines Zeltlager aufgeschlagen. Dort konnte ich jedoch auf keine Unterkunft rechnen, da ich kein Zelt bei mir führte. Wir wendeten uns deshalb nach dem Dorf, das in tiefer Nacht erreicht wurde. Es war still wie eine Gräberstadt, als wir vor dem einzigen einstöckigen Hause, der Wohnung des Scheich el Beled, anlangten. Nur draußen vor dem Dorfe bellten die wilden Hunde mit unermüdlichem Eifer an den Mond hinauf oder den Schakalen entgegen, die einen zweiten magischen Kreis um jede Wohnstätte des Deltas ziehen. Abu-Sa und Achmed begannen zu rufen, was sämtliche Hunde mit maßlosem Zorn erfüllte, während der Scheich und seine Familie im süßen Gefühl ungestörter Ruhe weiterschliefen. Nach einiger Zeit schickte ich Abu-Sa, verstärkt durch den Koch, der von seinem Kamel heruntergeklettert war, nach der Rückseite des Hauses, wo sie mit frischem Mut ihr Duett anstimmten, während ich und Achmed von der Vorderseite das unharmonische Bombardement der schweigenden Festung fortsetzten. Und wirklich, unsre gemeinsamen Anstrengungen blieben nicht erfolglos. Nach einer Viertelstunde, während deren sich die zwei Kamele und der Esel bereits im schwarzen Schatten des Hauses zur Nachtruhe niedergelegt hatten, öffnete sich ein kleiner Holzladen im oberen Stockwerk; ein Kopf, in schwarzblaue Schleier gehüllt, zeigte sich mit großer Vorsicht und wollte wissen, ob jemand gerufen habe. Achmed begann in gereiztem Tone auseinanderzusetzen, daß der Baschmahandi des Effendi (2) mit Roß und Reisigen vor der Tür stehe und eine Stube haben müsse, um seine müden Glieder auszustrecken. "Baschmahandi" war mein Ehren- und Amtstitel, heißt erster Ingenieur, Mechaniker, Müller und allgemeiner "Macher" und wirkte gewöhnlich genügend, um mir jede Haustür zu öffnen. Aber der erboste Mameluck war nicht halb zu Ende, als sich der kleine Laden lautlos wieder schloß und wir der regungslosen, kahlen, mondbeglänzten Hausfront aufs neue hilflos gegenüberstanden. "Weiterschreien!" kommandierte Achmed ohne Ärger. Es schien alles völlig in Ordnung zu sein. Wir schrien, und die Hunde, die jetzt schüchtern in das Dorf hereinkamen, um nachzusehen, wer zu nachtschlafender Zeit diesen ungebührlichen Lärm verursache, halfen uns mit ohrenbetäubendem Gebell.
Unsere Ausdauer fand ihren Lohn. Nach weniger als einer weiteren Viertelstunde öffnete sich die kleine enge Haustüre gespenstisch, wie von selbst, und nach weiteren fünf Minuten trat ein würdiger Greis in weißem Talar und grünem Turban heraus und hieß uns freundlich willkommen. Achmed erwiderte den Willkomm etwas brüsk, ich machte den "Tejmineh", den arabischen Gruß, bei dem man mit der rechten Hand zierlich nach dem Boden greift und sie dann auf die Brust und auf die Stirn legt, mit gebührendem Anstand. Dann wurde aufs neue parlamentiert. Der würdige Greis erklärte: Sein Haus sei mein Haus. Mein Eintritt möge gesegnet sein. Nur möchte ich mich noch ein wenig gedulden. Denn die Wohnung sei nur klein, und er sei arm, wie sich beides für einen Scheich el Beled gezieme. Man sei im Begriff, das schönste Zimmer für mich auszuräumen. Und schon kam auch ein kleiner pechschwarzer Diener aus der gespenstischen Tür heraus, brachte Kaffee und breitete eine Matte auf den Boden, auf der Platz zu nehmen mich der Scheich mit feierlich gütiger Handbewegung einlud.
Die Verhältnisse begannen sich ein wenig aufzuheitern. Wir tranken den etwas zweifelhaften, aber heißen Mokka und lebten fühlbar auf. Hierauf bestieg Achmed sein Pferd wieder, um nach Halim Paschas Lager zu reiten, und überließ mich und meine Leute unserem Schicksal. Der Scheich ergriff nach einiger Zeit meine Hand und führte mich mit der ihm eigenen Feierlichkeit nach meinem Schlafgemach. Dann entfernte auch er sich, unverständliche Worte murmelnd, als ob er mich und sich segnete. 'Selbst ist der Mann!' dachte ich mit etwas wehmütiger Betonung, indem ich mich in dem fensterlosen, völlig leeren Raum umsah, der für mich in der Tat gründlich ausgeräumt worden war. Doch Abu-Sa und der Koch hatten mein Bett rasch aufgeschlagen. Tee wollte ich keinen mehr machen lassen; ein Stück Brot von unnatürlicher Trockenheit, ein paar Scheiben der rasch ausgepackten Salami und zwei Sardinen beschlossen die ernstere Arbeit des Tages. Es war halb elf Uhr und mehr als Schlafenszeit. Halbangekleidet warf ich mich auf das willkommene Feldbett.
Die Nacht sei Schweigen - mit ihrer dumpfen, schwülen Luft in dem Lehmkasten, den mir das Verhängnis zur Wohnung angewiesen hatte, dem durchdringenden Geruch halbgebrannter Ziegel aus Stroh und Nilerde, dem unablässigen Hundegebell, den Moskitos und den Tausenden jener kleinen Freunde des Menschen, die mich freudehüpfend empfingen und unermüdlich festliche Tänze um mich her aufführten. So müde ich war, packte mich manchmal wilde körperliche Verzweiflung, so daß ich aufstand und im mondbeglänzten Hofe ein Viertelstündchen spazierenging, hilfesuchend zum herrlichen Sternenhimmel emporblickte, horchte, wie die Hunde weiterbellten, bald zu dritt, bald zu zehn, bald einzeln und dann wieder, wie auf ein Zeichen, zu fünfzig auf einmal, und zusah, wie der stille Mond langsam, allzu langsam über den Gipfel der Sykomore wegzog. Es war mir dabei fast ein Trost, wenn ich von Zeit zu Zeit über Abu-Sa oder den Koch stolperte, die, in Pferdedecken eingehüllt, wie glückliche, unförmige Massen am Boden lagen und ihren steinharten Schlaf schliefen. Zum Umsinken müde und mit dem festen Vorsatz, ihrem Beispiel zu folgen, auch wenn ich bei lebendigem Leibe gefressen werden sollte, kehrte ich dann für die nächste halbe Stunde nach meiner Marterkammer zurück.
Poeten, die ich kenne, heißen dies mit schwellendem Busen und tief atmend "orientalische Nächte" und dichten wohltönende Sonette zu ihrem Preis!
Doch auch diese Nacht hatte ihr Ende. Der Mond versank im Westen wie eine rotglühende Masse geschmolzenen Stahls, und wie eine hundertmal glühendere Feuerkugel stieg nach kurzer Zeit die Sonne im Osten auf und schoß ihr schimmerndes Licht über die Welt, die jetzt still geworden war, still und glücklich. Denn das entsetzliche Nachtgesindel war eingeschlafen, und der frische Morgenwind, der von der nahen See her wehte, trieb die schweren Dünste der Finsternis lachend vor sich her.

SACKRA

Hundert Schritte vor seinem Lager erblickte ich eine Stunde später Halim Pascha, der mir, nur von seinem ständigen Adjutanten Rames Bey begleitet, entgegengeritten kam: ein kleiner, wohlgebauter, sehniger Mann von dreißig bis fünfunddreißig Jahren, kaum brauner als ein Neapolitaner, mit regelmäßigen, nicht unschönen Zügen und durchdringenden schwarzen Augen, die in ruhigen Augenblicken schwermütig dreinsehen, aber auch ein gewinnendes Lächeln widerspiegeln konnten. Gewöhnlich drückten sie nervöse Energie aus, was den raschen, unerwarteten Bewegungen des Körpers wohl entsprach. Er ritt einen Rappen, eine Seltenheit bei arabischen Pferden, der seine Last mit sichtlichem Stolze trug, und saß nachlässig im Sattel, wie wenn er auf Pferden zu Hause wäre. Ich sah ihn zum erstenmal halbtürkisch gekleidet. Die Tracht stand ihm vortrefflich. Er verstand es, den weißen wallenden Mantel auch zu Pferde in einer Weise zu tragen, die jeden Künstler erfreut hätte, und die bunte Kufie, die er um den Tarbusch gewunden hatte, flatterte lustig im Morgenwind. Pferd und Reiter waren fast ein Bild aus dem vorigen Jahrhundert. Das war der Tscherkesse, der ihm folgte, völlig: ein großer prächtig gebauter Mann in goldgestickter, grüner, enganliegender Jacke, mit einer roten Schärpe um den Leib, aus der ein mit Edelstein besetzter Dolchhandgriff hervorsah. Grün waren auch seine weiten türkischen Beinkleider, die in prächtigen Falten über die Seiten seines weißen Pferdes herabfielen. Wie der Pascha hatte er eine bunte seidene Kufie über dem Kopf, die das Gesicht malerisch umrahmt und die ganze Gestalt eigentümlich belebt. Seine blonden Haare waren ganz kurz geschnitten. Die allzu regelmäßigen Gesichtszüge hätten etwas statuenartig Totes gehabt, wenn sie nicht zwei dunkelblaue Augen eigenartig belebt hätten. Es fehlten ihm nur die Waffen, um eine prächtige Gestalt der alten Zeit aus ihm zu machen, in der die Mamelucken Könige waren. Doch war alles, was er trug, das elfenbeinerne Zigarettenetui Halims, das während jedes Gesprächs alle drei Minuten in Tätigkeit trat.
"Schön, daß Sie hier sind, Herr Eyth", rief mir der Pascha entgegen, "und schade, daß Sie bei dem Scheich geschlafen haben. Ich hatte Ihnen ein Zelt neben dem meinen aufschlagen lassen. Achmed ist ein Dummkopf."
"Geschlafen habe ich bei dem Scheich eigentlich nicht. Hoheit. Doch ging die Nacht auch so vorüber", antwortete ich mit dem sauersüßen Lächeln, mit dem man sich kaum überstandener  Qualen erinnert.
"Aha!" lachte Halim. "Sie sind noch immer nicht an unsere arabischen Nächte gewöhnt. Warten Sie, bis Sie tausendundeine hinter sich haben. Dann können Sie etwas erzählen."
Er drehte sein Pferd.
"Gehen wir hinauf!" fuhr er fort. "Ich werde Ihnen den Platz zeigen. Wir können arbeiten, ehe es zu warm wird."
In wenigen Minuten waren wir am Fuß des Hügels und stiegen ab. Es war ein riesiger Schutthaufen aus Erde, Scherben, Ziegelsteinen und tausendjährigen Knochen, alles halb zusammengebacken zu einem schwarzbraunen Konglomerat, in dessen Ritzen und Vertiefungen sich der feine Sand der Wüste, den der Wind hergeweht hatte, in weißen Adern und Knollen ablagerte. An einzelnen Stellen lagen Stücke abgebrochener Säulenschäfte oder eine halbzertrümmerte ionische Schnecke, die davon erzählte, daß hier einmal Griechen gehaust hatten. Tiefer im Innern des mächtigen, sechzig Fuß hohen Trümmerhaufens hätte man wohl auch Spuren des alten Ägypten finden können, das an den Ufern des fischreichen Burlossees blühende Städte gebaut hatte. Nicht ohne einige Mühe in dem losen, zurückweichenden Schutt erreichten wir die Kante des kleinen Plateaus, aber der Aufstieg, wie Baedeker zu sagen pflegt, war lohnend. Selbst eine Erhöhung von zwanzig Metern kann in einem Landstrich wie dem zu unsern Füßen einen Berggipfel vorstellen.
So weit das Auge nach Süden, Osten und Westen reicht, bietet sich ihm eine grünblühende Fläche dar: grüner Klee, grüne Baumwollstauden in langen, regelmäßigen Linien, grüner, sprossender Weizen, grüner Mais und da und dort kleine Fleckchen grellgrünen Zuckerrohrs; Grün in allen Tönen, die Gelb, Braun, Rot und Blau in Grün legen können. Dazwischen Dutzende von Fellahdörfchen mit ihren dunklen Baumgruppen und den kleinen weißschimmernden Minaretts. Da und dort eine dünne Rauchsäule, die kerzengerade gen Himmel steigt, da und dort, solange die Entfernung für das Auge nicht zu groß ist, eine Gruppe von Büffeln, eine Herde von Rindern oder Ziegen, einzelne Esel, spärliche Kamele. Das Ganze ist zerschnitten von den dunkleren, nur da und dort aufblitzenden Linien der Kanäle oder von natürlichen Wasserläufen, unter denen die alte große Nilfurche der Sebenitischen Mündung kaum mehr zu erkennen ist. Der unruhige Strom hat im Laufe der Jahrtausende andere Wege nach dem Meer gefunden. Gegen Norden geht der Ton der Landschaft in Braun und Blau über. Das Schilf und die Sumpflachen des Burlossees mit dem tausendfachen Leben seiner Fische und Wasservögel liegen dort ungestörter, als sie es vor zweitausend Jahren gewesen sein mögen. Denn dieser ganze Landstrich ist vereinsamt und vergessen. Das Leben unsrer Zeit hat sich nach Westen gezogen und blüht in Alexandrien, oder wanderte nach Osten, wo damals die ersten Hütten der Ingenieure von Port Said und Suez aufgeschlagen wurden. Aber trotzdem war es ein königliches Bild unter dem wolkenlosen Himmelsdom, der sein feuriges Blau über das ganze Land spannte; und der reine Morgenwind, der den kräftigenden Seegeruch noch nicht ganz verloren hatte, füllte die Brust mit einem Gefühl unvernünftigen, wohligen Stolzes.
'Das gehört uns!' dachte ich, wahrscheinlich angesteckt von der Nähe Halims, der mit etwas mehr Berechtigung sicherlich dasselbe dachte. Derartige lautlose Gedankenübertragungen kann man in dieser stillen Welt zwischen zwei Wüsten öfter beobachten als in unsern lärmenden Kulturstädten des Westens.
'Und das soll nicht umsonst uns gehören!' dachte er weiter. Man sah es deutlich in seinen Augen, während ich halblaut nachbetete: "Nein, das soll nicht umsonst uns gehören!", wie wenn ein arabischer Ginni oder ein altgriechischer Dämon mir die Worte vorgesprochen und mich gezwungen hätte zu reden. Vielleicht war die schlaflose Nacht ein wenig dabei beteiligt.
Halim sah mich etwas verwundert an, schüttelte lächelnd den Kopf und sagte dann laut:
"Was sagen Sie dazu? Hier will ich mein Schlößchen haben. Dort drüben" - er wies nach Norden - "sind Tausende von Enten und Schnepfen, und Pelikane und Flamingos, und Millionen von Fischen. Ich werde die Fischerei Ihrer alten Freunde, der Griechen, wieder aufnehmen. Von hier sehe ich meine Baumwolle, so weit man sehen kann, und ein Dutzend Entkörnungsfabriken, und fünfzig von Ihren Dampfpflügen statt der drei, die jetzt dort unten puffen! - Für ein gutes Fundament soll sofort gesorgt werden. Das Schloß herbeizuschaffen und Wasser und einen kleinen Garten, das ist alles Ihre Sache, Herr Eyth! Wissen Sie was? Wir wollen das Ganze ohne Verzug ausstecken, daß Leben in die Geschichte kommt. Morgen soll der Scheich von Kassr Leute schicken, die die Fundamentgräben ausheben können. - Hast du ein Bandmaß hier, Rames?"
Rames Bey griff ohne das geringste Erstaunen über diese, wie mir schien, unerwartete Frage in seine grünen Hosen und brachte das verlangte Bandmaß zum Vorschein.
"Aber Hoheit, wandte ich ein, "wir brauchen hierzu die Zeichnungen, zum mindesten den Grundriß des Gebäudes. Ohne die richtigen Maße können wir nichts ausstecken."
"Was!" rief er mit einem scharfen Zucken in dem dunkler werdenden Gesicht. "Sie haben den Grundriß nicht hier?" Er war sichtlich unangenehm berührt.
"Aber ich konnte unmöglich wissen, Hoheit, antwortete ich, ebenfalls nicht sehr vergnügt, "als ich wegen der großen Pumpe nach Terranis ging, daß ich die Zeichnung des Jagdschlosses, die seit Wochen in Thalia liegt, hier in Kassr-Schech brauchen werde!"
Er hörte mich kaum an. "Rames, das Jagdschloß", sagte er scharf zu seinem Tscherkessen.
Ich wußte bereits, weshalb Rames Bey trotz seiner hohen und vielfach begünstigten Stellung und seiner halbvollendeten Pariser Erziehung mit merkwürdiger Zähigkeit an der türkischen Tracht fest hielt, die sonst am Hofe der vizeköniglichen Prinzen fast verschwunden war. Eine weite türkische Hose kann Taschen bergen, von denen ein europäisches Beinkleid keine Ahnung hat. Und aus dieser Tasche heraus konnte er eine Welt von Bedürfnissen befriedigen. Sie hatten ihn längst für den unruhigen Geist Halims unentbehrlich gemacht. Aber diesmal versagten die Hosen.
Doch Halim hatte seine Aufwallung bereits unterdrückt und die Ruhe des Orientalen wiedergewonnen. Es war hübsch, zu beobachten, und täglich bot sich hierzu Gelegenheit, wie die Erziehung des vornehmen Türken die Natur des Arabers beherrschte.
"Was machen wir jetzt?" fragte er mich freundlich, aber dringend.
"Man sollte nie ohne den Grundriß eines Jagdschlosses auf Reisen gehen, Herr Eyth! Wo ist er?"
"In Schubra, Hoheit?"
"Ich werde Achmed el Soyer hinschicken, ihn zu holen."
"Er liegt in einem Schrank in meiner Wohnung unter hundert andern Papieren und Zeichnungen. Achmed wird ihn nie finden."
"Ich werde den Schrank holen lassen."
Ich hätte fast gelacht, was ziemlich gefährlich gewesen wäre, denn es war Halim Pascha tiefer Ernst.
"Bis Tanta", sagte ich, mich fassend, "ginge dies nicht unschwer mit der Bahn. Aber von dort hätte es seine Schwierigkeiten. Der Schrank ist zu groß für ein Kamel, und das Wasser im Kanal von Kassr-Schech steht schon zu nieder für Boote."
"Dann nimmt man zwei Kamele und trägt ihn an Stangen", meinte Halim entschlossen. "Man muß sich zu helfen lernen, Herr Eyth. Ich hasse nur ein Wort, aber das auch gründlich, das Wort 'impossible'. Sie haben mir das noch nie gesagt und sollen es mir nie sagen. I Aber das ist richtig: es geht zu langsam mit den Kamelen."
"Ich könnte die Zeichnung ja selbst holen!" schlug ich vor.
"Bravo, Herr Eyth!" rief der Pascha. "Rames, den Eisenbahnfahrplan."
Rames zauderte diesmal nicht einen Augenblick. Über seinen schönen Zügen spielte ein Lächeln beruhigenden Selbstvertrauens. Dann bückte er sich, versank in seiner linken Hosentasche und brachte aus der Gegend der Knie den verlangten Fahrplan hervor, den er selbstgefällig ausbreitete. Halim nahm ihm das Blatt rasch aus der Hand und sagte, mit einem Wink auf die Taschen des Adjutanten, zu mir:
"Sehen Sie!"
Ich verstand den leisen Tadel, der in diesen zwei Worten lag; doch wie konnte ich dem Ideal, das sich Halim von einem Ingenieur gemacht hatte, näherkommen, ohne ebenfalls türkische Hosen zu tragen, und soweit habe ich es zum Glück oder leider - wer will es entscheiden? - nie gebracht. Unbedingt mußte ich allerdings im stillen zugeben: auf den Trümmern einer alten Griechenstadt, an der verlassensten Grenze des Nildeltas, ohne jede Vorbereitung auf Verlangen den neuesten Eisenbahnfahrplan hervorzuziehen, war eine großartige Leistung. Halim überlegte: "Wenn Sie in einer Stunde hier weggehen, so können Sie um drei Uhr fränkischer Zeit in Mahallet el Kebir sein, unsrer nächsten Station an der Zweiglinie nach Samanud. Dann können Sie mit dem Abendzug nach Kairo kommen und dort übernachten oder noch nach Schubra reiten. Gut! Am andern Morgen holen Sie die Zeichnung und gehen mit dem Neunuhrzug bis Tanta zurück. Dorthin schicke ich Ihnen ein gutes Pferd. So sind Sie abends bequem wieder hier, und wir können übermorgen früh zu bauen anfangen. Geht es so?"
"Inschallah!" (3) rief ich. Die Luft des Orients wirkte in diesem einsamen Landeswinkel mächtiger als in Kairo. Halim lächelte über meine sprachlichen und, wie es fast klang, religiösen Fortschritte.
"Ma scha allah!" (4) bekräftigte er. Sie haben Zeit genug. Der Scheich von Kassr soll Ihnen ein gutes Pferd geben. - Rames, sorge dafür! Achmed kann El Dogan (den Falken) heute noch nach Tanta bringen. Dort wird er Sie am Bahnhof erwarten."
"El Dogan?" rief Rames erstaunt, nahm jedoch sogleich wieder die Miene einer altgriechischen Marmorbüste an.
"EI Dogan!" sagte Halim bestimmt. "Ich möchte Ihnen ein Vergnügen machen, Herr Eyth. Sie sollen wenigstens einmal in Ihrem Leben arabisch reiten, wie Sie noch nie geritten sind. Gehen wir frühstücken."
Er wandte sich nach dem Rand des Hügels und begann hinabzuklettern. Rames und ich folgten. Und zwei-, dreimal hörte ich den Tscherkessen, als wir herabstiegen, unruhig zwischen die Zähne murmeln: "El Dogan! EI Dogan!", wie wenn er noch nicht begriffen hätte, um was es sich handle. Ich war viel weiter davon entfernt, es zu begreifen, aber völlig beruhigt.

EL DOGAN

Eine Stunde später, als der Fahrplan es wollte, kam ich gegen Mittag des folgenden Tages, von Kairo zurückkehrend, in Tanta an. Kein ägyptischer Bahnzug pflegte zu jener Zeit weniger als eine Stunde Verspätung auf drei Fahrstunden zu rechnen. Vor dem kleinen verstaubten Bahnhof mit seinen zerbrochenen Fensterscheiben und dem halbzerfallenen Mauerwerk ging ein alter Mann nur mit einem Hemd uniformiert, mit einer schweren messingnen Glocke, als Zeichen seines Amtes, auf und ab. Auf dem schattenlosen Platz hinter dem Gebäude lagen in glühender Mittagsonne Hunderte von Baumwollballen, die hier aus dem Innern des Deltas zusammenströmten und wochenlang auf Weiterbeförderung warteten. Bald aber fehlten Wagen, bald Lokomotiven, bald beides, so daß sich das kostbare Landeserzeugnis vor dem wichtigsten Bahnhof des Landes bergehoch auftürmte. Im Schatten eines dieser Berge entdeckte ich eine größere Gruppe Fellachen, Schreiber und Kaufleute, die bewundernd zwei Pferde umstanden. Achmed war zur Stelle und hielt EI Dogan am Zügel, das zweite Pferd hatte er einem Sais (5) anvertraut, den er mitgebracht hatte.
Die Umstehenden waren sichtlich in einiger Erregung und begrüßten mich mit mehr als üblicher Höflichkeit. Dann fuhren sie fort, El Dogan zu loben und den Mann glücklich zu preisen, dem ein solches Tier zur Verfügung stand. Achmed war sichtlich in der übelsten Laune und stand mürrisch zwischen den Leuten und seinem Pferde, indem er jeden Versuch der Annäherung eines der kühneren Eingeborenen mit einem geschickten, aber boshaften Fußtritt oder dem bedrohlichen Schwingen einer halbzerbrochenen Reitpeitsche beantwortete. Sooft einer der Umstehenden den kleinen Kopf, die feinen Fesseln, die Augen oder Ohren El Dogans pries, murmelte er ein "Ibn el Kelb!" und ein kurzes Stoßgebet zwischen den Zähnen: "O ihr Söhne von Hunden! Segnet den Propheten, anstatt mein Pferd mit eurem ungewaschenen Lob zu verhexen! Allah, der Allgütige, schütze dich, o Dogan! Hätte ich gesegnetes Alaun hier"- Alaun ist nämlich ein bewährtes Mittel gegen die üblen Folgen öffentlicher Lobpreisungen -, "so würde ich mir aus dem ganzen Dorfgesindel von Tanta so viel machen!" Er spuckte kräftig aus; aber all dies half nichts. Ein alter Kawasse erzählte, wie er El Dogan schon vor zehn Jahren als das schönste Füllen in den Ställen Abbas Paschas, Gott sei ihm gnädig, zu Benha gekannt habe. Ein Katib (Schreiber) der Baumwollhändler, die auf den Ballen herumlungerten, berichtete, daß ihn der vorige Vizekönig Said Pascha dem Sultan habe schenken wollen, daß aber Halim, sein jetziger Herr, sich nicht um dreihundert Beutel (6) von ihm getrennt hätte; und ein verschmitzt aussehender, spärlich in Lumpen gehüllter Derwisch versicherte den Umstehenden, daß Allah nur ein Pferd geschaffen habe, welches El Dogan gleichkomme, das sei seine Schwester EI Hamam, und auch sie habe der Günstling Gottes, Halim Pascha, in seinem Stall zu Schubra. Achmed, bei dem ich noch nie einen Überschuß von Frömmigkeit bemerkt hatte, betete heftiger und fluchte abwechslungsweise. Denn er war fest überzeugt, daß dieses öffentliche Bewundern und Loben lebensgefährlich war und der böse Blick irgendeines Neidischen einen der boshaften Afrit  (7) herbeilocken konnte, die uns auf Schritt und Tritt auflauern. Er war deshalb sichtlich erleichtert, als ich rasch Anstalten machte, aufzusteigen.
Es gehört nicht zu meinem Beruf, etwas von Pferden zu verstehen, aber so viel konnte fast ein Blinder sehen, daß ich kein gewöhnliches Tier unter mir hatte. El Dogan, wie mir Achmed im Laufe des Tags ehrfurchtsvoll flüsternd zehnmal erklärte, war in der Tat ein Araber reinsten Blutes, aus dem Nedjed, vom erhabenen Stamme der Koschlanis. Das mußte, meinte er, jeder fühlen. Ein solch zartes, glänzendes Haar, einen solch feinen Kopf mit einem Mäulchen wie ein Mädchen hatten nur die Koschlanis; auch solch kleine lebhafte Ohren, solch große, kluge, feuchte Augen, aus denen eine Menschenseele heraussah, solch sehnige Beine, die zugleich zierlich waren wie die eines Hirsches! Ibrahim Pascha, der die Stute El Habibi, seine Mutter, nach Ägypten gebracht habe, sei gezwungen gewesen, ihren früheren Herrn zu vergiften, um sie zu bekommen. Aber der tapfere Pascha hoffte auf die Vergebung Gottes für sein Tun, denn die Versuchung war zu groß gewesen.
Das Wundertier sah mich lange prüfend an, schüttelte den Kopf und wandte sich mit sanft ablehnender Gebärde an seinen Begleiter, das Mameluckenpferd, das laut wieherte und stampfte, als wolle es große Heldentaten verrichten. El Dogan blieb still und sichtlich gedrückt. Hatte ich ihm wirklich so schlecht gefallen? Doch ließ er mich ruhig aufsteigen, während Achmed nicht ohne Schwierigkeit sein übermütiges, tänzelndes Tier erkletterte, das der Sais kaum zu halten vermochte. Nach einem vergeblichen Versuch des scherzliebenden Geschöpfs, seinen Reiter über die nächsten Baumwollballen zu schießen, die uns den Weg verlegten, kamen wir in Bewegung. Der Sais zerteilte die gaffende Menge mit einem Schwung seines Stocks. Wir ritten davon.
Bald lag Tanta mit seinen engen, dumpfigen Gäßchen und der stattlichen Moschee des größten Heiligen Ägyptens, des Seiyid Achmed el Bedaui, hinter uns. Nach einer Viertelstunde stießen wir auf den Kanal, der von hier in fast geradliniger Richtung nach dem Bezirk von Kassr-Schech führt, dem er während acht Monaten des Jahres das erforderliche Nilwasser zuführt. Unser Weg war deshalb nicht zu verfehlen. Man hatte nur auf dem Damm zu bleiben, der das Ufer des Kanals und eine erhöhte, leidlich feste Straße bildet, von der aus nach rechts und links ein schönes Stück fruchtbaren Deltas zu übersehen war. Hier außen, in der freien offenen Gegend, war die Hitze trotz der schattenlosen Umgebung erträglich. Ein sanfter Luftzug aus Norden, dem wir entgegenritten, belebte Herz und Sinn in fühlbarer Weise. Es war trotz seiner Einförmigkeit ein herrliches Land voll stillen grünenden Lebens, das vor uns lag.
Durch die Stadt waren wir im Schritt geritten. Auf dem Damm schlugen die Pferde von selbst einen leichten Trab an. Einen Trab wie den El Dogans hatte ich noch nie empfunden. Man spürte kaum, daß das Pferd sich bewegte. Und auch innerlich kamen wir uns näher. Er hatte sich mehrmals nach mir umgesehen. Ich klopfte ihm liebevoll den Hals, sooft er dies tat. Dies schien ihm zu gefallen. Unser gegenseitiges Vertrauen wuchs, und jedesmal nach einer derartigen kleinen Begrüßung trabte das Pferd ein wenig schneller. Achmed und der Sais blieben schon etwas zurück. Aber ich brauchte ja ihre Führung nicht. Der Kanal führte mich richtig genug.
Und dann, nach etwa einer Stunde und nach einem besonders zärtlichen Austausch unsrer jungen Freundschaftsempfindungen, begann El Dogan ganz von selbst zu galoppieren. Das war nun wirklich unbeschreiblich angenehm: das reine Wiegen. Man fühlte dabei den weichen, elastischen Körper des Tieres in seiner Kraft und Sicherheit unter sich, die leichte Bewegung der Muskeln, die spielende Anstrengung eines fröhlichen Willens. Es war klar, das edle Tier wollte sich zeigen und wollte mir eine Freude machen. Und auch ich wollte ihm eine Freude machen, legte die Zügel auf seinen Hals und ließ es laufen.
Hinter mir, in weiter Ferne, hörte ich Achmed ein paarmal rufen. 'Ruf du nur!' dachte ich, 'und sieh, wie du mit deinem Streitroß nachkommst. Ich und mein Falke wollen jetzt einmal lustig sein.' Als ich am nächsten Fellahdörfchen vorübergekommen war, wo Weiber und Ziegen kreischend und meckernd aus meinem Weg flogen und uns dann mit einem: "Ya Salaam! War das ein Afrit?" nachsahen, verlor ich meinen Führer völlig aus dem Auge.
Es ging immer rascher. Der laue Nordwind blies uns entgegen, daß El Dogans Schweif und die weiße Kufie, die ich um meinen Korkhelm trug, fast waagerecht hinausflatterten. Manchmal schnaubte mein vierbeiniger Freund, wie wenn er die herrliche Luft in vollen Zügen einsaugen wollte; manchmal schnaubte ich in dem gleichen Gefühl unbeschränkten Lebensgenusses, den das herrliche Tier mit mir teilte. Eine solch urweltliche Zentaurenempfindung hatte ich zuvor im Leben nie kennengelernt. Natürlich! Ich hatte ja auch nie zuvor, ehe ich nach Ägypten kam, einen Sohn Koschlanis zum Freund gehabt.
Von Zeit zu Zeit unterbrach den Damm, auf dem wir hinflogen, ein Quergraben, der im Herbst und Winter das Hochwasser des Kanals nach den benachbarten Feldern leitet, während er in der trockenen Jahreszeit nach Fellahart ruhig offen liegenbleibt. Als ich ein solches Hindernis fünfzig Meter vor uns zum erstenmal bemerkte, war ich ernstlich besorgt, was. in den nächsten Minuten aus uns werden würde. Aber EI Dogan spitzte nur die Ohren ein wenig. Wie er mit seinen vier Beinen zurechtkam, weiß ich nicht. Es muß doch immerhin schwieriger sein, vier Beine über einen Graben zu bringen als zwei; das leuchtet selbst einem völlig Pferdeunverständigen ein. Aber er machte sich nicht das geringste daraus und flog über die drei Fuß breite Rinne weg, als ob sie nicht existierte. Ich fühlte kaum ein etwas heftigeres Zucken seines Rückens. Später war es mir wie ihm völlig gleichgültig, ob der kommende Graben zwei oder acht Fuß breit war. Ich wußte, El Dogan wußte, was zu tun war, und berechnete schon in der Ferne, wie er die Hufe zum Sprung aufzusetzen habe, ohne den regelmäßigen Galopp zu unterbrechen.
Dann kamen wieder Viertelstunden, in denen ich halb träumend die Landschaft betrachtete, an der wir vorüberflogen. Hier das einsame Grab eines Weli, eines Dorfheiligen, dort ein nicht abgeerntetes Baumwollfeld, weiß, wie wenn es ein Schneegestöber geschmückt hätte, hier eine Gruppe jammernder Fellahs um einen Büffel, der stöhnend am Boden lag - es war die Zeit der großen Rinderpest im Jahre 1864 -, dort eine Fellahfrau und ein Esel vor einem altarabischen Pflug, mit dem der Mann den harten Boden aufzukratzen suchte. Es fehlte nicht an Abwechslung trotz aller Einförmigkeit.
Das Galoppieren hatte über zwei Stunden gedauert, und mein guter Dogan schien noch nicht genug zu haben. In unermüdlichem, wiegendem Takte bewegte sich der geschmeidige Rücken unter mir. Wir konnten nicht mehr weit von Kassr-Schech sein; ein großes Dorf lag mitten auf meinem Weg. Vor demselben bot eine Sakia, ein Brunnenschacht mit einem Schöpfrade, neben einer mächtigen Sykomore ein schattiges Ruheplätzchen und wohl auch Trinkwasser für uns beide. Hier wollte ich halten, um auf Achmed zu warten. Ich nahm die Zügel auf. El Dogan stand, machte einige ungeschickte Schritte vorwärts und stand wieder.
Ich sprang ab, ging nach dem stillstehenden Brunnenrad, um zu sehen, ob alles vertrocknet sei. Das war nicht der Fall. Es fand sich in einem Trog neben dem Schachte sogar eine ziemliche Menge klares, wenn auch lauwarmes Wasser. So wandte ich mich, um El Dogan zu holen, den ich mitten auf dem Weg hatte stehenlassen.
Da erwartete mich ein kleiner Schrecken. Das Pferd stand mit fast auf die Erde gesenktem Kopf stockstill, die Vorderbeine in wunderlich unnatürlicher Stellung auseinandergespreizt, die Hinterbeine nach vorn gesetzt, wie wenn es sich setzen wollte. Aber es rührte sich nicht. Ich sprang auf das Tier zu, packte die Zügel und versuchte seinen Kopf aufzurichten. Es rührte sich nicht! Seine Augen waren geschlossen. Es öffnete sie, als ich es zärtlich auf den Hals klopfte, sah mich vorwurfsvoll an und schloß sie wieder. 'Ich muß ihn um jeden Preis an den Trog bringen; er braucht Wasser', dachte ich und zog nach Kräften am Zügel. Aber es half nichts. Dogan stand still, wie wenn er aus Holz geschnitzt wäre. Wenn er stürbe?! Er sah aus, als ob er nicht weit dazu hätte.
Ich eilte nach dem Brunnen, schöpfte meinen englischen Korkhelm voll Wasser und hielt ihm den Trunk unter die Nase. Er pustete ein wenig, öffnete die Augen nochmals, schüttelte den Kopf und trank nicht.
Wieder versuchte ich, völlig ratlos, am Zügel zu ziehen. Es schien mir, wenn ich nur eine Bewegung in das rätselhafte Wesen bringen könnte, wäre schon etwas gewonnen. Aber alles war vergebens. Es war, als ob seine Hufe auf dem Boden festgenagelt wären.
Sollte ich in das Dorf gehen und Hilfe holen? Das einzige Gäßchen, soweit ich es sehen konnte, war leer, die Hütten ausgestorben. Alles war auf dem Felde. Nur ein Trüpplein nackter Kinder stand in vorsichtiger Entfernung, jeden Augenblick bereit, die Flucht zu ergreifen. Und dann hätte mich kein Mensch verstanden.
Es blieb mir nichts übrig, als zu warten. Ich setzte mich neben das Pferd auf den Boden. Achmed und der Sais mußten nach einiger Zeit nachkommen. Eine bange Stunde schlich dahin. Der einzige Trost, den sie brachte, war, daß der Schatten der Sykomore uns näher gekrochen kam und endlich auch El Dogan bedeckte. Aber keine Worte, kein Streicheln, kein sanftes, aufmunterndes Klatschen machte den geringsten Eindruck. Er rührte sich nicht. Ich fing an, froh zu sein, daß er wenigstens nicht umgefallen war.
Endlich erschienen meine zwei Gefährten am Horizont, gemächlich, im Schritt den Damm entlang kommend. Mein Telegraphieren mit beiden Armen setzte sie in etwas raschere Bewegung. In diesem Augenblick gab auch El Dogan wieder ein Lebenszeichen. Er setzte den linken Fuß vor den rechten. Nun galoppierte der Mameluck. Er schien endlich bemerkt zu haben, daß nicht alles in Ordnung war. Ehe seine Stute zehn Schritte von uns zum Stillstehen kam, war er aus dem Sattel und stürzte auf mein Pferd zu.
"Ya salaam! Ya nabbi! O Friede! O Prophet! Was hast du gemacht, o Baschmahandi?" rief er in ungeheuchelter Bestürzung. Dann fiel er vor dem Tier auf die Knie, nahm seinen Kopf in die Arme und blies ihm in die Nasenlöcher, sprang wieder auf, zog es am Schwanz, kam wieder nach vorn und umarmte seinen Hals mit stürmischer Zärtlichkeit. Auch der Sais war jetzt angekommen. Und in der Tat regte sich nun El Dogan, langsam und vorsichtig, noch immer mit tiefhängendem Kopf einen Fuß vor den andern setzend. Mit vereinten Kräften zogen wir ihn nach der Sakia und legten seinen Kopf auf den Rand des Wassertrogs, der unter der Sykomore stand.
"0 Baschmahandi, was hast du gemacht?" jammerte Achmed wieder und wieder. "Rames Bey wird mich totschlagen, wenn wir heimkommen - O Dogan, o Dogan! Möge uns Gott barmherzig sein! Komm zu dir, o Dogan! - Zieh ihn wieder am Schwanz, Sais! Möge dir Gott deine Sünden verzeihen, o Baschmahandi! - Zieh, Sais, zieh! Das belebt!"
Der Sais zog mit aller Macht. Müde hob El Dogan den Kopf, um zu sehen, was man dort hinten eigentlich mit ihm vorhabe. Dann legte er ihn wieder auf den Trog, und nach einer weiteren Minute fing er an zu saufen.
"Allah sei gepriesen, er trinkt!" rief Achmed. "Trinke, mein Dogan, der Allgütige will nicht, daß du stirbst. Saufe ja, Dogan! Saufe, und Gott wird dir's segnen."
Achmed schien von einer großen Angst befreit zu sein. Auch mir fiel eine Zentnerlast vom Herzen. Die böse Geschichte schien sich zum Besseren wenden zu wollen.
"Ich wußte das!" fuhr Achmed aufgeregt fort, während jetzt von Zeit zu Zeit ein heftiges Zittern den ganzen Körper des Pferdes schüttelte. "Ich sah es in Tanta, daß uns ein Unglück zustoßen würde. Jedermann konnte bemerken, daß der alte Derwisch den bösen Blick auf uns gerichtet hatte. Ich glaubte, es gelte mir, denn ich hatte ihn geschimpft. Gott verdamme den heuchlerischen Sohn eines Hundes! Es traf meinen Dogan. Aber Gott ist groß; nun weiß ich, was zu tun ist."
Er riß seine Weste auf und zog eine seidene Schnur über, den Kopf, von der eine kleine Kapsel hing. Es war sichtlich ein Amulett. In der Kapsel lag ein Zettel, den er mir später zeigte, auf dem die neunundzwanzig Namen Gottes säuberlich geschrieben waren. Er schlang die Schnur dem Pferd um den Hals, das jetzt mächtig zu trinken anhub.
"Siehst du", sagte er, halb beruhigt. "Jetzt mögen die Geister der Luft tun, was sie wollen, und" - murmelte er halblaut in das Ohr des Pferdes - "die fränkischen Baschmahandis auch. El Dogan wird genesen. Allah, welche Toren hast du in deine Welt gesetzt! Doch was klage ich über dich und mich? Tut nicht der Allgütige mit uns, was er will? Er segne unsern Herrn Mohammed, den Propheten, den Ungelehrten."
Ich schwieg ziemlich kleinlaut.
"Ein Salzkorn in das Auge dessen, der den Propheten nicht segnet!" brummte der Sais, der als unverfälschter Fellah die höfliche Toleranz Kairos noch nicht kannte.
"Schimpfe den fremden Herrn nicht, o Sais!" ermahnte Achmed den Mann. "Er ist unwissend. Kann ein Ungläubiger den Afrit bannen, der uns verfolgte? Nur bei Allah ist Rettung für seine Gläubigen. - Er regt sich!"
Dies galt dem Pferd, das den Kopf aus dem Trog zog, sich schüttelte und um sich sah, wie wenn es aus einem schweren Traum erwachte. Achmed ergriff die Zügel und versuchte wieder, es zum Gehen zu bringen. Langsam und vorsichtig, Schritt für Schritt kamen sie um die Sykomore herum. Der Mameluck sprach fortwährend mit dem betäubten Tier und ermahnte es, sein Vertrauen auf Gott zu setzen, den Allerbarmer.
"Wir müssen El Dogan heute hier lassen", sagte er endlich. "Es ist besser, Rames Bey oder der Pascha schlägt uns tot, als daß El Dogan auf dem Wege stirbt; und er ist noch sehr schwach. Du, o Sais, gehst in das Dorf, holst Weizenbrot und Kamelsmilch und Stroh für das Pferd und einen Esel oder ein andres Pferd für den Baschmahandi. Ich reite nach Kassr-Schech und schicke Mohammed ben Abu Dahal, den Mamelucken, den Pferdedoktor. Der soll bei ihm schlafen. Morgen kommen wir dann alle vier nach Kassr-Schech, Inschallah!"
Der Sais ging. Achmed und ich setzten uns unter den Baum; El Dogan, noch immer zitternd wie in heftigem Fieber, neben uns. Der Mameluck sprach meistens mit dem Pferd, doch manchmal würdigte er auch mich einer belehrenden Bemerkung, die ich allerdings nur halb begriff, denn ich war noch nicht weit genug in meinem Arabisch gediehen, um sein Französisch völlig zu verstehen.
"Du hast noch nie ein arabisches Pferd aus dem Nedjed geritten", begann er nach einer längeren Pause, "eins vom Stamme der Koschlani?"
"Nein, niemals in meinem Leben", versicherte ich. "Wo sollte ich? Ich habe überhaupt noch blutwenige Pferde geritten. Wir reiten in unserm Lande meistens Schulbänke, solange wir jung sind. Später haben wir keine Zeit, selbst hierzu."
Achmed sah mich fragend und dann mitleidig an.
"Heute, o Baschmahandi, fuhr er dann nicht ohne Feierlichkeit fort, "heute hat dich eines der besten Tiere getragen, die es in der Welt gibt. Nur seine Schwester, El Hamam, die niemand reitet als Effendini selbst, und die sein Vater Mohammed Ali, Gott sei ihm gnädig, mit eigener Hand gefüttert hat, kommt ihm gleich. Ja, eines der besten hast du geritten, o Bruder, und hast es fast zu Tode geritten."
"Aber wie ist das zu verstehen?" rief ich. "Es lief wie der Wind bis zu diesem Brunnen."
Das glaube ich", sagte Achmed stolz und zornig. "Und hättest du hier die Zügel nicht gezogen und es angehalten, so hättest du weiterreiten können, bis es tot umgefallen wäre. Das ist die Art der Koschlanis. Es wußte nicht, weshalb es laufen sollte. Aber es hätte deiner Torheit gefolgt bis zum Sterben."
"Aber wie konnte ich das ahnen", rief ich nochmals, wirklich entsetzt.
"So hat Allah seine Seele geschaffen. Das weiß jeder Junge bei uns. Lehrt man euch nichts, wenn ihr auf euern Schulbänken reitet? Was sind Schulbänke?"
Ich habe Achmed im Verdacht, daß er sich unter Schulbänken eine untergeordnete Art von Mauleseln vorstellte. Jedenfalls wurde für uns beide das Gespräch zu kompliziert. Auch ging es wirklich nicht gut an, mich länger von dem kleinen Mamelucken schulmeistern zu lassen. Ich schwieg deshalb, und er wendete sich an El Dogan, dem er von dem Weizenbrot und der Milch erzählte, die für ihn unterwegs seien.
Nach einer Viertelstunde kam der Sais zurück, einen Esel vor sich hertreibend, gefolgt von einem halben Dutzend schreiender und gestikulierender Fellachen, die jedoch stiller wurden, als sie mich und Achmed unter dem Baum liegen sahen. Ein Pferd hatte er in dem Dorfe nicht gefunden. Dagegen war es ihm gelungen, den Esel zu requirieren, auf dessen zerfetztem Sattel er eine Milchschüssel und einen Sack voll Brot kunstvoll im Gleichgewicht hielt. Achmed erklärte den Leuten, um was es sich handle: daß dies alles für den Pascha gebraucht werde und daß es besser sei, sich ohne unziemlichen Lärm in den Willen Gottes zu fügen. Sie waren fast beruhigt, als ich ihnen deutlich zu machen suchte, daß der Esel morgen wieder zurückkommen werde, und schienen glücklich, als diese Erklärung durch die Verteilung von sechs Piaster unter die sechs Mann bekräftigt wurde. El Dogan trank seine Milch, und die Fellachen, wie die Kinder, die sie sind, waren bald ausschließlich mit der Bewunderung des Arabers beschäftigt und versuchten selbst, ihn mit ihrem Weizenbrot zu füttern. Dafür schlug Achmed dem kecksten mit der Reitpeitsche über die Hände, daß er das Brot fallen ließ und heulend im Kreise herumtanzte, worüber die andern in ein fröhliches Gelächter ausbrachen.
Der Mameluck war höflich genug, mir sein Pferd anzubieten. Aber ich sah ihm an, wie es in ihm brannte, seinen Freund Mohammed ben Abu Dahal, den Pferdedoktor, herbeizuholen, und auch ich war kaum weniger bereit, alles zu tun, was getan werden konnte, um die Folgen meiner mangelhaften Kenntnis der arabischen Pferdeseele aus der Welt zu schaffen. Ich bestand deshalb darauf, daß Achmed sein Pferd behalten solle, und bestieg den Esel. Der Sais blieb bei EI Dogan zurück. Achmed nahm von seinem vierfüßigen Freund besorgten Abschied und verschwand in der Staubwolke, die die Hufe seines jetzt wie toll galoppierenden Pferdes entlang dem Kanal aufwarfen. Ich trabte ihm langsam und bedächtig nach, nachdem der Esel mit Hilfe der sechs Fellachen seine Aufgabe begriffen hatte. Es war übrigens ein Glück, daß der eine der Bauern, der würdige Scheich des Dorfes, welcher nicht ohne Besorgnis über das Schicksal seines Tierchens geblieben war, mich in der Eigenschaft eines Eselsjungen begleitete. Weniger meinen unablässigen Ermahnungen als seinem Stock hatte ich es zu danken, daß sich das grämliche Langohr wenigstens zu einem bescheidenen Träblein verstand.
So stieg endlich am glühenden Abendhimmel der Trümmerhaufen der alten Griechenstadt vor uns auf. Der Friede der abendlichen Deltalandschaft, welche die untergehende Sonne mit ihrer schimmernden Glut überflutete, legte sich versöhnend auf die Erlebnisse des Tages. Auf halbem Wege wirbelte eine Staubwolke an uns vorüber, der wir hastig über die Kanalböschung hinab auswichen. Es waren Achmed und der Tierarzt, die in stürmischer Eile, von Kassr-Schech kommend, nach Maraska zurückritten.
Ähnlich war ich heute mittag zur Bewunderung der ganzen Stadt von Tanta ausgezogen. Wie ganz anders zog ich jetzt, eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang, durch Kassr-Schech! Es war schon tiefe Dämmerung in den Gäßchen, und ich war der Sonne ordentlich dankbar. Doch ich hatte wenigstens das Jagdschlößchen in der Tasche. Das war immerhin ein Trost.

DIE NACHT DES VERHÄNGNISSES

Im Schatten des Scherbenhügels von Sackra war es schon tiefe Nacht, als wir uns den Zelten näherten, unter denen ich Halim Pascha zu finden hoffte. Gespenstisch weiß hoben sie sich von dem Schwarzblau der Bergwand ab, die ihre unförmlichen, eckigen Massen in phantastischen Linien an dem erlöschenden Abendhimmel auftürmte. Ich kann kaum behaupten, daß mir behaglich zumute war. Selbst der Esel schien meine Gefühle zu teilen und machte, in der Dunkelheit stolpernd, zum letztenmal den Versuch, stehenzubleiben, ehe es Zeit war. Aber sein Herr, der Scheich von Maraska, war andrer Ansicht. Der "Sohn eines Fellahs", wie er sein Tier im Zorn häufig schimpfte, sollte wenigstens im letzten Augenblick und vor dem Pascha anständig auftreten und erhielt deshalb einen krachenden Hieb, der mich fast von dem zerrissenen Strohsäckchen geschleudert hätte, das den Sattel bedeutete. Die belebende Kraft des Keulenschlags anerkennend, bewegte sich das Langohr denn auch nach der Sitte einseitig geprügelter Esel mit großer Gewandtheit wie ein Krebs fast in der Richtung der vollen Breitseite vorwärts. Wie dankte ich's der grundgütigen Nacht, daß sie so schwarz war!
Trotzdem war die nächste Umgebung des Lagers jetzt deutlich zu erkennen. Vor einem der Nebenzelte brannte ein großes offenes Feuer und warf sein unruhiges Licht in den Kreis dunkler Formen und bewegter Gestalten, in dessen Mitte ich das Jagdzelt des Paschas an seinen Doppelmasten und zwei vergoldeten Halbmonden erkannte, die jene statt der üblichen Speerspitzen trugen. Im Halbkreis hinter dieser fürstlichen Behausung waren fünf bis sechs weitere Zelte aufgeschlagen. Eines, beträchtlich länger, aber niederer als das des Paschas, war für die Küche und die dienstleistenden Mamelucken bestimmt. Die andern, kleiner und rund, waren die Schlafstellen der höheren Beamten und Begleiter, die er mit sich führte. Vor Halims Zelt war ein gewaltiger schwarzer Teppich mit bunten Stickereien ausgebreitet, auf dem eine Anzahl roter, ebenfalls reich verzierter Kissen umherlag. Hier saß der Pascha nach Türkenart mit gekreuzten Beinen, die Pantoffeln von den Füßen gestreift, den Tarbusch nachlässig auf den Hinterkopf geschoben, den leichten, schwarzseidenen Stambulrock geöffnet, so daß die brennendrote Schärpe, die er unter demselben trug, sichtbar war. Hinter ihm stand Rames Beys Riesengestalt wie eine Statue aus der altägyptischen Zeit, das unvermeidliche Zigarrenetui und einen Rosenkranz in den gefalteten Händen. Vor ihm saßen zwei weiße, tiefverhüllte Gestalten, die mir den Rücken zukehrten. Die drei Sitzenden rauchten ihre Tschibuks in anscheinend feierlicher Ruhe, während zwei Mamelucken, die vom Feuer herkamen, fingerhutgroße türkische Kaffeeschälchen auf einem silbernen Brett herbeibrachten. Wenige Schritte von dieser Gruppe staken ein paar lange Lanzen im Boden. An diesen waren zwei kleine weiße Pferde angebunden, die mit gesenktem Kopf, aber gespitzten Ohren aufmerksam zuzuhören schienen, was in der Gesellschaft gesprochen wurde. Zwei gewöhnliche Talgkerzen in einer riesigen, aber nichts weniger als eleganten Laterne standen im Boden und kämpften vergebens mit dem roten Schein, der vom Feuer her über das nächtliche Bild flackerte.
"Ah - Herr Eyth!" rief Halim, als mich der erste matte Schimmer der zweifelhaften Beleuchtung traf. "Sie kommen später, als ich erwartete. Aber Sie haben sich doch wieder hergefunden."
Ich sprang vom Esel, der in fast unerklärlicher Weise sofort in der verdienten Dunkelheit versank. Wenige Sekunden später hörte man seinen fluchtartigen Galopp. Der Scheich von Maraska, sein Herr, verstand besser als ich, das geängstigte Tier in Bewegung zu setzen, und hatte ohne Zweifel keinen andern Gedanken, als sein kostbares Eigentum so schnell als möglich aus der vornehmen Gesellschaft, in die es zu geraten drohte, zu erretten. Es gelang, und noch heute bin ich dem besorgten Mann das Backschisch schuldig, das ich ihm gern gegeben hätte. Doch das ist nun seine Sache. Rasch trat ich auf Halim zu, indem ich nach bestem Wissen und Gewissen tejminisierte, ein Gruß, der sehr viel malerischer ist als das Hutabnehmen, selbst wenn man ihn nicht von einem arabischen Zeremonienmeister gelernt hat, zu dem sich Rames Bey gelegentlich mit Bereitwilligkeit für mich hergab.
"Ich hätte früher hier sein können, Monseigneur", sagte ich, "aber ein Zwischenfall, der mir überaus peinlich -"
"Ich weiß, ich weiß!" unterbrach er mich lebhaft, während ein finsterer Schatten über sein Gesicht flog, aber ebenso rasch wieder verschwand. "Haben Sie die Zeichnungen, die wir brauchen?"
"Gewiß, Hoheit", antwortete ich, um ein Gutes erleichtert, und zog das kleine Paket aus der Brusttasche. Er nahm es mit der ihm eignen raschen, nervösen Bewegung aus meiner Hand.
"Gut, sehr gut!" sagte er dabei. "Ich habe Sie nicht nach Schubra geschickt, um auf Pferde aufzupassen. Das war die Sache Achmeds, des Mamelucken. Der Bursche kann von Glück sagen, daß heute die Nacht en Nuß min Schaaban ist." (Die "Lelet en Nuß min Schaaban" heißt wörtlich die "Nacht der Mitte des Schaaban", des neunten Monats im Jahr; die Ägypter nennen sie wohl auch die "Nacht des Schicksals" und feiern sie als eines ihrer wichtigeren Feste.)
Er schwieg einen Augenblick, wie wenn er etwas verschluckte. Dann fuhr er fort:
"Sie werden müde sein und hungrig. Rames, zeige Herrn Eyth das für ihn bestimmte Zelt! Ihre Sachen habe ich holen lassen. In einer halben Stunde essen wir zu Nacht. Reiben Sie sich den Staub ein wenig ab; Sie sehen nicht übel aus, mein Freund!"
Das muntere, freundliche Lächeln, das mich schon öfter in harten Augenblicken bei frischem Mut erhalten hatte, war zurückgekehrt. Rames Bey winkte mir. Während ich mich verneigte, sah ich zum erstenmal die zwei Paar funkelnden Augen, die mir aus den scheinbar kohlschwarzen Gesichtern der dichtverhüllten, am Boden sitzenden Gestalten nachblickten.
"Achmed kann den Allbarmherzigen preisen", sagte mein Führer halblaut und vertraulich zu mir, während wir nach meinem Zelt gingen, "und bei Gott, dem Einzigen, du auch. In der 'Nacht des Verhängnisses' verzeiht er jedem, was er im Monat Schaaban gesündigt hat. Es ist ein Gelübde, das er seit zehn Jahren hält. Mir zahlt er pünktlich die Spielschulden, die ich ihm heute gestehe. Allahbuk! Er ist kein schlimmer Herr! Möge der Erzengel des Allgütigen, der im Buch des Lebens in dieser heiligen Nacht die nötigen kleinen Verbesserungen für das nächste Jahr vornimmt, seiner gedenken! Brauchen können wir es alle, und der Gesegnete des Herrn hat es schon einmal für uns getan: heute vor zehn Jahren. Das soll mir niemand ausreden."
All dies bezog sich auf die eben angebrochene Nacht "en Nuß min Schaaban", in welcher Allah, soweit dies angeht, seinem himmlischen Geheimschreiber, dem Erzengel Gabriel, kleine Korrekturen diktiert, die dieser sodann in der Urschrift des Buches vornimmt, in welchem das unabänderliche Schicksal jedes Sterblichen seit Uranfang der Dinge verzeichnet steht. "Aber wie ist das möglich?" fragte ich Rames Bey bei einer andern Gelegenheit, denn die Geheimnisse der Nacht beschäftigten den denkenden Tscherkessen nicht wenig. "Weiß der Allwissende nicht schon längst ganz genau, wie alles kommen wird?"
"Oh, diese Ungläubigen!" antwortete mir Rames mit einiger Entrüstung. "Weiß der Allwissende nicht auch, daß er sein Wissen ändern wird? Bist du nicht beschämt, o Baschmahandi? Aber die Ungläubigen verstehen das Einfachste nicht. Möge dich Gott von deinen Irrwegen ablenken!"
Auch geht Allah, wenn er mit dem Buche fertig ist, heute nacht an dem Lotosbaum vorüber, der einsam an der äußersten Grenze des Paradieses steht und auf dessen Millionen Blättern die Namen der Menschen geschrieben sind, die auf der Erde leben. Da sind frische und welke, helle und dunkle; jeder Mensch hat sein Blatt. Diesen Baum schüttelt der Allmächtige mit eigner Hand, und wessen Blatt zur Erde fällt, der wird im kommenden Jahr auch zur Erde fallen. Es ist für jeden Gläubigen eine bedenkliche Nacht, und es war mir nicht möglich, ein Lächeln des Zweifels auf Rames Beys ruhigen Zügen hervorzulocken, was zu andern Zeiten nicht schwierig gewesen wäre.
"Ja", fuhr er fort, indem er meinen Zeltvorhang aufschlug und ein Streichholz anzündete, um das dunkle Innere zu beleuchten, "heute vor zehn Jahren! Damals hing Halims Blättchen nur noch an einer Faser, und das seines Neffen Abbas Pascha, des Vizekönigs, schien in strotzender Reife zu stehen. Aber der Allgerechte schüttelte, und am andern Morgen - hast du Talgkerzen, o Baschmahandi?"
Beim unsicheren Schein eines zweiten Streichholzes entdeckte ich, daß mein gesamtes Gepäck den Boden des Zeltes bedeckte. Rasch war eine Kamelsatteltasche aufgerissen und ein Pfund Kerzen sowie eine arabische Papierlaterne herausgeschüttelt. In kürzester Zeit konnten wir bei festlich beleuchtetem Hause an das provisorische Ordnen und Einräumen meiner Sachen gehen. Meine eiserne Bettstätte war bereits aufgeschlagen; Halim mit seiner gewohnten Aufmerksamkeit, wenn er in Zelten lebte, hatte mir eine Binsenmatte und einen amerikanischen Schaukelstuhl geschickt. Es fing bald an, wohnlich auszusehen.
Rames Bey war einsilbiger als gewöhnlich, während er mir half. Doch erzählte er mir mit unterdrückter Leidenschaftlichkeit, die zwei Männer, die Halim Pascha soeben empfange, seien Schakale, Söhne von Schakalen, aus der Wüste bei Suez! Bedaui vom Stamme der Tiyaha, wenn ich es genau wissen wolle. So oft Halim Pascha in jener Richtung auf die Jagd gehe, kommen sie zum Vorschein, aber so weit ins Delta herein hätten sie sich früher nie gewagt. Es sei eine ewige Bettelei, weiter nichts. Der Tscherkesse hatte offenbar wenig Zuneigung zu den Kindern der Wüste.
"Aber Effendini empfängt die weißen Gentlemen sehr höflich", sagte ich zweifelnd. "So empfängt man Bettler nicht."
"Nein; und das ist unser Unglück", meinte Rames ärgerlich. "Es sind Bettler und Räuber. Räuber lasse ich mir wohl gefallen. Wir sind auch Räuber, wo ich zu Hause war; aber Bettler! - Du wirst sehen, ich muß dem Alten, ehe er fortgeht, heute noch zwei oder drei Beutel guter türkischer Pfunde in die Satteltasche stecken, die ich selbst recht gut brauchen könnte. Alles für nichts und aber nichts."
"Das wohl schwerlich", warf ich ein. "Einen Grund muß der Prinz wohl haben."
"Nun ja!" brummte Rames und schlug zornig auf mein Kopfkissen los, denn er war freundlich genug, mir das Bett zu machen, während ich mich wusch. "Du weißt doch, die Fürstin, die Mutter Effendinis, die bei ihm in Schubra wohnt, die letzte Frau des alten Mohammed Ali - Friede sei mit ihm! - sie war vom Stamm der Tiyaha, und der alte Schakal, der drüben sitzt - er saß nie auf einem Teppich wie heute -, sorgt dafür, daß wir es nicht vergessen."
Halims Vetter also?"
"Mehr!" flüsterte Rames Bey. "Ich ersticke, wenn ich die weißen Hunde sehe."
"Aber wie kam das eigentlich? Ein alter Mameluck wie du weiß alles."
"Es ist eine alte Geschichte; sie spielte vor meiner Zeit. Aber heute nacht erzählt man sich gern alte Geschichten. Das liegt in der Luft der 'Lelet en Nuß min Schaaban'. Warte, bis der Mond aufgeht. Dann geht uns das Herz auf, und die Zunge löst sich. Denn wenn Allah im Buche des Lebens blättert und die Blätter der Zukunft umwendet, so blättern auch wir. Er, der Allwissende, nach vorwärts, wir, die Unwissenden, nach rückwärts. Da war geschrieben, daß Mohammed Ali von Suez nach Kairo reiten sollte und daß eine Tochter der Tiyaha am Wege sitzen mußte, halb entschleiert, in der brennenden Sonne. Der Pascha war durstig, und das Mägdlein hatte eine Kullah (eine ägyptische Wasserflasche) neben sich stehen. Sie gab ihm zu trinken und lachte über sein finsteres Gesicht, denn er hatte böse Nachrichten von Syrien und von seinem Sohn Ibrahim Pascha bekommen, und sie war wie ein Gazellenzicklein, das noch nichts fürchtet.
Da sprach der Pascha zu ihr: 'Du gibst mir Wasser, da ich fast vertrocknet war, und du lachst mir wie die Sonne am Festtage der Frühlingslüfte, obgleich es finster um mich ist. Wallah! So soll es bleiben. Nehmt sie mit!'
Da setzten sie die Mamelucken auf ein Kamel, das mit Glasperlen und Federn geschmückt war, und sie ließ sich's gefallen und weinte nicht. Denn sie war schlau wie alle Tiyahas. Und ein Jahr später beugte sich das ganze Harim des Vizekönigs vor ihr, denn sie war Halim Paschas Mutter geworden, unsre Fürstin. Ich weiß heute noch nicht, wie die Schakale zu der jungen Löwin kamen; denn das war sie. - Bist du fertig?"
Er blies die Laterne aus. Wir gingen nach des Paschas Zelt zurück, vor dem sich das Bild mittlerweile kaum geändert hatte. Da die Nacht kühler zu werden begann, hatte sich auch Halim einen weißen Mantel umwerfen lassen. Die drei Gestalten saßen noch immer in würdiger Haltung rauchend auf dem Teppich, hier und da, fast flüsternd, kurze Bemerkungen voller Höflichkeit austauschend. Doch waren sie am Abschiednehmen angelangt. Halim schien ein anderer Mann zu sein als der, den ich auf der Gabeleia oder in den Baumwollfeldern zu Schubra kannte. Seine Bewegungen waren ruhiger, zurückhaltender, seine Rede langsamer und feierlicher, fast schien es, als sei seine Hautfarbe brauner - das machte wohl der weiße Mantel -, als glänzte das Weiß seiner Augen wie das seiner Besucher. Das Beduinenblut in ihm war in sichtlicher Wallung.
"Bleibt bis zum Morgen!" sagte er. "Meine Zelte sind eure Zelte! Die Nacht ist dunkel, und die Wege sind schlecht und von Kanälen zerschnitten, die ihr nicht kennt."
"Wir haben dich in der Nacht des Schaaban gesehen, o Bruder; es ist genug!" antwortete der Ältere, "und du hast meinen Sohn gesehen. Das ist genug! Wenn in einer Stunde das Blatt meines Lebens vom Paradiesesbaum fällt, werde ich nicht klagen. Mein Sohn hat unter deinen Zelten gesessen, und alle Beni Tiyaha werden dir gehorchen, wenn du ihnen rufst. Grüße deine Mutter, unsre Schwester, die Fürstin. Wir lieben Kairo nicht und wissen nicht, wie wir dir nahen sollen, wenn dich Türken und Franken umgeben. Aber hier, am Rande der Wüste und der großen Wasser, bist du der unsre, und die alten Frauen des Stammes wissen, daß deine Mutter ihre Schwester ist. Deshalb rufe, wenn die Franken dich bedrängen oder die Türken dich verraten. Du weißt, wo die Leute deines Stammes wohnen."
"Wenn ihr gehen wollt - so geht in Frieden!" antwortete Halim fast im gleichen Tone. "Der Rat des Alters wird immer ein offenes Ohr finden; und wenn ich einen jungen Arm brauche oder ein flinkes Pferd, so weiß ich, wo ich es zu suchen habe. Gott, der Einzige, sei gepriesen!"
Der zweite Araber warf sich mit einer impulsiven Bewegung aus der sitzenden Stellung auf die Knie und berührte den Boden mit der Stirne.
"Es ist kein Gott außer Gott!" sagte er dabei halblaut. "Er weiß alles. Er kennt das Herz der Menschen."
Dann standen alle drei auf, und ein feierliches Gebärdenspiel, das fast komisch anzusehen war und fünf Minuten dauerte; leitete den Abschied ein.
"Wenn ihr heute etwas für mich tun wollt", sagte dazwischen Halim, so reitet über Maraska. Es liegt fast auf euerm Wege. Dort findet ihr ein krankes Pferd: El Dogan, meinen Liebling. Du kennst ihn, o Ibrahim, und wirst wissen, ob Gott seine Krankheit geschickt hat oder ein Afrit ihn verfolgt. Seht nach dem Tier und schickt es mir gesund zurück."
"Gott sei gepriesen", sagte der Alte, "daß er deine Gedanken lenkte und wir dir dienen können. Wenn die Kunst, die die Wüste lehrt, das Tier erretten kann, so siehst du es morgen gesund und munter vor deinem Zelt. Lebe wohl."
Sie hatten zum zehntenmal schon Lebewohl gesagt und schienen aufs neue beginnen zu wollen, als Halim Pascha seinem Adjutanten Rames Bey, mit dem ich im Schatten der Zelte stand, winkte und drei Finger in die Höhe hob. Rames ging rasch in das Zelt des Paschas, kam mit drei gewichtigen Beuteln heraus, die er zu den Pferden der Beduinen trug und, soweit ich im Lichte der elenden Laternen sehen konnte, in die Satteltasche der größeren Stute steckte.
Jetzt erst wurde es wirklich ernst mit dem Abschied. Die zwei Söhne der Wüste rissen ihre Lanzen aus dem Boden, schwangen sich in ihre Sättel, vermummten sich in ihre Kopf- und Gesichtstücher noch etwas sorgfältiger als zuvor und trabten in die finstere Nacht hinaus. Halim Pascha sah ihnen eine Minute lang nachdenklich nach, warf seinen Burnus von den Schultern, drehte sich auf dem Absatz um, lachte ein eigentümliches, halb verlegenes Lachen und rief, in die Hände klatschend: "Mangeons!"
Im Küchenzelt wurde es lebendig. Die sechs Leibmamelucken eilten herbei, jeder mit einem Teil des erforderlichen Tischgerätes bewaffnet. Die Vorbereitungen zur Mahlzeit nahmen nicht mehr als drei Minuten in Anspruch. Ein achteckiges, zierlich eingelegtes, kaum einen halben Meter hohes Tischchen wurde in die Mitte des Teppichs gestellt, ein rundes Brett aus Messingblech darauf gelegt, auf dieses drei flache, tellergroße Brote und neben dieselben ein hölzerner Löffel und eine kleine goldgestickte Serviette. Einer der Mamelucken reichte uns feierlich ein großes Kupferbecken und goß Wasser über unsere Hände. Es sollte, wie aus all dem hervorging, korrekt arabisch gespeist werden; schon der bedenkliche Mangel an Weingläsern ließ darüber keinen Zweifel. Wir ließen uns vor dem Tischchen nieder.
Ich hatte nicht zum erstenmal die Ehre, mit Halim Pascha in dieser für uns Europäer etwas unbehaglichen Weise die Freuden der Tafel zu genießen. In Schubra wurde nach den Regeln des Westens gesessen und gegessen, wenigstens außerhalb des Harims. Auf der Jagd oder bei seinen Rundreisen im Lande wurde die in mancher Beziehung bequemere Landessitte beobachtet. Halim war hierbei gewöhnlich ein Meister heiterer Liebenswürdigkeit und freute sich an der Ungeschicklichkeit und dem Mangel arabischer Gesittung seiner Gäste aus dem Abendlande. Heute war er ausnahmsweise in sich gekehrt und schien minutenlang auf das lärmende Zirpen der Grillen, das Quaken der Frösche und das ferne Gebell der Dorfhunde zu hören, welche die Nachtstille unter sich verteilt hatten. Rames Bey ahmte seinen Herrn getreulich nach, und so kamen wir an die den Schluß des Mahles bezeichnende unvermeidliche Reisschüssel, ohne daß der Eindruck des nächtlichen Wanderbildes durch Gespräche über französische Kunst, englische Erfindungen oder deutsche und arabische Philosophie gestört wurde, wie dies sonst wohl der Fall war.
Tischchen und Geschirr - die aus Brot bestehenden Teller waren verzehrt - verschwanden ebenso rasch, als sie gekommen waren. Die Mamelucken brachten noch ein halbes Dutzend Kissen und Polster aus Halims Zelt, so daß es sich jeder so bequem als möglich machen konnte. Halims Tschibuk wurde frisch angezündet und glimmte wie ein Glühwürmchen im Dunkel. Rames Bey steckte sich auf des Paschas Wink eine Zigarre an, und ich als eingefleischter Nichtraucher sah zu, wie die volle Mondscheibe riesengroß am fernen Horizont aufstieg. Der etwas erhöhte Standort des Lagers gestattete einen freien Blick über die nächste Umgebung. Es war ein Bild prachtvoller Einsamkeit. Fast taghell lag die gewaltige Fläche vor uns, über deren nördliche Hälfte ein zarter weißer Dunst wie ein Schleier langsam hin und her wogte. Das Minarett von Kassr-Schech schimmerte grünlich aus den dunkeln Sykomoren heraus. Von dort her tönte leises, fernes Händeklatschen. Vermutlich veranstalteten einige Derwische der Gegend mit den Fellahs einen Sikr - einen Gebetstanz - zu Ehren der heiligen Nacht. In langen, sanften, bald heißen, bald kühlen Stößen zog die Nachtluft durch das Lager, als ob abwechslungsweise die Wüste und das nahe Meer über uns hinatmete. Es war doch ganz anders hier als in Kairo und Schubra: der unverfälschte, träumerische Orient mit seinem halbschlummernden Leben, seinen geheimnisvollen Kräften, die wir im Westen nur ahnen und nie verstehen werden und die unser Seelenleben trotzdem heute noch beherrschen, meist ohne daß wir es wissen.

EINE ORIENTALISCHE FAMILIENGESCHICHTE

"Ob er wiederkommen wird?" fragte plötzlich Halim nach einem langen, behaglichen Schweigen.
"Inschallah!" erwiderte Rames Bey, und wieder waren beide still und fuhren fort, an den Sternenhimmel hinauf zu rauchen. Nach einiger Zeit begann Halim aufs neue:
"Wenn der alte Ibrahim ben Chursi ihn noch lebend trifft, wird er wiederkommen."
Ich merkte jetzt, daß sie von dem unglückseligen Pferde sprachen, und wagte zu behaupten, daß es bei meinem Wegreiten von Maraska sichtlich auf dem besten Wege gewesen sei, sich zu erholen.
"Das verstehen Sie nicht, mein Freund!" sagte Halim auffallend mild. "Dahinter steckt mehr als Ihr Reiten. Es ist die Macht des Verhängnisses, und ich und El Dogan wissen es."
Ich war sprachlos. War das Ernst? War das derselbe Mann, mit dem ich seit zwei Jahren unzählige Male über Pumpwerke und Eisenbahnlinien, über Politik und Volkswirtschaft, über Materialismus und Pantheismus gesprochen und selbst gestritten hatte?
Wieder trat eine lange Pause ein. Aber es war eine jener Nächte, in denen man spürt, ohne zu sprechen, was der Nachbar denkt. Ich wußte, daß Halim Pascha fühlte, wie ich mich verwunderte, und empfand, daß ihn ein plötzliches Bedürfnis anwandelte, mir mehr zu sagen, als uns orientalische Herren gewöhnlich mitteilen, sonderlich wenn sie Prinzen sind. Es mochte ein Körnlein Wahrheit in dem sein, was der Tscherkesse gesagt hatte. Es war die Nacht des Schaaban, und der Mond war aufgegangen. Kommen nicht uns kühleren Nordländern in der Christnacht Gedanken und Gefühle, die dreihundertundvierundsechzig Tage lang geschlummert haben?
"Erinnerst du dich, Rames", sagte der Prinz, ohne sich an mich zu wenden, aber ich war sicher, daß es mir galt, "vor zehn Jahren, an dieselbe Nacht, als El Dogan zu mir kam?"
"Vergißt man, wann unser Leben begann?" antwortete Rames Bey.
"Plaudern wir davon! Die Nacht ist lang, und vor der fünften Stunde gehen wir heute nicht schlafen. Herr Eyth erzählt mir Wunder von seinen Maschinen, manchmal kaum Glaubliches -"
"Und doch sind sie wahr!" unterbrach ich ihn, lachend in sein Lächeln einstimmend.
"Oder werden es, ohne Zweifel, mein Lieber; wenn nicht heute, so doch morgen. Sie sind ein Mann, der gerne mit der Zukunft spielt, und ich liebe dies kaum weniger als Sie. Aber ich möchte Ihnen heute mit ähnlicher Münze heimzahlen. Auch wir haben unsre Geschichten und unsre Wunder."
"Manchmal kaum Glaubliches?" fragte ich; denn ich wußte, Halim verstand einen Scherz.
"Manchmal kaum Glaubliches", wiederholte er mit ungewohntem Ernst. "Heute nacht sind alle Geschichtenerzähler Kairos an der Arbeit. Sei unser Schaer, Rames Bey. Erzähle uns von El Dogan. Ich höre selbst gerne wieder, wie du's erzählst."
"Laß mich erzählen, wie du mich fandest", bat Rames plötzlich auflebend. Manchmal ist ein kleiner Mameluck fast so viel wert wie ein großes Pferd."
"Er bildet sich viel ein, seitdem er Bey geworden ist", lachte Halim.
"Wie man Bey wird durch Nilwasserschlucken, das ist auch etwas für eine Vollmondnacht des Schaaban, doch nicht für heute. Erzähle, Rames! Aber langsam! Sonst begreift der Baschmahandi kein Wort, und ich will, daß er verstehe."
Rames Bey begann in seinem stockenden Französisch, manchmal von Halim unterbrochen, wenn ihm dieser halblachend mit einem Wort aushalf oder ein völlig unverständliches Satzgefüge zurechtrückte. Die wunderliche Sprache mit ihren arabischen Ausrufen stimmte nicht schlecht zur wunderlichen Geschichte, die nicht in jedem Geschichtenbuch zu finden ist.
"Ich war ein kleiner Junge, vielleicht von drei Jahren, und hatte einen Bruder, der mochte sieben sein. Da wurden wir samt unsrer Mutter von Kurden gefangen und nach Stambul verkauft. Auf dem Wege starb die Mutter. Dies erzählte mein Bruder, der sich der Berge erinnerte, auf denen wir geboren wurden. So mußte er auf der Reise meine Mutter sein. Ein kleines Mütterchen; aber wir kamen glücklich in Stambul an. Allah wollte es so. Dort kaufte uns ein Händler aus Alexandrien und brachte uns nach Ägypten. Hier in Kairo kaufte uns ein Eunuchenoberst Mohammed Alis, des Vizekönigs, um fünfzehn Beutel, zehn für meinen Bruder, fünf für mich, denn mein Bruder war schon ein anstelliger, flinker Junge und ich ein hübsches Spielzeug. Der große Vizekönig lachte und schenkte uns seinem Lieblingsenkel Abbas, deinem Neffen, o Effendini. - Meine Mutter schwimmt mit den Fischen im Schwarzen Meer, mein Vater liegt erschossen in den Schluchten des Kaukasus. Niemand weiß, wer sie waren. Das ist mein Stammbaum und mein Geschlecht."
"Verstehen Sie ihn?" fragte Halim. "Er wird immer poetisch, wenn er auf sein Tscherkessentum zu sprechen kommt. Dabei läßt er sich nicht dreinreden. Weiter Rames!"
"Wir hatten es nicht gut bei Abbas, Allah weiß es. Niemand hatte es gut bei dem Lieblingsenkel deines Vaters, o Effendini. Er war gleich einer bitteren Mandel, schon als Junge. Den einen Tag spielte er mit uns wie ein junger Panther mit Kätzchen, an andern, als wären wir die Söhne von Hunden, und der andern Tage wurden es immer mehr. Es kam schlimmer, als ihm sein Großvater das erste Haus gab und sein Harim und einen Garten auf der Insel Roda. Er war noch nicht fünfzehn Jahre alt. Damals besuchte er im Übermut den Markt, den die Gespenster der Wüste in der dritten Nacht des Aschr (8) zu Kairo in der Straße Es-Salibeh abhalten. Wallah, dies ist wahr, o Baschmahandi! Gleich vorn, an der Ecke der Straße, saß ein altes Weib, das Orangen verkaufte, Geisterorangen. Er kaufte drei Stück. Wie sie ihm aber in der Hand zergingen, als wären sie Luft, schlug er das alte Weib mit seinem Kurbatsch über den Kopf. Da sei ein zorniger Afrit in ihn gefahren und nicht mehr von ihm gewichen. Du glaubst es nicht, o Baschmahandi? Ich kann dir jetzt noch die Straßenecke zeigen, wo es geschah."
Halim lachte, aber nicht wie er in Kairo gelacht hätte. Ein unerklärliches Gefühl kam auch über mich. War es die Sumpfluft aus dem Burlossee oder der Zauber des Orients, der aus den Torheiten aufstieg, die Rames Bey mit ernsthafter Miene vorbrachte? Das "Allahu!" (9) des Sikrs, den drüben im Dorfe die Fellachen abhielten, war deutlich hörbar. Wir alle lauschten, bis der Schrei einer Hyäne einen Sturm von Hundegebell entfesselte und Rames Bey aus seiner Träumerei aufweckte.
"In den Gärten auf Roda geschah es, fuhr er fort. "Dort verlor ich meinen Bruder, die einzige Seele, die mir von unseren Bergen erzählen konnte. Der junge Pascha hatte zwei Kisten mit Jagdgewehren erhalten, die eine aus London, die andere aus Paris, und ein französischer Händler suchte ihm zu erklären, daß die Büchsen aus Frankreich besser seien als die aus England. Der Afrit war in ihm an jenem Morgen und verzerrte sein junges Gesicht, daß es uns bange wurde, als er aus dem Harim trat. Wir waren unsrer sechs und noch allzu jung für den Prinzen, wenn sich der Teufel in ihm regte. Er hörte dem Franzosen zu, ohne ein Wort zu sagen, und dieser, nach der Art seiner Landsleute, fand kein Ende. 'Genug', rief er endlich, 'Sie suchen mir das beste Gewehr zu verkaufen. Das werden wir alsbald herausfinden!' Er befahl meinem Bruder, nach dem Nil zu laufen und sein englisches Ruderboot von der Kette zu lösen. Mein Bruder ging. Abbas, unser Herr, nahm dem Franzosen das Gewehr aus der Hand, zielte und schoß den Knaben durch den Kopf. 'Nicht übel', sagte er, denn mein Bruder lag still und tot, auf halbem Weg nach dem Ufer. 'Jetzt läufst du, kleine Kröte', sagte er zu mir. Ich lief schon. 'Mein Bruder! Mein Bruder!' Und Abbas griff nach dem englischen Gewehr, während die andern alle zitternd umherstanden. Jeden Augenblick hoffte ich den Knall zu hören. Ich war noch klein, nicht elf Jahre. Aber ich suchte nichts mehr auf der Welt als meinen Bruder."
"Es war eine häßliche Szene", sagte Halim, finster dreinblickend, zu mir. "Der Franzose wurde krank davon und hat nie mehr versucht, meinem Neffen Gewehre aufzuschwatzen."
"In diesem Augenblick tratest du in den Garten, o Halim", fuhr Rames Bey lebhafter und Arabisch sprechend fort. "Du sahst meinen erschossenen Bruder, du sahst mich laufen, du sahst den Pascha mit dem Gewehr im Anschlag, und du sahst den Afrit in seinem Gesicht. Gelobt sei Gott, der dir alles zeigte, als habe es ein Blitz erhellt. Du schlugst Abbas das Gewehr aus der Hand, und als er es, rot vor Zorn, wieder aufhob, gingst du zu meinem Bruder, hobst mich auf, denn ich lag schon über ihm und drückte die Hand auf das Loch in seinem Kopf, decktest mich mit deinen Armen und riefst: 'Schieße jetzt, wenn du willst!' Da warf Abbas die Flinte weg, ging, ohne ein Wort zu sagen, zurück in das Harim und kam nicht wieder zum Vorschein drei Tage lang. Das, o Baschmahandi, hat unser Herr, Halim Pascha, für einen kleinen Mamelucken getan."
"Allah hat es gewollt, o Rames!" sagte Halim mit erzwungener Leichtigkeit. "Er brauchte dich. Auch er braucht seine Mamelucken."
"Und wie ging es weiter?" fragte ich. "Was fing man mit dir an?"
"Aber sprich Französisch", ermahnte Halim, "es amüsiert mich."
"Wir begruben meinen Bruder in einem Winkel der Gärten von Roda, am Wasser. Niemand kennt heute sein Grab außer mir. Mich hielten sie versteckt. Ich wurde dem Obergärtner zugewiesen und mußte in den entlegensten Teilen des Parks den andern Gärtnerburschen helfen. Wenn Abbas Pascha sich zeigte, sollte ich mich verstecken. Sie glauben wohl, daß ich gehorchte? Nach drei Wochen begegnete er mir jedoch, ganz unerwartet. 'Zeigst du dich wieder, kleine Kröte?' sagte er, ohne zornig zu sein. 'Gebt ihm die Bastonade, weil er sich versteckt hat. Dann kannst du meine Pfeifen verwalten, Spitzbube!' Der Afrit war von ihm gewichen auf kurze Zeit. Sie gaben mir fünfundzwanzig auf die Fußsohlen; nicht zu schlimm, denn sie gedachten meines Bruders. Dann wurde ich sein Pfeifenverwalter: eine hohe Ehre für meine Jahre, aber gefährlich bei einem solchen Herrn. Niemand beneidete mich."
Wieder schwiegen wir. Halim rauchte still vor sich hin. Rames winkte den Leibmamelucken, uns Kaffee zu bringen. Ich lauschte aufs neue dem Hu! hu! hu! aus dem Dorf und sah mir den Sternenhimmel an, an dem der wunderklare Mond, auf dem man die Berge wie auf einer Landkarte sehen konnte, langsam emporstieg.
"Ist es nicht eine Nacht wie geschaffen für unsre Märchen?" sagte Halim endlich, die heiße Kaffeetasse an den Mund führend. "Aber Sie haben keine Schoara (10) und namentlich keine Scheherezade. Man muß das von Kindheit an kennen. Sie entbehren viel, die armen Leute Ihres Westens."
"Die ganze Welt scheint mir heute ein Märchen", sagte ich und überließ mich ungeniert der eignen Träumerei. Ich wußte, daß Halim dies ganz in der Ordnung fand.
"Märchen erzähle ich nicht", begann er wieder nach einer Pause.
"Das ist Frauenweise. Aber was das Schicksal um uns wirkt und webt, klingt oft ganz wie ein Märchen. Das können sich auch Männer erzählen; vollends in der Nacht des Verhängnisses. Wie, Rames, wir sind noch nicht zu El Dogan gekommen!"
"Weiß ich, was ich erzählen darf?" murrte Rames.
"Er traut Ihnen nicht", sagte Halim. "Schade, daß Sie ein Ungläubiger sind, Herr Eyth", fuhr er halb im Scherz, halb im Ernste fort.
"Sie verdienten, Allah, den Einzigen, mit uns zu preisen. Manchmal, in Paris, in Wien, selbst in Kairo stecken Sie mich an mit Ihrem Räsonieren, mit Ihrem sogenannten Denken. Hier, zwischen Wüste und Meer, wird es uns wieder klar: Es ist nur ein Gott, Herr Eyth!"
"Sicherlich", sagte ich mit Überzeugung; denn auch ich fühlte Wüste und Meer und darüber den Sternenhimmel in seiner unergründlichen Unendlichkeit, in ihrer allumfassenden Einheit.
"Ah, diese Christen! Vor einer Woche noch suchten Sie mir die drei zu erklären, die ihr anbetet", rief Halim. "Wann wollt ihr denken, wie Allah den Menschen denken lehrte. Der Allgütige verlangt das Unmögliche nicht von seinen Kindern."
Ich schwieg. Was konnte ich diesem mohammedanischen Rationalisten sagen, wenn er in seiner frommen Stimmung war? Die Nacht war nicht lang genug für eine Antwort. Aber das ferne Allahu der Derwische fing an, mir wirklich etwas bange zu machen.
"El Dogan, Rames!" rief Halim. "Ich will nicht, daß wir vor Mitternacht einschlafen. - Ah so, du willst nicht. Gut, ich helfe dir. Ich erzähle Ihnen, was ich nicht jedem erzähle, Herr Eyth. Ich weiß, Sie werden nicht ausschwatzen, was Toren nicht hören können."
Er gab das leere Kaffeeschälchen zurück, winkte den Mamelucken, sich zu entfernen, rückte seine Polster zurecht und legte sich behaglich zurück. Das Allahrufen und Händeklatschen hatte plötzlich aufgehört; das Bellen der Hunde kam nur noch von Zeit zu Zeit, wie aus weiter Ferne. Ein silberner Schimmer lag über der stiller werdenden Nacht um uns her. Wir waren allein.
"Sie wissen", begann Halim, langsam und leise sprechend, "mein Vater war einer der Großen der Erde. Man kommt nicht aus einem albanesischen Städtchen und bringt den Thron des Kalifen ins Wanken, ohne zu den Großen der Erde zu gehören. Ihre Bücher und Zeitungen im Westen mögen schwatzen! Er war ein Mann der Tat, den Allah zur Größe geschaffen hatte. So hatte er auch Kinder wie nur ein Großer. Ich habe vierundachtzig Brüder und Schwestern gehabt. Was sagen Sie dazu?"
"Nun wissen Sie", fuhr er fort, als ich weislich keine Bemerkung zu dieser Seite der Größe Mohammed Alis machte, "es sagt der Koran, oder wenigstens unsre Ulemas, die den Koran je nach Bedarf erklären, daß stets der Älteste des Stammes einer Familie Haupt und Herrscher derselben sein soll. Dies wurde auch in den Verträgen festgesetzt, welche im Jahre 1293, pardon, im Jahre 1840! - der Familie meines Vaters die Erbfolge in Ägypten sicherten. So wurde mein Neffe Abbas, der Sohn meines Bruders Tussun, vor fünfzehn  Jahren Vizekönig von Ägypten als erster Thronfolger nach dem Tode Mohammed Alis - Allah sei ihm gnädig! - und nach der Regentschaft des ältesten unserer Brüder, Ibrahims - Allah sei auch ihm gnädig, er hat es nötig!"-
"Abbas war ein wunderlicher Mann. Oft war ich selbst versucht, die Geschichte von Rames Beys Afrit für Wahrheit zu halten. Er war ein guter Moslim in seiner Art, glaubte an Gott und den Propheten, an Zauberei und allen Unsinn, den ihm die Derwische vorschwatzten. Täglich verrichtete er seine Gebete wie der beste von uns und haßte euch Herren aus dem Westen und alles, was mein Vater in eurem Geiste geschaffen hatte, wie Gift. Fort damit! war sein erster und letzter Gedanke; zurück in die Welt, aus der wir stammen, in die große Vergangenheit mit ihren Kalifen und Sultanen, ihrer Pracht und ihrer Gewalt, ihren Teufeln und ihrem Gott. Das war ein großer Gedanke, wenn Sie auch anders denken mögen, und er packte ihn manchmal mächtig. Dann trieften seine Hände von Blut. Dann jubelte der Afrit in ihm. - Aber er war ein kleiner Mann.-
"Nun sind eine Menge meiner Brüder früh gestorben - die Schwestern zählten wir kaum -, so daß zu seiner Zeit nur noch fünf übrig waren, fünf und deren Familien. Said war der älteste, ich der jüngste. Dazwischen kamen Ismael, der Vizekönig von heute, und Mustapha Fasil. Sie sind älter als ich, obgleich Enkel meines Vaters, Söhne Ibrahims. (11) Ich vergesse Achmed, meinen älteren Bruder, der vor sechs Jahren im Nil ertrank. Doch wer denkt an all die Toten, obgleich Sie, Herr Eyth, damals um ein Haar die Möglichkeit verloren hätten, mein Baschmahandi zu werden. Denn auch ich zappelte mit ihm und der halben Familie meines Vaters im Wasser, bei Kassr-Seyat. Gott weiß, wer uns hineinwarf. Es geschah per Dampf, in einem Eisenbahnwagen. Auch das ist eine Geschichte, die niemand besser erzählen könnte als Rames Bey. Heda! Schläfst du?"
"Nein", sagte Rames Bey trocken. "Aber ich denke daran, wie wir uns damals schwimmen lehrten, o Pascha!"
"Das ist das Unglück jenes alten Gebots, das uns Gott in seinem Zorn gegeben hat", fuhr Halim fort, nachdem er, wie von einer plötzlichen Gefühlswallung ergriffen, dem Tscherkessen stumm die Hand gegeben hatte, die dieser feierlich küßte. "Jeder, dem der Himmel einen Sohn schenkt, möchte dem Jungen hinterlassen, was er selbst war und besaß. Das ist Menschenart. Keiner liebt die Brüder, die diesem Wunsch im Wege stehen, und wenn Kinder und Enkel an die Reihe kommen, so wird Neid und Haß mit ihnen geboren. Dann schreitet der Engel des Schicksals durch unser Haus und tötet rechts und links. Das ist in Kairo wie in Stambul, in Tunis wie in Bagdad. Ein hartes Los für die Großen unseres Glaubens. Aber es ist Allahs Gebot. Uns geziemt es, dem Allgütigen zu vertrauen.
Abbas war wie alle. Kaum war Ibrahim tot und unser alter Vater, dessen Seele schon zuvor zu seinem Schöpfer zurückgekehrt war, ehe sein Leib starb, meinem ältesten Bruder gefolgt, so haßte und fürchtete er uns wie das Unglück. Er hatte nur ein kostbares Söhnchen, Il Hami, der kränklich und fast so sanft war wie sein Großvater Tussun. Die Natur spielt wunderlich mit unserm Geiste. Er liebte das Kind wie ein Panther sein Junges. Said und ich mußten auf den Zehen gehen, um den Afrit in ihm nicht zu wecken. Wir waren umringt von Spionen und bewacht wie Halbgefangene. Doch hatte ich wenigstens in Schubra Ruhe, wo ich schon damals mit meiner Mutter wohnte. Er fürchtete ihre stummen Blicke. Said lebte meist in Alexandrien, seitdem er Marineminister geworden war. Es war kein sorgenvolles Amt, da unsre kleine Flotte in den letzten Kriegen des Vaters vernichtet worden war. Wir liebten uns, Said und ich, denn es schwebte eine gemeinsame Gefahr über unsern Köpf en. Jeder Tag konnte uns zerschmettern.
Aber auch Abbas lag nicht auf Rosen. Zuerst schaffte er ab, was der Vater Gutes aus Europa gebracht hatte: Schulen, Gerichte, Militäreinrichtungen. Das wurde alles wieder in das alte Bett geleitet. Die Derwische und die Fakire waren sehr zufrieden. Sie umgaben ihn mit einer Leibwache und rühmten seine Frömmigkeit. Er baute seinen Palast, die Abbasiye, wie eine Festung und brachte dort sein großes Harim unter; dann schuf er den Palast Bahr el Beda in der Wüste bei Suez; dort wimmelte es von Affen und Papageien, mit denen er plauderte, wenn sich kein Mensch mehr vor ihm sehen ließ. Ein dritter Palast entstand in Benha am Nil, wo er seine Pferde hielt und eine Herde von Giraffen. Er war ein unbegreiflicher Mann, wunderlich wie ein einsames Tier, das niemand versteht; manchmal ein Tiger mit blutigen Krallen, manchmal eine zitternde Hyäne, die sich vor einer Papierlaterne versteckt.
Am meisten machte ihm meine Schwester bange: Zohra Pascha. Sie haßte ihn, wie Frauen hassen. Wallah, er hatte es um sie verdient, und sie war nicht umsonst die Tochter seines Großvaters. Noch zu unseres Vaters Zeiten hatte er sie gezwungen, den Defterdar Achmed Bey zu heiraten. Da waren ein Löwe und eine Löwin zusammengekuppelt, und solange die beiden an einer Kette zerrten, fühlte sich Abbas beruhigt. Als aber der Defterdar starb und die Witwe nach Kairo zurückkehrte, brach der Streit aufs neue aus, blutdürstig, gifttriefend. Ich weiß nicht, was Sie von ihr gehört haben. Die Basars wissen mehr Lügen als wir. Es gelang Abbas, den Vater gegen sie aufzubringen, so daß er die Fenster und Tore ihres Harims zumauern und nur ein einziges Türchen offen ließ, vor dem Tag und Nacht eine Wache stand. Aber was sind Wachen und vermauerte Fenster gegen die List der Frauen? Schon im ersten Jahr der Regierung ihres Neffen Abbas gelang es ihr zu entfliehen. Said, der sie besser kannte als ich und den sie liebte, denn sie liebte große blonde Männer, behauptete, Abbas habe sie entfliehen lassen. Ihre Nähe war Todesangst für ihn, und er wagte nicht, sie zu töten. Vor der Tochter seines Großvaters machte er halt, Gott weiß, aus welchen Gründen. Sie floh nach Stambul und kaufte einen Palast am Bosporus. Es war sein Schicksal.
Mit jedem Jahr wurde es schlimmer für uns alle, auch für das Land, das er aussaugte wie ein Guhl. Das hatte der Vater wohl auch getan, aber er suchte es gleichzeitig mit all seinen Kräften zu befruchten und zu heben; hierzu brauchte er Geld. Abbas brauchte es für seine Frauen, für seine Papageien und Giraffen. Daneben wuchs der kleine Il Hami heran und mit ihm die Angst vor den Onkeln und Brüdern und Vettern und der sehnliche Wunsch, allein in der Welt zu sein mit dem Jungen.
Wir sahen es kommen, Schritt für Schritt, und Zohra mit ihren Falkenaugen im fernen Stambul sah es deutlicher als wir. Sie warnte Said. Sie suchte ihn zu einer kühnen Tat aufzustacheln. Aber Said war gutmütig und träge, und solange ihm niemand wehe tat, lief er seinen Schiffen nach, wenn Ebbe in seiner Kasse war, und ging nach Paris, wenn er Geld hatte. Für mich wachte meine Mutter; aber auch sie fing an zu zittern.
Wir sahen Abbas fast nie mehr. Er war bald hier, bald dort, wochenlang wie begraben bei seinen Frauen und seinen Papageien. Der Oberste der Ulemas der Moschee el Azhar, welcher II Hami erziehen sollte, und Elfy Bey, der Gouverneur von Kairo, der zugleich Kriegsminister war, waren die einzigen, durch die er mit der Außenwelt verkehrte. Da, im Frühjahr 1854, stiegen Gerüchte auf wie Nebel in den Sümpfen des Burlossees. Man flüsterte in den Basars, in den Bädern, in den Harims, daß der Pascha ein großes Morden beschlossen habe. Alle Gläubigen sollten aufstehen und die Europäer des Landes in einer Nacht erschlagen. Das war der heilige Plan der Ulemas, und dafür sollte der Pascha den Lohn des Himmels erhalten. Denn in derselben Nacht sollten auch seine Brüder und seiner Brüder Kinder für immer verschwinden, so daß niemand mehr dem kleinen Il Hami im Wege gestanden hätte. 'Hatte nicht der große Mohammed Ali vierzig Jahre zuvor mit dem ganzen Mameluckenadel das gleiche getan? Und Europa getrotzt? War dies nicht wieder möglich, o ihr Kleingläubigen', sagten die Schriftgelehrten der Moschee el Azhar, 'wenn Gottes Segen auf dem großen Werke ruht?' Meine Mutter wußte von dem Plan. Sie lag tagelang auf den Knien und betete zu Gott um Rettung. Aber sie sah keine. Man hatte sich heimlich an den Sultan gewendet um Schutz für die Familie. Abbas, der davon gehört hatte, schickte königliche Geschenke nach Stambul, so daß der Kalif schwieg. Als er durch die Frauen aufs neue gedrängt wurde, fragte er: 'Wo sind eure Beweise?' Wir hatten keine. Da meinte der Kalif: 'Was betrübt ihr diesen Abbas, wenn er für euern Glauben eifert? Kann er etwas tun, was Gott nicht will? Laßt ihn in Frieden!' Und auch Zohra Pascha, die meiner Mutter von Zeit zu Zeit Nachricht gegeben hatte, obgleich sich die Frauen nicht liebten, schwieg seit einem Jahre wie das Grab. Bei Gott, Baschmahandi, es waren schwüle Tage, wie ihr sie in Europa schon lange nicht mehr kennt.
So wurde es Juli, und unser Schaaban kam heran. Nur Said in Alexandrien war sorglos wie immer und im Begriff, nach Marseille abzureisen, um in Frankreich eine Fregatte zu bestellen. Das Geld für das Schiff hatte er in der Tasche, und von Marseille nach Monako war es nur ein Sprung. Er freute sich schon auf das zweite Schiff, denn er war entschlossen, es spielend zu erobern. - Aber, Rames, wahrhaftig, du schläfst! Erzähle weiter, damit du wach bleibst!"
"Ich schlafe so wenig, als ich vor zehn Jahren in der Nacht des Verhängnisses geschlafen habe", sagte Rames ernst. "Willst du, daß ich vor den Ohren des Baschmahandis, des Fremdlings, erzähle?"
"Er ist kein Fremdling für uns", sprach Halim mit ungewohnter Wärme, "und er weiß, was alle Welt weiß. Erzähle!"
"Ich war unter mancherlei Not und Gefahr im Dienst Abbas Paschas ein großer Junge geworden", hob Rames Bey ohne weitere Umstände an, "und verwaltete noch meine Pfeifen, als der Pascha schon drei Jahre lang Vizekönig gewesen war. Da wurde ich plötzlich abgesetzt und kam zu den Pferden in den Marstall. Ich dankte dem Allmächtigen, denn ich liebte die Pferde weit mehr als die Pfeifen und konnte reiten, ohne es gelernt zu haben, wie ein Beduine. Meine Kameraden hatten nicht nötig, mich zu bedauern.
Der Grund meiner Absetzung war dieser: Der Pascha hatte zwei neue Mamelucken aus Stambul erhalten, zwei Brüder, Tscherkessen, die noch die Sprache der Berge kannten und frisch waren wie zwei junge Adler. Sie hießen wie die heiligen Märtyrer: Hussein und Hassan. Wie diese waren sie Zwillinge und prachtvolle Leute; dabei gewandt und anstellig, obgleich sie noch kein Wort Arabisch verstanden. Das alles war, was Abbas liebte. Wenn er genug hatte an seinen Papageien und Affen, wollte er schöne Frauen um sich haben und schöne Männer. Gott wird den Sünder verdammen!"
"Fluche nicht, o Rames", mahnte Halim. "Gott verdammt, wen er will. Erzähle!"
"Und schöne Pferde", fuhr der Tscherkesse fort. Nach wenigen Wochen wurden Hassan und Hussein Pfeifenträger und erste Kammerdiener. Es waren wortarme Leute, finster und still, wenn sie mit uns zusammensaßen, still und geschäftig um den Pascha. Wir andern haßten sie. Sie schienen sich nicht darum zu kümmern. Es hieß, des Paschas Agent habe nach einem Probemonat für jeden hundert Börsen verlangt und erhalten und habe das Paar selbst geschenkt bekommen. - Soll ich erzählen?"
"Erzähle, was du gesehen hast sagte Halim, "nicht was man dir vorschwatzte!"
"Nach kurzer Zeit waren die zwei in höchster Gunst. Es hieß, der Astrologe, der alte Soliman el Habeschi, habe für sie in den Sternen gelesen und dem Pascha seine Weisheit mitgeteilt. Seitdem wachten sie in seinen Vorzimmern bei Nacht und versuchten seine Speisen, ehe er aß. Er schenkte ihnen Pferde und goldgestickte Gewänder und Geld wie keinem von uns. Bei unseren fortwährenden Wanderungen von der Abbasiye nach Benha, von Benha nach dem Bahr el Beda und wieder zurück nach der Abbasiye hatten sie für alles zu sorgen, was er brauchte, und ihn bei guter Laune zu erhalten, wenn er nicht im Harim war. Das war keine kleine Aufgabe, aber es gelang ihnen, wie es noch niemand gelungen war. - Wie wir andern schimpften!
Bis zum Feste en Nuß min Schaaban hatte man gewöhnlich in der Abassiye gewohnt. Aber es wurde zu heiß in der Wüste, und zu Benha, in dem neuen Schloß am Nil, waren herrliche Bäder eingerichtet. Der Pascha befahl, zwei Tage vor dem Fest, dorthin zu übersiedeln. Das Gefolge war nicht groß: der Kriegsminister Elfy Bey, der, seit man an den heimlichen Plänen arbeitete, ihn stets begleitete, der Ulena, welcher seine Gebete leitete, der Astrologe Soliman el Habeschi und ein Dutzend Mamelucken, das war alles. Wir hatten uns rasch in Benha eingerichtet, aber einen schlechten Tag gehabt. Der Chamsin wehte und trieb und blies die Sandwolken über den Nil, daß es im Palast nicht auszuhalten war. Abbas war wie ein gereiztes Tier, wenn der Chamsin wehte. Er war fett geworden, und die heiße Luft nahm ihm den Atem. Wir wagten kaum, ihm nahe zu kommen. Selbst nach Hassan hatte er mit einer ungeladenen Pistole geworfen und dabei einer marmornen Astarte aus Neapel den Kopf abgeschlagen. Der Mameluck mußte die Pistole aufheben und sie laden. Er war nicht weit von seinem letzten Augenblick, als er sie dem Vizekönig überreichte, der schweigend fortfuhr, damit zu spielen; doch Abbas war dem seinen näher. Der Astrologe hing den Kopf und sah traurig drein, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Sein langer Bart berührte fast den Boden, und auf seiner Stirn stand der Angstschweiß. Ich glaube, er wußte, was kommen mußte, obgleich man in jener Nacht keine Sterne sehen konnte. Die Luft war voll Staub.
Vierzehn Tage später sollte ein Rennen in Alexandrien abgehalten werden. Man sagte nachher, der Schluß dieses Festes wäre das Signal des großen Mordens geworden. Sechs Pferde aus dem Gestüt von Benha sollten mitlaufen, und in aller Morgenfrühe, nach der Nacht des Verhängnisses, solange es noch kühl war, sollten sie dem Pascha vorgeführt werden. So kam's, daß ich schon zwei Stunden vor Sonnenaufgang im Marstall war, um nach den Tieren zu sehen, sie striegeln und abreiben zu lassen. Damals war El Dogan sieben Jahre alt und die Freude meiner Seele. Ich hatte ihn seit zwei Monaten nicht gesehen, so daß er vor Lust wieherte, als ich ihn begrüßte. 'Ja, mein Dogan', sagte ich zu ihm, 'du sollst mitlaufen und alle andern hinter dir lassen. So will ich dich ans Ziel bringen oder den Hals brechen.' Und wie er nickte, sehe ich über seinen Kopf weg nach der Stalltür. Da stand der Astrologe, ohne Turban, den Bart über der Schulter, und keuchte: 'Der Pascha! Der Pascha! Allah ist gerecht. Der Pascha liegt im Bad - keinen Laut, Rames! - der Pascha schwimmt in seinem Blut!'
Gott ist der Allverzeihende! Ein freudiger Schreck fuhr mir durch alle Glieder. Wie der Wind flog ich die Treppen hinauf - ich kannte den Bau in allen Winkeln - auf den Zehen. Es war noch tiefe Nacht; kaum dämmerte der Morgen in den Gängen. Im Vorsaal des Badezimmers brannte eine hängende Lampe, mit rotem Flor verhüllt. Die Purpurteppiche vor der Tür hingen lose herab. Ich schlug sie auf. Wenn es mein Tod gewesen wäre, ich konnte es nicht lassen. Ein roter Lichtstreif fiel auf das Marmorbecken. Das Wasser war schwarzrot gestreift. Ein nackter Arm hing über den vorderen Rand der steinernen Schale; auf dem hinteren lag der Kopf: ein Auge auf der rechten Wange, der Mund bis an das linke Ohr geschlitzt, ein Stich im Hals. Das Gesicht war einer Teufelsmaske ähnlicher als einem Menschenantlitz, aber voller Leben. Der Schnitt machte, daß es zu lachen schien: eine fette, blutige Fratze. Alles ringsumher war todesstill. Ich sehe noch, wenn ich die Augen schließe, die bleiche Larve, die mich aus der Badewanne anstarrte, das Dunkel der reichgeschmückten Kammer mit ihrem Stalaktitendom, den roten Streifen Licht, der von außen in die schwüle Stille fiel. Er war tot, Allah sei gepriesen, steintot; aber der Afrit wollte seine Wohnung noch nicht verlassen; der regte sich noch in ihm.
Da hörte ich ein Geräusch im Vorsaal, leise Stimmen, die sich riefen. Ich wandte mich und flog die Treppen hinunter in meinen Stall. Ich wußte kaum, was ich tat, aber während ich El Dogan sattelte, kam mir die Ruhe wieder. Ich führte das Pferd durch die Hintertür des Marstalls ins Freie und am Zügel den Fußpfad am Nil entlang. Dort, am Ufer, saß ein kleines Männchen ohne Turban. Es war der Astrologe, zitternd wie Espenlaub.
'Was machst du hier, Soliman ben Aschraf?' fragte ich ihn.
'Weißt du es nicht?' fragte er. 'Sie haben Sukki Bey, den Leibarzt, eingesperrt und werden mich ermorden. Sie suchen mich, um mich zu töten. Alle, die wissen, daß er tot ist, müssen sterben. Es ist aus mit uns.'
'Mit mir noch lange nicht!' rief ich, schwang mich auf den Falken und ließ ihn laufen, laufen, wie er noch nie zuvor gelaufen war. Ich war sicher genug auf dem Wege nach Kairo. Ich dachte an dich, o Halim. Du hattest mich als kleinen Jungen vor dem toten Manne gerettet. Nun wollte ich auch etwas retten, ich wußte kaum was und wie. Aber bei Gott ist keine gute Tat verloren. Der Morgenwind machte mich ruhiger, und als ich nach zwei Stunden Schubra erreichte, wußte ich, was ich wollte. Allahbuk, wie er lief! In zwei Stunden von Benha nach Schubra! Ich war wie ein Reiter des Allmächtigen, der mit der heimlichen Kunde durch das Land fliegt, daß die Hand des Allgerechten den König erschlagen hatte."
Rames schwieg wie erschöpft. Halim rauchte lebhafter. Dann begann der Prinz, wie unwillkürlich, mit blitzenden Augen weiterzuerzählen.
"Man rief mich in der Morgendämmerung. Ich hatte auf dem Dach des Hauses geschlafen und sah die Sonne aufgehen über der Abbasiye und der nahen Wüste. Ich dachte, wie lange ich sie noch sehen werde; denn die Nacht des Verhängnisses war in Schubra ohne ein Zeichen vorübergegangen. Wir wußten nicht, wann das Schwert fallen und wen es treffen sollte. Der Tag lag vor mir in blutroter Stille, als man mich rief. Ein Mann war im Garten. Ich fand Rames, von Staub und Schweiß bedeckt, so daß ich ihn kaum erkannte. Er grüßte mich, wie er seinen Herrn zu grüßen gezwungen war, und sagte so leise, daß ich es kaum hören konnte: 'Gott ist gerecht! Dein Neffe liegt tot in seinem Bad zu Benha.' Glauben Sie, daß es meiner Seele einen Stoß gab, den ich noch nach Wochen spürte? Aber konnte ich dem Mamelucken trauen? War es eine List Abbas Paschas - er war schlau wie ein Affe -, um mich zu einem Wort, zu einem Schritt zu verleiten, der mich in seinen erhobenen Dolch stürzen mußte? Ich sprach: 'Gott tut, was er will!' und hieß Rames nach Benha zurückreiten, so schnell, als ihn El Dogan tragen könne. Man dürfe nicht wissen, daß ich die Kunde empfangen habe. Dann ging ich nach der Gabeleia, setzte mich unter eine Tamariske und überlegte.
Said Pascha sollte an diesem Morgen von Alexandrien abreisen; in einer Stunde konnte er an Bord sein. Er war der rechtmäßige Nachfolger Abbas Paschas. Hatte Rames nicht gelogen, so war das Land ohne Herrn, wenn Said es verließ. Was Elfy Bey und seine Freunde in diesem Falle zu tun gewillt waren, war nicht schwer zu erraten. Der kleine Il Hami ben Abbas war in Damiette, das war ein Glück. Aber Elfy und der Ulema waren entschlossene, ehrgeizige Leute und zauderten nicht, wenn die Gefahr ihnen an die Kehle griff. So weit kannte ich die Herren, die mein Neffe um sich hatte.
Said mußte um jeden Preis aufgehalten werden und die Gewalt in die Hand nehmen, ehe es andre taten. Ein Telegramm hätte ihn erreicht. Aber wie konnte ich es wagen, zu telegraphieren, was ich hoffte, was ich aber selbst nur halb glaubte? Doch es mußte sein. Ehe ich den Schatten der Tamariske verließ, war meine Depesche geschrieben und auf dem Wege nach dem englischen Telegraphenbureau in Kairo. Dort war es wenigstens sicher, abgesandt zu werden. 'Das Haus in Kairo, das du suchst, ist leer. Die Tür steht offen. Tritt ein!' Das mußte er verstehen, wenn er der Sohn seines Vaters war. Er verstand es.
Später erzählte er mir, daß er, eben im Begriff nach dem Hafen zu reiten, die Depesche noch am Tor des Palastes erhielt. Statt weiterzugehen, setzte er sich, wie ich, im Garten des Ras el Tin unter eine Tamariske und ließ den französischen Dampfer, auf dem für ihn und sein Gefolge Plätze gesichert waren, zum Hafen hinausfahren, und als der Rauch des Schiffs am Horizont verschwunden war, hatte er die Lage der Dinge begriffen, schickte zum Gouverneur von Alexandrien, erbat sich dreißig Reiter und ritt noch am Abend über Damanur in der Richtung nach Kairo davon. Als er aber nach einem Ritt von hundertundzwanzig Kilometern in früher Morgenstunde durch Benha kam, hörte er, daß Abbas, der Vizekönig, am Abend zuvor mit Elfy Bey und dem Ulema abgereist sei, um nach der Abbasiye zurückzukehren. Die Effendis und Katibs der Stadt waren voll Rühmens, mit welchem Gepränge Seine Hoheit diesmal gereist sei; er habe sogar die vergoldete Staatskutsche benutzt, die seit Mohammed Alis Zeiten hier gestanden habe. Said erschrak. Wie konnte er sich das zusammenreimen? War das Telegramm eine Falle? Hatte er es vielleicht doch mißverstanden? Er blieb mit seinen Reitern den Tag über in Benha, nachdem er den Telegraphisten der Bahn ins Schloß geladen und ohne Federlesens eingesperrt hatte. Hätte er gewußt, daß Sukki Bey, der Leibarzt, im gleichen Keller, in einem andern Flügel, gefangen lag! Der eine sollte nichts von Abbas, der andre nichts von Said verraten können.
So wartete er, bis es Nacht war, und dachte nach. Dann erst ritt er mit seinen Leuten weiter."
"Auch in Schubra gab mir der Tag genug zu denken", fuhr Halim fort, nachdem wir schweigend wieder ein Täßchen Kaffee geschlürft hatten. "Nachmittags sandte der Scheich von Kaliub, der mir ergeben war, einen Läufer mit der Nachricht, der Vizekönig mit großem Gefolge komme soeben von Benha und sei, wie man höre, auf dem Wege nach der Abbasiye. Um fünf Uhr etwa mußte er auf der Straße nach Kairo durch Schubra kommen. So hatte mich also Rames belogen! Ein echter Mameluck! 'Schlangen sind sie alle', dachte ich bei mir und bereitete mich vor, den Vizekönig, wie es Sitte war, am Palasttor zu begrüßen, wenn er nicht eintreten wollte. Ehe ich jedoch meine Staatskleidung angelegt hatte, wurden mir zwei Mamelucken Abbas Paschas gemeldet, die dem Zug vorausgeritten waren. Sie hatten den Auftrag, mir zu sagen, daß Seine Hoheit, mein Neffe, mich grüßen lasse, aber nicht wünsche, gestört zu werden. Er habe Eile, die Abbasiye noch bei guter Stunde zu erreichen, da er etwas unpäßlich sei. Ich ließ die Burschen zu mir bringen. Der eine war Rames. Diese Frechheit! Und während der andre seine Botschaft ausrichtete, stand dieser mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen hinter ihm. Dies war nicht natürlich. War es ein Zeichen? Was sollte es bedeuten?
Gegen Mitternacht des folgenden Tages kam Said, mein Bruder, mit seinen dreißig Reitern ebenfalls aus Benha. Ich versteckte sie, so gut es ging, in den Ställen und Schuppen des Landguts. Wir wußten, daß wir um unsre Köpfe spielten, denn es war sicher, daß der Vizekönig durch Kairo gefahren war. Ich hatte ein paar zuverlässige Fellachen dorthin geschickt. Sie berichteten, daß er mit großem Gefolge über die Esbekieh nach dem Bab el Nasir gezogen und gegen neun Uhr fränkischer Zeit in der Abbasiye angekommen sei. Zweifelnd berieten wir uns die ganze Nacht; die Fürstin, meine Mutter, wachte mit uns. Sie allein war ruhig. 'Weshalb', sprach sie, 'hat der Mameluck Rames die Augen geschlossen? Er ist tot.' Aber Hunderte hatten ihn durch Kairo fahren sehen; und er habe ihnen herablassender als gewöhnlich zugenickt, versicherten die Fellachen."
Halim schwieg, und nun begann Rames wieder, tonlos in sich hineinsprechend, wie wenn er einen Traum erzählte:
"Bei Gott, dem Allbarmherzigen, es war eine Fahrt! Ich war um zehn Uhr morgens wieder in Benha eingetroffen. Nur ein Pferd in der ganzen Welt konnte das tun, El Dogan! Niemand hatte nach den Ställen gesehen: so konnte ich unbeachtet wieder hineinschlüpfen. Aber es war die höchste Zeit. Zehn Minuten später suchte man nach mir; man rief die zwölf Leibmamelucken des Paschas zusammen. Zwei waren spurlos verschwunden: Hassan und Hussein. Nach ihnen wurde nicht gesucht; niemand schien sich über ihre Abwesenheit zu wundern. Auch zwei Pferde fehlten, aber auch nach den Tieren fragte niemand. Über dem ganzen Hause lag es wie eine Betäubung.
Die Mamelucken fanden sich in der Vorhalle vor dem Badezimmer zusammen. Wir warteten, ohne zu sprechen. Als die zehne vollzählig waren, traten Elfy Bey und der Ulema zu uns. Sie befahlen uns, das Glaubensbekenntnis dreimal zu wiederholen. Dann mußten wir beim gerecht strafenden, allwissenden Gott schwören, keinem sterblichen Menschen, keinem Tier, keinem toten Dinge, auch nicht einer dem andern zu sagen, was wir sehen werden. Der Ulema sprach die Worte vor. Jeder mußte sie nachsprechen 'Und wer von euch eine Silbe verrät', sagte Elfy Bey zum Schluß, 'dem werde ich mit eigner Hand die Zunge ausreißen, und sein Leib soll vor der Moschee Sultan Hassans lebendig gepfählt werden. Das schwöre ich, Elfy Bey, beim einigen Gott.' Dann sagte er den andern, was ich wußte.
Sedls von uns mußten ihn aus dem Bad heben - er war in Stücken- und die Stücke kleiden. Ich und die drei übrigen hatten die Staatskutsche Mohammed Alis aus dem Schuppen zu holen, säubern zu lassen und mit vier weißen Hengsten zu bespannen. Dann wurde das ganze Gefolge benachrichtigt, daß der Pascha um die siebente Stunde aufbrechen werde, um nach der Abbasiye zu fahren.
Ich hatte die Kutsche an das Harimstor zu bringen. Während ich sodann meine eignen Sachen zusammenraffte und sechs Pferde satteln ließ - El Dogan für mich -, hatten sie ihn hineingesetzt, aufrecht, in prächtigem Staatskleid, den Turban mit einem Schleier bedeckt, einen reichgestickten Litam (12)· nach Beduinenart über den unteren Teil des Gesichts gebunden, als wollte er sich vor dem Staub schützen. Neben ihm saß der Ulema und stützte ihn, auf dem Vordersitze Elfy Bey und sein getreuer Freund, der oberste der Eunuchen, der ihn hielt, wenn er bei einem Stoß des Wagens nach vorne fallen wollte. Zwei von uns saßen auf dem Kutschbock, zwei standen hinten, nach französischer Art, auf dem Brett für die Diener. Die sechs Berittenen umgaben den Wagen. So zogen wir aus. In den Dörfern, durch die wir kamen, standen die Fellachen, segneten den Propheten und begrüßten den Herrn, dessen Wink für sie Leben und Tod war - - gewesen war.
Und so ging es um die erste Stunde der Nacht durch Kairo. Auch hier grüßte uns die hundertköpfige Menge lautlos, wie es Sitte ist, und sah ihren Herrscher schwankend zwischen seinen Begleitern, todbleich trotz des roten Scheins der Fackeln, die wir, wie gewöhnlich bei seinen Nachtfahrten, neben dem Wagen hertrugen. Die Stille war ehrfurchtsvoller, schwüler als sonst. Es war, als ob sie ahnten, was sie sahen. Doch ging alles gut. Er ist krank, sagten sie sich; keiner merkte die Wahrheit. Als wir das Bab el Nasir hinter uns hatten und in der Wüste wieder langsam durch den tiefen Sand fuhren, pries der Ulema Gott und ließ den Pascha fallen. Elfy wurde grob, nach Soldatenart, schimpfte den alten Herrn kräftig und richtete die Leiche wieder auf. Ich habe das selbst gesehen.
Das geschah aber alles, um Zeit zu gewinnen. Il Hami, den der Ulema 'mein Söhnchen' nannte, obgleich er schon ein großer Junge war, befand sich in Damiette. Man hatte ihn wegen seiner schwachen Gesundheit nach Syrien schicken wollen. Er sollte nun so rasch als möglich nach Kairo zurückgebracht werden, um dort auf der Zitadelle den Truppen und sodann in der Stadt dem Volke als ihr neuer Vizekönig gezeigt zu werden. Alles übrige wollte Elfy besorgen, der schon als Knabe geholfen hatte, die Mameluckenfürsten des großen Paschas abzuschlachten. Er hätte sich jetzt ebensowenig gescheut, die Hand an seine Söhne zu legen, wenn es Gott zugelassen hätte. Gelang der Plan, so waren er und seine Freunde Herr von Ägypten, solange es ihnen beliebte und sie das Kind in Händen hatten.
In Kairo verliefen die folgenden Tage wie jeder andere. Man war es gewohnt und zufrieden, wenn sich der Vizekönig, wie er es häufig tat, wochenlang in der Abbasiye begrub. So kamen friedliche Tage für jedermann, und die Händler und Gewerbsleute taten, was ihnen gut dünkte. Niemand ahnte diesmal, daß kein Herr im Lande war."
"Gegen Abend des zweiten Tages verließ mich die Geduld", fiel Halim Pascha ein, wie wenn ihm Rames Bey zu Iangsam erzählte.
"Auch war es unmöglich, Said und seine Reiter länger zu verstecken. Der Astrologe Soliman ben Aschraf war halb tot und fast verhungert von meinen Leuten am Nilufer gefunden worden. Er war, wie alles andere, auf dem Wege von Benha nach Kairo, um sich zu verbergen. Denn der alte Spitzbube hatte manches auf dem Gewissen, das er nur tragen konnte, solange sein Herr lebte. Ich ließ ihm zu essen und zu trinken geben, und als er wieder sprechen konnte, wollte er mir etliches aus den Sternen weissagen. Ich nahm ihn aber bei den Ohren und wußte bald mehr, als mir die Sterne sagen konnten. Meine Mutter hatte recht gehabt. Rames hatte nicht gelogen.
Ich schickte im Namen des Vizekönigs einen Befehl an den Gouverneur der Zitadelle: um Mitternacht das Tor El Assab für den Herrn Ägyptens zu öffnen. In jener Nacht ritt sodann mein Bruder Said als Vizekönig in die alte Burg ein und ließ am frühen Morgen die Geschütze gegen die Abbasiye und gegen die Kasernen in der Stadt richten. Es war eine unnötige Vorsicht. In derselben Nacht war Prinz Il Hami aus Damiette zurückgekommen, und schon am frühen Morgen stand der Ulema vor dem Tor der Zitadelle und begehrte Einlaß im Namen des Vizekönigs. Man holte Said, und Said empfing den frommen Mann. Der Pascha, mein Bruder, erzählte mir nachher oft, wie er ihn ehrerbietig begrüßt und selbst in den Audienzsaal hineinkomplimentiert habe. Mit entsetztem Erstaunen habe sich der unglückliche Schriftgelehrte niedergelassen und die niedlichste Kaffeeschale auf dem Boden zerbrochen, so habe er gezittert. Doch Said, der zu jener Zeit ein freundliches und fröhliches Herz hatte, das nichts verstimmen konnte, lachte ihn aus und schickte ihn mit abgeschnittenem Bart zu Elfy Bey zurück, dem er sagen ließ: er möge sich beruhigen; das Spiel sei ausgespielt. Eine Stunde später erschoß sich der Kriegsminister. Er war kein Moslim, der sich beugt, wenn Gottes Hand ihn niederdrückt. Und auch der Ulema starb aus Gram. Er konnte den abgeschnittenen Bart nicht verschmerzen, obgleich ihn Said zu trösten suchte und ihn bei jeder Begegnung auf den Willen Gottes hinwies, der die Bärte abschneidet, wem er will."
"Und El Dogan hast du vergessen?" fragte Rames Bey in vorwurfsvollem Ton, als Halim schwieg und sich behaglich in seine Kissen zurücklehnte.
"Und dich, o Mameluck der Mamelucken!" lachte der Prinz. "Du hast recht. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Sobald die Pistole Elfys ausgeraucht hatte, saß der Unglücksrabe wieder auf seinem Liebling und jagte nach Schubra. Ich nahm sie auf, wie sie es verdienten, Pferd und Reiter, und solange sie leben, sollen sie unter meinem Dache wohnen, was auch kommen mag. Rames Bey hat mir dieses Versprechen bezahlt, als er mich vor sechs Jahren bei Kassr-Seyat mitten aus meinen ertrinkenden Vettern und Brüdern herausfischte. El Dogan - ja, Herr Eyth, das ist eine kuriose Geschichte - bezahlt es täglich, heute noch."
"Wie habe ich das zu verstehen, Hoheit?" fragte ich.
"Sie werden lachen; manchmal lache ich selbst. - Ich ritt das Pferd in jener unruhigen Woche zum erstenmal. Wahrhaftig, es ist die Perle der Koschlanis! Ich ritt mit meinem ganzen Hofe zur Zitadelle, um Said als meinen Herrn zu begrüßen. Er war wie ein großes Kind, voll guter Wünsche für uns alle, voll schöner Vorsätze für das Land, und wir freuten uns mit ihm. Man konnte wieder aufatmen.
Als ich abends zurückkehrte und an der Moschee von Sultan Hassan vorüberritt, saß dort ein Bettler, ein zerlumpter Derwisch. Er lief herbei und küßte meinen Steigbügel. Ich warf ihm ein Geldstück zu; er segnete El Dogan und sprach:
'Du reitest auf dem Pferde deines Glücks, o Pascha, Sohn des großen Paschas! Mein Herr! Und du, o Dogan, trägst das Glück des Volks und den Segen der Zukunft.'
'Woher weißt du seinen Namen, o Derwisch?' fragte ich verwundert. Ich liebe das Derwischgeschwätz nicht allzusehr.
'Weißt du nicht, daß die Sterne sprechen?' antwortete er. Da erkannte ich Abbas Paschas Astrologen und wollte ihm einen Tritt geben. Der Spitzbube hätte ihn reichlich verdient.
'Trete den Wurm nicht, o Fürst, der im Staube liegt', sagte er, nachdem er sich mit großer Behendigkeit durch einen Sprung aus dem Bereich meines Steigbügels gestellt hatte. 'Und pflege El Dogan, hüte El Dogan! Er trägt dein Glück und dein Leben!' Es war der Unsinn eines Narren. Allein - que voulez-vous? - ich ritt nachdenklicher, als ich gekommen war, nach Schubra zurück."
"Und du weißt jetzt, o Baschmahandi, was du getan hast", sagte Rames Bey.
Wären wir zu Berlin gesessen Unter den Linden, oder zu Paris auf dem Boulevard des Italiens, fast denselben Sternenhimmel über uns, so hätte ich gedacht: 'Ich weiß, daß ihr alle arme, abergläubische Narren seid, die sich von Bettlern regieren lassen!' Hier aber fühlte ich den Gedanken nur wie aus weiter Ferne und wie einen unangenehmen Mißton. Halims Augen, die, während er erzählte, meist halb geschlossen und wie verschleiert gewesen waren, sahen wieder klar und munter in den vollen Mond hinauf, auf dem man Berge und Täler unterscheiden konnte wie auf einer guten Landkarte. Ein feines Lächeln spielte um seinen Mund, die Ironie des Mannes, der seine eigenen Schwächen liebt und verspottet. Dann sah er auf die Uhr.
"Jetzt ist es geschehen, Herr Eyth, wenn unsere Schriftgelehrten die Wahrheit sagen. Jetzt hat Allah mit eigner Hand den Baum des Lebens geschüttelt, und mein Blatt, oder das Ihre, oder Rames Beys, oder alle drei sind zur Erde geflattert. Dann war dies unsre letzte Nacht des Nuß min Schaaban. Möchten Sie nicht unter dem Baume suchen? Jetzt zählt er die Blätter. Allah ist rasch im Zusammenrechnen. Sie lachen?"
"Ich lache nicht, Hoheit, sagte ich. "Die Poesie des Todes ist nicht zum Lachen, welche Form sie auch annimmt."
"Und die Wirklichkeit des Lebens auch nicht, die stündlich so nah am Tode vorbeistreift", sagte er. "In solchen Nächten packt uns der Kinderglaube. Sie haben auch den Ihren, denke ich mir. Übrigens - es ist Zeit! - gehen wir schlafen!"
Wir standen auf. Die Mamelucken stürzten herbei, um Rauchzeug und Kissen wegzutragen. Ein kurzes "Gute Nacht", eine Verbeugung orientalischen Stils, bei der ich mir diesmal besondere Mühe gab, - dann ging ich nach meinem Zelt.
Unter der aufgeschlagenen Zelttüre blieb ich noch kurze Zeit stehen und sah mich um. Das Bild der einsamen, mondstrahlenden Nacht wollte mich nicht loslassen. Ich sah Rames Bey, der zwölf Schritte von Halims Zelt einen kleinen Teppich sorgfältig auf den Boden breitete und dann verschwand. Nach einigen Minuten trat Halim aus seinem Zelt auf den Teppich zu. Er ging in Strümpfen und hatte den Stambulrock abgelegt. So betrat er den Teppich und stand feierlich, die Daumen der offenen Hände an die Ohren haltend, gegen Osten gewendet. Es war kein Zweifel: Halim Pascha tat, was ich ihn in Schubra nie hatte tun sehen: er betete. Scheinbar allein in der Welt ging er durch die eigentümlichen Zeremonien des Esche (des Nachtgebets), sich verbeugend, auf den Knien liegend, den Teppich mit der Stirn berührend, dann wieder aufstehend und zum zweitenmal den Kopf bis zur Erde beugend, alles mit der ruhigen, sanften Feierlichkeit, die aus dem betenden Araber ein Bild des Friedens und der Ergebung macht. Die halbeuropäische Tracht trug allerdings nicht dazu bei, diesen Eindruck zu verstärken. Aber sie störte kaum. Es war, als ob die ganze Natur mit der betenden Gestalt verschmelzen wollte und sie heiligte.
Wo bringt sie sie nur immer wieder her, diese Töne der Ruhe und des Friedens in einer Welt voll ruheloser Arbeit, voll kleinlicher Sorgen, voll häßlichen Kampfes?

ALLAHUH!

Mit dem Gefühl, daß ich für heute genug erlebt und gehört habe, ließ ich den Vorhang meines Zeltes fallen und suchte bei Streichholzbeleuchtung in dem aufgerissenen Koffer nach Papierlaterne, Drahtstift und Bindfaden, Dinge, die ich auf allen meinen Kreuz-und-quer-Fahrten mitzuführen gelernt hatte. Der Drahtstift wurde kunstgerecht durch die Leinwand des Zeltdachs gesteckt, Bindfaden und Laterne daran befestigt und bald erstrahlte das Innere meiner Behausung in dem milden, dem sehr milden Licht einer Kerze, welches durch das geölte und teilweise bemalte Papier des "Fanus" drang und wie in einer gotischen Kirche da und dort einen grünen oder roten Streifen auf das Chaos warf, das mich umgab. Nach wenigen Minuten jedoch hatte alles leidliche Form und Gestalt angenommen und sah sogar wohnlich aus für ägyptische Begriffe. Luxuriös stand das frischgemachte Bett auf der Binsenmatte, die ich Halim verdankte, der Koffer bildete einen vortrefflichen Salon-, Eß- und Waschtisch, der Rest der Reisesäcke und Kameltaschen lag aufgeschichtet im Hintergrund, und der Glanzpunkt der Einrichtung, der Schaukelstuhl, lud zu üppigem Lebensgenuß ein. Ein leises Summen entlang dem Zeltdache erinnerte mich allerdings an die Möglichkeit kommender Leiden, und ich begann über einen Plan nachzudenken, wie ich mein Moskitonetz befestigen und ordnungsgemäß aufhängen könnte. Weitere Drahtstifte durchbohrten das Zeltdach. Aber es gelang nicht sofort. Wenn das Netz am einen Ende glücklich befestigt war, kam es am andern, wie von Geisterhänden bewegt, graziös wieder herunter, und die kleinen Teufel, die es umschwärmten, um sich beizeiten auf der richtigen Seite des verhaßten Gewebes zu befinden, schienen laut und vergnügt zu zischen. Doch Ungeduld half nicht weiter. Ich wußte, daß meine Seelenruhe für die nächsten sechs Stunden an diesem Netze hing, zog meinen Rock aus und begann die Arbeit von neuem.
Während ich, nicht ohne Lebensgefahr auf dem Schaukelstuhl stehend, neue Befestigungspunkte über meinem Kopf konstruierte, fühlte ich, daß der Zeltvorhang sich bewegte, und hörte ein schweres, stöhnendes "Uff!" hinter mir. Es klang düster, gespenstisch, fast nicht menschlich. Der harte, heiße Tag und die gruslige Geschichte von Abbas hatten meinen sonst nicht leicht erregbaren Nerven vielleicht über Gebühr zugesetzt. Oder war es die Sumpffieberluft, an der es in Kassr-Schech nicht fehlte? Es rieselte mir kalt den Rücken herauf, während ein heißer Lufthauch über meine feuchte Stirne zog.
"Uff stöhnte es wieder, tiefer, herzbeklemmender als zuvor.
Ich sprang mit einem kühnen Satz vom Schaukelstuhl, auf die Gefahr hin, auf der Nase zu landen. Ein langes Gespenst stand im Zelt, in einen weißen Kaftan gehüllt, der auf dem Boden schleifte, und keuchte zum drittenmal "Uff!"
Aber es war nicht mehr gefährlich; es war Rames Bey. "Baschmahandi", begann er mit schmerzlicher Heftigkeit flüsternd, "hast du Wein mitgebracht? Ich verdurste."
Wie das Tirolerdeutsch kennt das Arabische kein "Sie". Wenn Rames Französisch mit mir sprach, ließ er es an Höflichkeit nicht fehlen. Sooft ihn aber etwas tief bewegte, fiel er hilflos in die Landessprache zurück, in der wir uns selbstverständlich duzten.
"Wein, o Bey?" antwortete ich erleichtert und ebenf alls flüsternd, denn es war nicht nötig, das Lager zu alarmieren, wenn es sich hierum handelte. "Wein suchst du? Bist du ein Gläubiger, o Rames?"
"Ich verdurste", versicherte der Bey und deutete mit dem Daumen vorwurfsvoll über die Schulter. "So ist er nun einmal. Hast du in Schubra jemals mit ihm gegessen, ohne daß er dir Wein vorsetzte? Und in Wien und in Paris gewöhnte er mich förmlich daran. Soll man jetzt in dieser trockenen Wüstenluft zugrunde gehen? Ich bitte dich bei dem Allbarmherzigen, gib mir einen Schluck Wein!"
"Heute, o Bey, in der heiligen Nacht des Verhängnisses?"
"Die Stunde ist vorüber; der Lotosbaum ist geschüttelt. Liegt mein Blatt am Boden, so hilft alles nichts mehr", belehrte mich Rames.
"Und wenn du keinen Wein hier hast und kein Erbarmen, so fällt es noch nachträglich zur Erde. Suche! Öffne deinen Koffer! Der Allgütige wird dich segnen."
"Bist du des Kuckucks? Wenn man dich erwischt!" mahnte ich mit einiger Besorgnis.
"Wir sind auf Reisen - ich bin krank; und mehr als all das: die Tore der Buße stehen dem Gläubigen offen zu jeder Zeit. Vorläufig aber muß ich etwas zu trinken haben." Ein Lichtstrahl erhellte sein Gesicht. Er hatte sich selbst an den Koffer gemacht und eine der zwei Flaschen Ungarwein gefunden, die in einem Winkel desselben geborgen lagen. Aus der unerschöpflichen Tiefe seiner Beinkleider erschien mit erstaunlicher Geschwindigkeit ein Korkzieher.
Die Szene war mir weder überraschend noch neu. Rames Bey war kein Fanatiker seines Glaubens und hatte nicht zum erstenmal Trost und Stärkung bei mir gesucht, wenn ihm sein Adjutantendienst zu trocken oder zu heiß wurde.
"Gut!" sagte ich, brachte eine Teetasse und ein Weinglas hervor und wandelte den Koffer wieder in einen Tisch um. "Setze dich, Rames. Ich bin gerne bereit, wenn es dein Gewissen erlaubt, ein Gläschen mit dir zu trinken. Es war heute staubig und schwül genug. Setze dich!"
Er betrachtete den Schaukelstuhl mit mißtrauischer Miene. Dann warf er sich dröhnend auf mein Bett, griff nach der Teetasse und schlürfte das verbotene Getränk mit unendlichem Behagen.
"Gut, sehr gut", schmunzelte er mit dem Gesicht eines Schuljungen, der Äpfel stiehlt. "Warum ließ Allah Reben wachsen und will sie seinen Gläubigen entziehen? Sind wir Narren oder Wachabiten? Wer weiß, ob unsre Schriftgelehrten den Koran richtig verstehen. Er gibt uns die Wahrheit, aber wir müssen sie deuten. Schenke mir noch ein wenig ein, mein Bruder!"
Für einen Riesen wie Rames Bey war eine Teetasse Ungarwein allerdings keine Völlerei. Ich füllte seine Tasse und mein Glas wieder und setzte mich in den Schaukelstuhl, während sich Rames zurücklegte, wie wenn er die Nacht trinkend bei mir zuzubringen gedächte. Sein Gesicht wurde ernst, wie es gewöhnlich war.
"Du hast heute mehr gehört, als der Prinz den Fremden zu erzählen liebt", sagte er nachdenklich, "aber doch nur die Hälfte."
"Willst du mir die andre Hälfte erzählen?" fragte ich mit erwachender Neugier.
"Willst du mir ein klein wenig Wein geben, mein Bester? " fragte er.
Ich füllte seine Tasse zum drittenmal. Die Flasche war schon über die Hälfte leer. Er warf einen prüfenden Blick auf ihren Inhalt.
"Setze dich näher zu mir", sagte er. "Es geht nicht, von diesen Dingen laut zu sprechen. O Allah, wie bist du gütig in allem, was du geschaffen hast!" Damit setzte er die dritte Tasse an den Mund, warf sich auf das Bett zurück, sah mit starren Augen an die Zeltdecke und begann zu erzählen, einförmig, flüsternd, wie wenn er aus einem Buche läse. Ich saß in dem Schaukelstuhl, mit gespannter Aufmerksamkeit lauschend. Es war nicht leicht, ihn zu verstehen, und es ist nicht unmöglich, daß ich ihn da und dort mißverstanden habe. Aber ganz unmöglich ist es, in seiner Sprache wiederzugeben, was er mir mitteilte, den düsteren Zauber dieser fremden Welt hervorzurufen, die in fast unartikulierten Lauten jener Nacht mich umspann. Er sprach meist Französisch, das Französisch eines ägyptischen Mamelucken. Dazwischen, wenn er in Eifer geriet, kamen lange arabische Sätze, dann türkische Worte und hier und da ein Ausruf, fremd und wild, der im Kaukasus verstanden worden wäre. Ich suche zu geben, was vom Wesentlichen seiner Erzählung mir in der Erinnerung haftet, und übersetze, so gut es geht, was unübersetzbar bleiben wird. Denn was auch die Gelehrten schreiben mögen, der Westen und der Osten sprechen keine Sprache, die beide verstehen.
"Sie kennen die Geschichte Mohammed Alis", begann er, "des großen Vizekönigs, des Vaters unseres Herrn, wie er klein nach Ägypten kam, ein großes Reich eroberte und die Welt bis gen Stambul erschütterte. Doch als er starb, hinterließ er nichts als ein erschöpftes Land. So war es mit allem, was er besessen hatte; - nach dem Willen Gottes. Von der Schar seiner Kinder lebten nur noch sieben, fünf Söhne und zwei Töchter. Dazu war der älteste, Ibrahim, der gewaltige Feldherr, nicht sein Sohn. Das wußte alle Welt, wenn man es auch nicht zu hören liebt. Denn unser heutiger Vizekönig, Ismael Pascha, ist dessen Sohn. Ibrahim aber war nur der Stiefsohn des großen Paschas und hat nicht einen Tropfen vom Blute Mohammed Alis in seinen Adern. Ebensowenig hat Ismael. Aber Gott gibt die Macht, wem er will.
Mohammed Ali, Friede sei mit ihm, litt nicht an einem allzu weichen Herzen. Aber er liebte Tussun, seinen ältesten Sohn, wie er keinen andern geliebt hat. Dies war sehr merkwürdig, denn Tussun war sanft, griff lieber nach Büchern als nach dem Schwert und konnte seinen Feinden nichts zuleide tun. Trotzdem war er tapfer, wenn es seine Pflicht gebot, und focht in Syrien und Arabien gleich jedem andern wackeren Moslim. Ob er an der Pest starb, wie die einen glauben, die erzählen, daß er von einer schönen Griechin nicht lassen wollte, die sterbend in seinen Armen lag, oder an einem Trunke Scherbet, der allzu süß war, das weiß nur Gott und Ibrahim Pascha, sein Stiefbruder, der ihn haßte. Niemand wagte, dem Vater die Nachricht vom Tode seines Lieblings zu bringen. So legten sie die Leiche vor das Schlafgemach des Vizekönigs, daß er sie finden mußte, wenn er des Morgens aus dem Harim trat. Der starke, trotzige Mann, der nichts geliebt zu haben schien als seine Macht, brach zusammen wie ein Weib. Selbst die, die ihm den Schrecken bereitet und den Toten vor seine Türe gelegt hatten, entgingen der Strafe. Er selbst wurde fünf Tage lang von niemand gesehen. Dann kam er wieder zum Vorschein, ruhig und finster wie die Mitternacht, und befahl, den kleinen Sohn Tussuns aus dem verwaisten Harim seines Sohns in das des Großvaters zu bringen. Das war Abbas, der Knabe, der Abbas Pascha wurde.
Aber auch eine Tochter hatte der große Vizekönig, die er liebte: Zohra. Ganz Kairo spricht heute noch nur flüsternd von ihr, denn sie wurde Zohra Pascha.
Sie war im Alter von Abbas, vielleicht um ein Jahr jünger, und das Spielzeug ihres Vaters. Sie allein durfte ihn am Barte zausen und tanzte für ihn wie eine kleine Gazije, daß ihm die Tränen des Lachens in die Augen traten. Aber das war es nicht, weshalb er sie liebte. Aus ihren blitzenden, kohlschwarzen Augen sah der Vater, wie bei keinem seiner Kinder. Sie war eine Königin von fünf Jahren und herrschte in ihrem kleinen Kreise mit einem Willen von Eisen. Sie war ein Engel, wenn sie lächelte, aber wenn der Zorn sie beherrschte, war sie eine kleine Teufelin. Beides freute ihren Vater. So hatte er sein eisernes Regiment am Nil aufgerichtet, obgleich Tausende sich gegen ihn erhoben hatten. Er wußte, wenn er sie spielen sah, daß sein Ebenbild in dem Mädchen lebte, und er liebte sich selbst in dem Kinde.
Abbas sollte ihr Gespiele sein. Die beiden Kinder waren noch klein genug, um auf ein paar Jahre zusammen erzogen zu werden, und der Pascha wollte sich in den Mußestunden an ihrem Geplauder vergnügen. Aber es ging nicht gut. Abbas war nicht wie sein Vater; er war ein böser, herrischer Junge von klein an. Auch bei ihm zeigte sich der Geist des Großvaters: sein Stolz, seine Herrschsucht, sein Eigenwille, aber nicht die Klugheit und die Selbstbeherrschung, die die Größten groß macht. Schon nach wenigen Tagen maßen sich die Kinder mit feindlichen Blicken. 'Ich bin ein Mann', sagte der Junge und ballte die Faust, wenn man ihm sein liebstes Spielzeug, seinen Dolch, entwand, 'du bist nur ein Mädchen'. 'Ich bin seine Tochter', schrie Zohra, blau vor Zorn, 'du bist nur der Junge meines Bruders!' Mohammed Ali hatte es leichter gefunden, der alten Mameluckenfürsten Herr zu werden, als diese zwei kleinen Feuerteufel zu regieren.
Die gemeinsame Erziehung kam zu einem raschen Abschluß, als eines Tages in den Gärten zu Roda Abbas der Prinzessin das stolze Näschen blutig geschlagen und sie dem Prinzen die Haarlocke ausgerissen hatte, die auf seinem glattrasierten Köpfchen prangte. Beide bluteten, und aus zwei gellenden Kinderkehlen schrie das vergossene Prinzenblut gen Himmel. Diener und Dienerinnen, welche die Katastrophe nicht verhindert hatten, erhielten gebührend die Bastonade. Der kleine Prinz wurde mit einem französischen und einem arabischen Lehrer nach der Militärschule zu Kanka verbannt, mit der Weisung, daß er sich am Hofe nicht mehr zeigen dürfe, bis er lesen und schreiben gelernt habe, wogegen er sich bis jetzt beharrlich gesträubt hatte. Die Prinzessin erhielt eine englisch-französische Gouvernante, die in Paris gefunden worden war. Tatsächlich war Miß O'Donald eine Irländerin, sonst hätte der Pascha sie wohl nicht berufen, denn die Engländer waren nicht seine Freunde, und es wäre klüger gewesen, er hätte sich auch vor den Iren besser gehütet; sich und seine Tochter. Die Europäerin war ein wunderliches Wesen, klug und verschlagen, aber voll Lebenslust und Neugier und Abenteuer. Damals waren noch wenige Frauen des Westens in unsre Harims gedrungen. Sie glaubte, die Geschichten aus Tausendundeine Nacht ließen sich weiterspinnen in unsern Tagen: Manchen Bey und manchen kleinen Pascha führte sie an der Nase herum und merkte kaum, wie gefährlich dies ist. Davon erzählen die alten Mamelucken noch, die zu jener Zeit am Hofe dienten. Die Prinzessin aber wuchs heran, und bald wußte man nicht mehr, wer die Erziehung leitete, die Gouvernante aus Irland oder die kleine Fürstin des Nils. Es war eine Freundschaft! Nur die alten Damen des Harims ärgerten sich und murrten, und die jungen schalten und flüsterten, und schon längst hätte es einen großen Aufruhr gegeben, wenn nicht Zohra ihrem alternden Vater alles vom Mund geküßt hätte, wie ihr bunter Kakadu den Zucker aus ihrem Munde nahm. Viele liebten sie, trotz allem. Sie konnten nicht anders, so schön war sie geworden.
Damals war mein Herr, Halim Pascha, ein kleines Kind, ihr jüngstes Brüderchen. Sie scherzte und spielte mit ihm, und er hielt sie für einen Engel des Paradieses. So kam es, daß er noch heute nichts davon hören kann, was man von ihr erzählt, obgleich sie hinging, von wo kein Wiederkehren ist. Nicht ihr Leib. Der Allbarmherzige sei ihr gnädig. Er weiß, ob ihre Feuerseele Ruhe gefunden hat. Die ist dahin für immer.
So verflossen acht Jahre. Abbas hatte lesen und schreiben gelernt und war längst wieder in Kairo. Auch hatte er jetzt sein eigenes Haus und Harim und war schlau genug, die Gunst seines Großvaters, der ihn mit kindischen Liebesbeweisen überhäufte, so rasch nicht wieder aufs Spiel zu setzen. Es rächte sich alte Härte. Der große Mann brauchte ein wenig Liebe in seinen letzten Jahren und wußte nicht, wo er sie suchen sollte. Da ereignete sich etwas Entsetzliches, von dem nur wenige Mamelucken und Eunuchen so viel erfahren haben wie ich. Denn damals schon gehörte ich zu Abbas Hause, und da ich ein allzu kleiner Junge war, achtete niemand darauf, daß ich mehr hörte, als gut für mich gewesen ist.
Es war das Fest der Hassanen, an dem sich Tausende in der Moschee des heiligen Märtyrers Hussein versammeln, um vor dem Schrein zu beten, in dem der Kopf des Helden Allahs begraben liegt. Besonders kommen Frauen. Das ist eine alte Sitte, wie du weißt, denn du hast sicher das Heiligtum auch besucht, obgleich du dich noch weigerst, den Propheten zu segnen. Gib mir noch etwas Wein, o Bruder! Die Geschichte macht mir warm! Uff!"
Ich füllte seine Tasse bis zum Rand und schmuggelte mit Taschenspielergeschicklichkeit die zweite und letzte Flasche, die ich besaß, aus dem Koffer. Er tat, als ob er nichts bemerkte, brummte befriedigt und fuhr fort:
"Frauen können es nicht lassen, den Helden des Glaubens nachzulaufen, in dieser und in jener Welt. Um die dritte und vierte Nachtstunde des großen Festes der Mulid el Hassanen wimmelte deshalb auch die Moschee der Heiligen, so daß die Derwische kaum Raum finden für ihre Sikrs, und das Allahu und das Geschrei den toten Krieger Gottes wecken könnten. Mitten im Gedränge war auch die Prinzessin Zohra mit ihrer Gouvernante und zwei Eunuchen des vizeköniglichen Harims. Auch sie wollte beten, denn sie verehrte die Helden mehr als den Propheten, der doch der erste aller Helden ist. Die Leute wichen aus, so gut es ging, aber es gelang den Eunuchen nur schlecht, Platz für die Damen zu machen. Wenn der Geist der Derwische die Menge packt, ist ihr eine Prinzessin wie ein anderes Weib. Da plötzlich erhob sich ein furchtbares Geschrei und Getümmel. Sie hatten einen Christen entdeckt, der in die Moschee geschlichen war. Heute ist es anders. Damals war es noch ein großes Verbrechen und eine Entheiligung, wenn ein Ungläubiger sich dem Schrein Husseins näherte. Hunderte Stöcke erhoben sich, Messer funkelten, Flinten gingen los. Es war ein großer blonder Mann, der gegen eine Säule lehnte und, wie ein Wolf von Schakalen umringt, sein Leben zu verteidigen hatte. Der Turban war ihm abgefallen. Das blonde Haar zeigte jedem, daß er aus dem Norden und ein Nusrani (13) war. Er hatte eine nagelbeschlagene Keule in der Hand, die er einem daliegenden Derwisch entrissen hatte. Zwei andre stürzten heulend zu Boden. Aber sie drängten von hinten, namentlich die Weiber. Was war der eine gegen Tausende. Er mußte erdrückt werden.
Da erkannte die Gouvernante den Mann und schrie auf. Es war ihr Bruder. Und die Prinzessin verstand alles, wie wenn ein Blitz des Allmächtigen sie erleuchtet hätte; erleuchtet und berückt. Auch sie stieß einen Schrei aus, so laut, so gellend, daß die tolle Menge stillstand, solange sie den Arm ausstreckte. Der junge Engländer aber, den blutenden Kopf gebeugt, gehorchte ihrer drohenden Hand und ging festen Schrittes durch die Menge, die ihm murrend eine Gasse öffnete. Als er verschwunden war, brach das Geheul aus wie ein entfesselter Sturm: 'Allahu! Allahu!' und die Prinzessin warf ihre Arme gen Himmel und rief mit: 'Allahu!' - Das war ihre erste Begegnung.
Auch zwei von den jungen Mamelucken Abbas Beys - er war damals erst Bey - hatten sich in der Moschee befunden. Sie hatten alles mit angesehen und brachten die Geschichte nach Hause. Er sei an der Säule gestanden wie ein wahrhaftiger Deli, ein Krieger aus der Zeit der Helden. Er hätte noch ein Dutzend erschlagen, ehe man ihn überwältigt hätte. Aber eine Schande sei es, daß ihn die Weiber gerettet hätten. Ich dachte ebenso. Abbas ließ sich alles dreimal erzählen und war still wie eine Schlange, die sich zum Sprung zusammenrollt.
Einige von uns wurden auf Kundschaft geschickt. Wir erfuhren, daß er O'Donald hieß. Er war ohne Zweifel der richtige Bruder der Gouvernante. Als Soldat war er mit den Engländern zum erstenmal nach Ägypten gekommen, während sie im Jahre 1840 nach der Belagerung Beiruts unter Napier vor Alexandrien lagen. Damals hatte das Glück den großen Pascha verlassen. Er konnte es nicht hindern, daß seine Feinde Nilwasser tranken, so viel ihnen beliebte. Und nun kamen sie zurück, einer um den andern. Denn wer Nilwasser getrunken hat, sagen die Araber - und sie sagen die Wahrheit -, kommt wieder an den Nil. Der Strom läßt dich nicht mehr los. Du wirst es noch erleben, o Baschmahandi, wenn du uns verlassen solltest. Vielleicht hatte ihm auch seine Schwester geschrieben, die seit einigen Jahren wie die Schwester Zohras gehalten wurde. Kurz, er war nach Alexandrien gekommen und lebte dort seit etlichen Monaten als Beamter der Schiffsgesellschaft, die den Überlandverkehr von dort nach Suez leitete. Er war keiner ihrer großen Kaufmannsfürsten, keineswegs! Aber er war schön und stark, und wenn er seiner Schwester glich, so hatte er heißeres Blut, als seine Landsleute gewöhnlich haben.
Gott weiß, was dann geschah. Er ist der Allwissende und weiß, was er tut; nicht wir. Zohra hätte längst verheiratet sein können, aber ihr Vater verlangte einen Sultan für sie oder den Sohn des Kalifen. Der Schah von Persien wäre ihm zu gering gewesen, und so hatte es sich nicht machen wollen. Denn auch sie dachte wie ihr Vater. Aber nun kam es über sie gleich einem Wirbelwind. Die Liebe verzehrte sie wie ein Feuer. Sie weinte die heißen Nächte durch. Sie biß seine Schwester in die Wange vor Sehnsucht, oder weil diese ihr nicht helfen wollte, ihn zu sehen. Denn die Engländerin erschrak vor solcher Leidenschaft. Immer wieder hatte sie von ihrem Bruder erzählen müssen: wie er als Knabe gelebt, wie er im Sudan Löwen gejagt und in Indien gefochten habe, und jedes Wort begann sie zu bereuen. Denn es war Gift für Zohra. Sie schrieb und warnte ihren Bruder, der nach Alexandrien zurückgekehrt war und bald alles wußte, was mit der Prinzessin vorging. Doch anstatt zu fliehen, ließ sich der Betörte nach Kairo versetzen, wo seine Gesellschaft ein Kaufhaus zu errichten gedachte.
Sie sahen sich wieder in der dritten Nacht des folgenden Beirams. Du weißt, o Baschmahandi, wie in diesen Nächten arm und reich, groß und klein auf die Friedhöfe zieht, um an den Gräbern zu beten und den Toten zum Feste Glück zu wünschen. Im Süden und Norden der Stadt, auf den öden Sandhügeln, wo sonst nur der schrille Jammer der Klageweiber gehört wird oder das Heulen des Schakals, sammelt sich die halbe Stadt im Festschmuck. Es ist ein lustiges Leben. Die Kinder schaukeln mit den Alten, Derwische beten ihre Sikrs, und dazwischen tanzen die Gawasis (14), singen die Almehs und erzählen die Schoara ihre Geschichten. Für die Nacht werden Zelte aufgeschlagen, und das Getümmel wird kaum stiller, ehe die Morgendämmerung über die Felsen des Mokkatam heraufsteigt. Auch Zohra zog mit ihrem Harim nach der Grabstätte ihrer Brüder und Schwestern, und dort, unter der erbleichenden Mondsichel, sahen sie sich wieder.
Ich glaube, sie liebte ihn, wie in alten Zeiten schöne Frauen die Helden des Glaubens geliebt haben, denen Allah einen Vorgeschmack des Paradieses geben wollte. Und auch er mag sie geliebt haben wie ein Wahnsinniger, denn er mußte wissen, daß er sich zwischen nackten Dolchen bewegte und Schlimmerem. Ob sie den Plan hatten zu fliehen oder nur an ihre Liebe dachten, weiß ich nicht; beides war toll."
"Aber, Rames Bey", unterbrach ich den Tscherkessen endlich, denn auch mir wurde die Geschichte zu toll, "wenn das alles auch nicht ganz unmöglich klingt: woher weißt denn du, wie es in Zohras Harim und Herzen aussah? Du warst damals ein kleiner Mameluck, der Abbas Paschas Pfeifen blank hielt. Die Prinzessin hat dir ihre Geheimnisse wohl nicht anvertraut."
"Auch ich weiß es erst seit vier Jahren", antwortete Rames gekränkt. "Halim Pascha hielt sich zum drittenmal damals längere Zeit in Paris auf, und ich durfte ihn begleiten. Eines Tages gingen wir frühmorgens an der Kirche von St. Sulpice vorbei, als die Leute aus ihrer Messe kamen. Da ging ein bleiches großes Frauenzimmer mit schneeweißen Haaren dicht an uns vorüber, und Halim erkannte sie. Es war Lucie O'Donald, die frühere Gouvernante seiner Schwester. Wir liefen ihr nach; wir besuchten sie. Halim wollte ihr Geld geben, aber sie hatte genug, mehr als genug. Sie erzählte ihm aus jenen Tagen des Glücks und des Schreckens, was ich nie zu erfahren erwartet hatte. Aber Gott sieht alles und redet, wann er will. Der Allgegenwärtige lebt in Paris unter den Ungläubigen wie in Musr und offenbart alle Geheimnisse zu seiner Zeit und an seinem Ort! - Ich bitte dich um etwas Wein, o Baschmahandi."
Ich öffnete, um die Gefühle des frommen Mamelucken nicht nutzlos zu verletzen, die zweite Flasche heimlich unter dem Koffer und füllte seine Tasse.
"Das Schicksal rollt seinen harten Weg entlang", fuhr er fort; "es war nicht mehr zu halten. Zohra hatte eine prachtvolle Dahabie (15), das Geschenk ihres Vaters. In der Nacht des Nildurchstichs fuhr sie aus dem festlichen Gedränge der Boote, unter dem Schießen und dem Feuerwerk der Fantasia, die der Vizekönig gab, in die Nacht hinaus gegen Schubra. Der Engländer besaß eines jener langen Boote seiner Landsleute und ruderte wie ein Fisch. Er ruderte in tiefer Nacht dreimal um das Boot der Prinzessin. Sie sang ihm aus dem Fenster der goldglänzenden Kajüte ihre arabischen Liebeslieder, bis sie schluchzte. Auf dem Deck stand seine Schwester, zitternd vor Angst. Denn es war nicht die Nacht für ein solches Abenteuer, mit tausend Lichtern, die auf dem Nil hin und her schwammen wie warnende Geister. Aber sie wußten nicht mehr, was sie taten. Das Feuer hatte beide erfaßt.
Später, und nicht nur einmal, fuhr die Dahabie der Prinzessin in finstrer Nacht von Roda, wo sie einen Garten besaß, den Nil herab über Bulak hinaus. Dort, im Schatten der hohen Dämme, lag sein Boot und schoß wie ein Gespenst über die braune, gurgelnde Flut, wenn sich das einsame Licht zeigte, das in ihrer Kajüte brannte. Ihr Mut wuchs mit der Gefahr: aber dies war allzu gefährlich. Sie war ihrer Dienerinnen sicher und des Eunuchen, der sie begleitete, aber die Schiffer und der Reis (16), obgleich sie fürstlich belohnt wurden, konnten plaudern. Die Wasserfahrten mußten aufhören, und dann fand O'Donald den Weg in den Garten ihres Harims.
"Niemand, selbst wir nicht, wußten, wie Abbas Bey, unser Herr, lauerte. Er hatte die Jahre der Militärschule zu Kanka nicht verschmerzt und glaubte, daß er sie nur Zohra zu verdanken gehabt habe. Er wußte bald mehr als genug. Es lebte damals eine französische Jüdin, Madame Ricochette, in Kairo, die mit Schmuck und Juwelen aus Paris handelte und in allen Harims der Vornehmen aus und ein ging. Abbas kannte das Weib und bezahlte sie mit der Freigebigkeit des Hasses. So erfuhr er, was er zu wissen wünschte.
Und so kam es, daß er mit vier bewaffneten Mamelucken O'Donald am Gartentor des Harims der Prinzessin begegnete, als dieser den Garten im ersten Morgengrauen verließ. Sie hatten stundenlang gewartet. Doch wagte Abbas nicht, einzudringen. Es war das Harim der Tochter seines Großvaters. Von ungeduldiger Wut verzehrt, hielt er vor dem Türchen Wache, das ihm die Jüdin bezeichnet hatte. O'Donald war nicht ohne Waffen. Zwei Mamelucken lagen blutend am Boden, ehe die zwei anderen vor dem wütenden Teufel, wie sie nachher gestanden, die Flucht ergriffen. Abbas, der kein Feigling war, trat ihm entgegen. Aber das Blut des Engländers war in Wallung. Ein Fußtritt schleuderte unsern dicken jungen Herrn in den Graben am Weg. O'Donald ging langsam davon; hinter ihm ein wimmerndes Schlachtfeld.
Er hatte Abbas schwerlich erkannt, aber er wußte, daß alles zu Ende war. Doch hatte er noch heilige Pflichten, ehe er an seine Rettung denken konnte. Er mußte Zohra warnen und seine eigne Schwester retten. In solchen Stunden verwirren sich die Sinne. Nur Allah kann dann helfen. Aber weshalb sollte Allah den Ungläubigen retten? War er nicht frech genug und reif für seine Strafe?
Er wendete sich, nicht zum erstenmal, ebenfalls an die Jüdin, die er als Kaufmann kannte und der er lachend manchen guten Dienst geleistet hatte. Alles ging wunderbar glücklich, wie es ihm schien. Madame Ricochette machte keinerlei Schwierigkeiten, trug seine Botschaft und brachte Antwort. Er mußte Zohra in der kommenden Nacht noch einmal sehen, zum letztenmal; und seine Schwester mußte Kairo mit ihm verlassen. Das war sein Plan, soviel man weiß.
Aber sie sahen sich lebendig nicht wieder. An der Schwelle des Harims, in Zohras Garten, wurde er erschossen. Abbas Bey hatte seinen Großvater benachrichtigt. Dieser hatte ihm sechs Arnauten gegeben, gute, zuverlässige Schützen. Er stellte sie ins Gebüsch an den Weg, den der Engländer kommen mußte, und O'Donald hatte sechs Kugeln im Leib, ehe er am Ende dieser feuerspeienden Gasse zusammenbrach. Dann kam Zohra aus dem Hause wie eine Löwin. Zwei der Arnauten hatten die Leiche schon auf ein Maultier geladen, das ebenfalls im Gebüsch des Gartens stand; denn Abbas war kein schlechter Organisator. Die andern sollten ihn schützen, als er der Prinzessin lachend entgegentrat. Sie hatten keine große Mühe. Zohra stürzte von selbst zu Boden, von einem Afrit gerissen, und mit den Händen im Blut ihres Geliebten wühlend. Solche Frauen werden nicht ohnmächtig wie die euern im Westen.
Aber es kam noch Schlimmeres. Der Teufel in Abbas war munterer geworden wie noch nie zuvor. Er ließ die Leiche des Engländers nach Schubra führen und sah, daß sie dort in einem abgelegenen Felde begraben wurde, aufrecht, mit dem Kopf nach unten, die Füße unbedeckt von Erde. Denn er sprach: 'Allah tue, was ihm gut dünkt! Die Hunde mögen die Füße fressen, die mich getreten haben.' Eine Woche lang ließ er das Feld bewachen. Bei Tag durfte es niemand betreten; bei Nacht hatten Hunde und Schakale eine lustige Zeit. Nach drei Tagen war nichts mehr zu sehen. Du kennst das kleine Feld in der Nähe deines Hauses, hinter Mustapha Beys Garten. Es wächst nichts darauf als Disteln und Stachelkaktus, niemand getraut sich, es auszupflügen. Dort im Boden steht noch heute ein fußloses Gerippe auf dem Kopf. Allah wird dich segnen, wenn du mir noch ein klein wenig Wein gibst, o Baschmahandi!"
Ich nahm selbst einen Schluck.
"Die Gouvernante war in derselben Nacht, nur von zwei Dienerinnen begleitet, nach Alexandrien abgereist und befand sich am folgenden Abend auf dem ersten Schiff, das am nächsten Morgen den Hafen verlassen sollte. Die Prinzessin hatte nach einer Stunde der Betäubung dies angeordnet und sie reichlich mit Geld und kostbaren Steinen versehen. In Alexandrien hatten die Freunde ihres Bruders sie weiterbefördert, so daß nichts ihrer Flucht in den Weg trat. Was in jener Nacht geschehen war, blieb im Dunkeln. Die O'Donalds hatten keine Verwandten von Einfluß, die in Ägypten Nachforschungen anstellen konnten; die englische Gesellschaft wußte genug von der Sache, um zu schweigen. Weder unsre Basare noch eure Zeitungen erfuhren von dem Geschehenen. Was hätten sie auch sagen können? Der junge Engländer hatte sein Leben an seine Liebe gewagt und hatte das Spiel verloren.
Wochenlang war Zohras Geist nicht unter den Lebenden. Sie bemerkte kaum, daß ihre alte Dienerschaft verschwunden war - wohin, können Sie sich denken -, und gewöhnte sich wie ein Kind an die neuen Gesichter. Auch sie hatte ein neues Gesicht: finster, verzerrt vom Schrecken und voll heißer Sehnsucht nach dem, was nicht mehr sein konnte. Einmal, als sie schon ruhiger geworden war, gelang es ihr, in der Abenddämmerung mit zwei Dienerinnen nach dem Felde hinter Mustapha Beys Garten zu fahren. Dort brach es wieder aus. Sie wühlte sich in die Erde. Aber sie wußte nicht, wo er begraben lag; die Hunde hatten ihr Werk getan. Und mit Not und Mühe und laut schluchzend brachten die Dienerinnen sie wieder in die Kutsche und zurück nach ihrem Harim. Sie wurden schwer bestraft. Zohra sah das Feld nie wieder, denn sie wohnte von jetzt an im Palast ihres Vaters und wurde gut bewacht.
Das war um die Zeit, in der der Defterdar Achmed Bey nach seinen blutigen Feldzügen im Sudan wieder nach Kairo zurückgekehrt war. Er kam aus Kordofan. Dort war der dritte Sohn Mohammed Alis, Ismael, von den Arabern, die er zu unterjochen ausgesandt war, hinterlistig überfallen und mit seinen Mamelurken im eigenen Zelt verbrannt worden. Der Defterdar hatte diesen Mord zu rächen und schwur bei dem Allwissenden und Allgerechten, daß zwanzigtausend Köpfe für den einen Kopf des Sohnes Mohammed Alis fallen sollten. Er hielt sein Wort, wie es der Türke hält. Jahrzehnte nachher sprach niemand im Sennar seinen Namen aus, ohne zu zittern. Er war furchtbar wie das Unglück und glatt wie eine Schlange. Aber solche Leute konnte der große Pascha gebrauchen und ehrte sie, wenn sie seine Befehle ohne Zagen ausführten. Man sagte manchmal in Kairo, er habe ihm die höchste Ehre erwiesen: er habe ihn gefürchtet. Doch ist dies eine Lüge. Der große Pascha fürchtete Iblis, den obersten der Teufel, nicht. Aber er ehrte ihn, wie er keinen seiner Diener geehrt hatte, und gab ihm Zohra zur Frau. 'Die Tigerin dem Tiger von Sennar', sagte er lachend. Es fehlte nur, daß auch Zohra gelacht hätte. Doch sie schwieg.
Achmed war stolz auf seine Frau und liebte die Pracht. Er baute sein Harim am Ufer des Kanals el Chalag, der durch die Stadt zieht, und schmückte es, wie seit der Zeit der Mameluckensultane kein Harim in Kairo geschmückt worden war. Dort lebten Tiger und Tigerin, wie Abbas höhnisch zu sagen pflegte, indem sie sich gegenseitig bewachten. Damit war Abbas wohl zufrieden, denn er fürchtete sich vor der Fürstin wie vor einer tollen Wölfin. Ob Achmed seine Frau liebte, weiß niemand. Er war kein Mann der Weiber. Er wartete auf ein zweites Sennar und verbarg seine Ungeduld nicht. Aber er wartete umsonst. Denn kurze Zeit nachdem er in sein neues Haus gezogen war und alle Frauen Kairos, die des Vizekönigs nicht ausgenommen, vor Neid krank geworden waren, nachdem sie Zohra besucht hatten, starb ihr Herr und Gemahl plötzlich. An einem Schlag, sagten die Hakims; an Gift, sagte Abbas. Gott weiß es; Gott und Zohra Pascha.
Nun lebte sie wieder allein in ihrem Palast am Chaligkanal, und Jahre gingen vorüber. Mohammed Ali kämpfte mit der halben Welt. Nicht immer gab ihm Allah den Sieg, aber er blieb der größte Vizekönig der Welt, und seine Familie erhielt die Herrschaft über Ägypten für immer und allezeit. Aber das Land verblutete sich fast, und alles brauchte den Frieden, den uns Gott zuletzt schenkte.
Von Zohra hörte man lange nichts, bis wunderliche und böse Gerüchte die Stadt durchliefen, erst leise, dann lauter. Die Leute erzählten sich's in den Winkeln des Basars. Man sprach davon in den Diwans und in den Konsulaten, und die jungen Herren wurden bleich, wenn es wieder aufs neue ausbrach, nachdem das alte Geschwätz verstummt und halb vergessen war. Ein schöner Levantiner, der an der Ecke der Muski einen Waffenladen gehabt hatte, war plötzlich verschwunden, dann der Dragoman des griechischen Konsulats, dann zwei Dalmatiner aus Triest, die im Sudan jagen wollten, dann ein Seidenhändler aus Lyon. Zwei-, dreimal fand man die Leichen der Vermißten in dem Kanal hinter Zohra Paschas Palast. Du weißt, was man sagte; man kann es heute in Büchern lesen, und ich glaube, man sagte die Wahrheit. Die Tigerin war toll geworden, hieß es. Aber sie war schlau und wußte die Männer zu locken, daß sie ihr von selbst in den Rachen liefen. Die Schoara sangen die alte Geschichte von der Kattaletesch-Schugan, der Männertöterin, öfter als gewöhnlich, und die Leute winkten ihnen, zu schweigen. Das Treiben dauerte mehrere Jahre. Man erzählte sich's entsetzt, wenn wieder eine Leiche im Kanal gefunden wurde, doch wagte niemand, weiter zu suchen. Zu entdecken war so gefährlich wie zu verstecken. Selbst wir Mamelucken fürchteten uns und schlichen scheu an dem verschlossenen Palast der Prinzessin vorüber, wenn uns der Weg durch die enge Gasse der Gama el Benat führte. Wir zeigten uns das Türchen, durch das sie alle hineingegangen waren und keiner von ihnen herauskam. Ein totes Krokodil aus Sennar war über demselben aufgehängt wie über mancher andern Haustüre in der Stadt. Doch war dies ein ganz besonderes Krokodil, Man sagte, als es noch lebte, habe es der Defterdar mit den Kindern der Araber gefüttert, die er in Sennar erschlagen ließ. Nun hing es vor der Türe seiner Witwe. Und unter dem Krokodil mußten sie durch, die Narren, die sie liebte.
Abbas, der jetzt Pascha und Gouverneur von Kairo geworden war, schlief nicht. Seine Kundschafter lauerten, aber vergeblich. Schließlich, als der Leibmameluck des kleinen Raschid Pascha in dem vertrockneten Graben gefunden wurde, ging er zum alten Vizekönig, erzählte ihm, was die Stadt sich erzählte, und fragte, was zu geschehen habe. Da schickte Mohammed Ali dreißig Maurer und Steine und Mörtel auf fünfundzwanzig Eseln und fünfzig Mann Soldaten und ließ an einem Morgen alle Fenster und Türen am Palast Achmeds, des Defterdars, zumauern, bis auf das Türchen unter dem Krokodil. Dem Türchen gegenüber stand das Haus eines koptischen Schreibers. Der Mann wurde in weniger als einer Stunde samt Weib und Kind auf die Straße gesetzt und mußte froh sein, am folgenden Tag sein Hausgerät holen zu dürfen. Ihr Europäer sagt, es gehe alles so entsetzlich langsam bei uns. Wallah! Sie hätten die Arbeit dieses Morgens sehen sollen. In das Haus aber legte der Pascha eine Wache von fünfundzwanzig Mann, die alle Freitag gewechselt wurden und nichts zu tun hatten, als das Türchen zu bewachen. Das Menschenfischen im Kanal war zu Ende. Niemand außer ihren Dienerinnen und einem alten Eunuchen Mohammed Alis sahen Zohra in langen fünf Jahren. Ihre Schätze und der Reichtum ihres Mannes blieben ihr. Aber nur Gott weiß, wie die Frau in ihrem Gefängnis gelebt hat."
"Nein, nicht Gott allein!" fuhr Rames Bey nach einer Pause flüsternd fort, so daß ich mich zu ihm beugen mußte, um ihn zu verstehen. "Auch Halim, der seine Schwester nicht vergaß. Sie erschien ihm wie ein Engel, als er noch ein kleiner Junge war, wie ich dir erzählt habe. Er glaubte nicht, daß sie anders geworden war. Er glaubt es heute noch nicht.
Er kannte die meisten Offiziere und bestach die Wachen. Dennoch war es nur selten möglich, daß er die Eingemauerte besuchen konnte, denn die Offiziere wußten, daß sie um ihren Kopf spielten. Der Mameluck, der die Frauenkleider aufbewahrte, die Halim zu seinen gefährlichen Besuchen bei seiner Schwester brauchte, erzählte mir dies. Aber niemand hat bis jetzt erfahren, was Halim im Innern des Hauses gesehen und gehört hat.
Das dauerte, bis die Seele von Mohammed Ali wich, ehe er starb, und nach seinem Tode Abbas Herr von Ägypten wurde. Nun wußte Zohra, daß es an ihr Leben ging. Doch in der Verwirrung jener Tage gelang es ihr, auf der Kanalseite aus dem Hause zu brechen und mit einem Diener Halims auf Kamelen nach El Arisch und von dort nach Syrien zu entkommen. Sie floh nach Stambul und klagte dem Sultan ihre Not. Dieser gewährte ihr Schutz und befahl, das ganze Vermögen der Frau herauszugeben, was auch geschah. Damit baute sie sich einen kleinen Palast am Bosporus. Ägypten aber, ihre Heimat, vergaß sie nicht, und auch nicht Abbas und sein Haus.
Nun verstehst du wohl, was du gehört hast, ehe Halim Pascha heute davon sprach; denn man weiß es in den Basaren von Kairo und von Stambul. Sie lebte am Bosporus wie die heimliche Königin des Nils und schützte und regierte ihre Uasallen aus der Ferne. Wenn Abbas einen Verwandten bedrohte, so wußte sie es; wenn er an der Vernichtung seiner Brüder arbeitete, so kannte sie seine Pläne. Und auch er wußte, von wo ihm das Verderben drohte: er zitterte bei jedem Mahle vor dem Gift, das sie in Stambul braute, jede Nacht vor den Zaubersprüchen, die sie den Nordwinden mitgab. Aber etwas ahnte er nicht, daß sie zwei Tscherkessenknaben für ihn erzog, und daß sie es war, die die schönen Mamelucken Hassan und Hussein verschenkt hatte. Schritt für Schritt, leise wie Katzen, geduldig und sicher wie die Bergpferde an den senkrechten Wänden unseres Kaukasus schlichen die zwei neben ihrem Herrn her, jahrelang, bis zur marmornen Badewanne zu Benha. Er merkte nichts. Zohra Pascha wußte, was sie wollte und was sie konnte. Noch in ihren alten Tagen - ein heißes Leben wie das ihre macht alt in wenigen Jahren - wußte sie die Männer zu verzaubern, daß sie für sie starben und für sie töteten, wie sie gebot, und Erbarmen kannte sie nicht seit jener Nacht, in der sie auf dem Felde von Schubra die Füße ihres Geliebten vergeblich gesucht hatte."
"Aber Rames Bey", unterbrach ich ihn endlich, fröstelnd, denn es war spät und kühl geworden, "das ist schauderhaft, das ist zu bunt!"
"Nein, Baschmahandi", entgegnete er heftig, "das ist nicht zu bunt. Das sind die Farben unseres Ostens, wenn du genauer zusiehst. Und es ist noch nicht alles. Du hast von Il Hami gehört, dem Sohn Abbas Paschas, den die Narren seines Vaters zum Vizekönig machen wollten an Saids Statt. Der arme Junge wußte nicht wohin, obgleich ihm Said nichts zuleide getan hätte; denn Said hat ein gutes Herz und konnte niemand elend sehen in seiner Nähe. Aber es litt ihn nicht in Kairo, wie wenn ihn die Erinnerung an seinen ermordeten Vater quälte. Auch er ging nach Stambul und lebte dort, wie junge Prinzen leben. Vor vier Jahren fuhr er an einem der schönen Abende, in denen sich das Paradies im Bosporus spiegelt, in einem Kajak am Ufer hin. Du weißt, wie dort die Wasser ziehen und wirbeln, an Stellen, wo man die Stille eines Teiches erwartet. Solch ein Wirbel packte das ungeschickt gesteuerte Boot. Der Schiffer und Il Hami stürzten ins Wasser und trieben rasch vom Ufer ab. Das geschah bei Zohra Paschas Villa. Sie saß auf dem Dache, um die Abendluft zu trinken. Ihre eigenen Boote lagen am Ufer; ihre Leute saßen müßig am Strande. Sie befahl ihnen, die Ertrinkenden zu retten. Aber sie hörte jetzt Rufe. Leute am Ufer hatten Il Hami erkannt. Sie schrien: 'Der Prinz! Il Hami, der Prinz!' Da murmelte Zohra wie von Sinnen: 'Der Prinz, Il Hami ben Abbas!' und befahl mit kreischender Stimme ihren Schiffern, sich nicht zu rühren. So versank Il Hami mit einem Schrei. Sie wartete, starr wie eine Bildsäule - fünf Sekunden - zehn - er kam nicht wieder herauf. Da warf sie die Arme gen Himmel und schrie: 'Allahu! Allahu!' fiel auf ihr Gesicht und dankte Gott."
"Betrunkener Lügner!" zischte in diesem Augenblick eine scharfe, zornerstickte Stimme über uns weg, alles im Zelt wie mit einem elektrischen Schlag erschütternd. Gleichzeitig krachte es, wie das Zerreißen eines großen Stücks Leinwand, und durch die weitgeöffnete Zelttüre strömte das tageshelle Mondlicht, den kleinen Raum bis in den hintersten Winkel überflutend. In der Öffnung stand Halim in weißem Mantel, mit blitzenden Augen, braunschwarz im Gesicht, die Zähne weißglänzend, den Arm zum Stoß erhoben, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Weder ihn noch einen andern Menschen. Aus seinen verzerrten Zügen sah die Beduinin, seine Mutter, der alte Arnaute, sein Vater, und etwas von Abbas' Blut.
Rames und ich waren gleichzeitig aufgesprungen. Die geleerte Teetasse klapperte am Boden. In jähem Schrecken warf sich der Bey auf die Knie, beugte den Kopf bis auf die Erde und blieb in dieser Stellung regungslos liegen-ein häßlicher Anblick. Halim, sichtlich außer sich vor Zorn, erhob den Fuß und schnellte ihn gegen den Kopf des Daliegenden. Doch berührte er ihn nicht, und ich, alles vergessend- in solchen Augenblicken steht der Mensch dem Menschen gegenüber ohne Rang und Stand, frei und bloß, wie er geboren -, trat rasch zwischen beide, um das Äußerste zu verhindern. Da faßte sich Halim plötzlich. Man sah die gewaltige Anstrengung in den sich versteinernden Zügen. Er warf mir einen Blick zu, eher matt als zornig, eher traurig als finster, drehte sich um und ging nach seinem Zelte zurück.
Und wie das Alltagsleben, das wir zu führen gezwungen sind, uns auch in den erschütterndsten Augenblicken mit seinem kleinen Hohn nicht verschont: als Halim mit gesenktem Kopf über den mondbeglänzten Platz zwischen unseren Zelten hinging und ich ihm, selbst ein wenig zitternd vor Aufregung, nachblickte, denn die Minute, die wir verlebt hatten, war kein Scherz gewesen, da sah ich, daß er nur einen Pantoffel trug und sein rechter Fuß, in einem glänzend anilinblauen Strumpf, vorsichtig auf der harten Erde auftrat. Der andere Schuh, roter Saffian, auf den eine goldene Mondsichel und ein Stern gestickt waren, in dessen Mitte ein Edelstein funkelte, war über Rames Bey weggeflogen und lag breit und trutzig auf meinem Bett. Der Tscherkesse hatte sich langsam erhoben. Wir betrachteten den greifbaren Beweis, daß das alles nicht geträumt war, ohne ein Wort zu sagen. Ich sehe die goldene Sichel und den blitzenden Stern noch heute. Das Symbol des Islams sah aus wie eine funkelnde Pupille, wie das zornige, blutunterlaufene Auge eines der alten Sultane von Musr el Kashira. Nach einer Minute nahm Rames, der bleich wie das Zelttuch geworden war, den Schuh mit bebender Hand und folgte, ohne gute Nacht zu wünschen, langsam seinem Herrn, hinter dessen Zelt er verschwand.

IM SONNENSCHEIN

Wir waren auf dem Gipfel des Scherbenhügels von Sackra. Die Sonne war aufgegangen und übergoß das in seiner Einfachheit großartige Bild ringsumher mit ihrem Golde. Ein frischer Morgenwind wehte aus Nordost und hatte die dichten Nebel, die über den Sümpfen des Burlossees lagen, aufgerollt wie einen Schleier. Am Horizont sah man einen langen wasserhellen Streifen, als ob sich dort die ferne Meeresfläche im Blau des Himmels spiegelte. Im Osten lagen die gelben Wüstenhügel mit ihrer Ahnung grenzenloser Weite, die unwillkürlich die Brust ausdehnt und die Lungen freier atmen läßt. Gegen Süden grünte das alte Bild der unerschöpflichen Fruchtbarkeit der Erde, und wie ein liebliches Menschenidyll in der einsamen Natur glänzte die kleine Dorfmoschee von Kassr-Schech hinter ihren Sykomoren hervor.
Der Balsam der Morgenluft hatte die Nacht mit ihren schwülen Erlebnissen weggefegt. Kein Wort war über dieselben gesprochen worden. Es fehlte nicht viel, so hätte ich alles für einen Traum gehalten, und Halim und Rames Bey schien der Morgen in ganz ähnlicher Weise umgewandelt zu haben. Nur der Tscherkesse, der übrigens in Gegenwart seines Herrn stets eine zurückhaltende Ruhe bewahrte, war noch etwas stiller als gewöhnlich. Seine Würde litt allerdings unter dem "Stangenschießen", das ich ihm in früher Morgenstunde beigebracht hatte und das ihm keineswegs gefiel.
Ein halbzertrümmertes ionisches Kapitel, das aus dem Schutt hervorragte, bildete einen vortrefflichen Tisch, auf dem ich die Zeichnung des Jagdschlößchens ausgebreitet hatte, das auf diesem herrlichen Gipfel erstehen sollte. Es war ein Projekt, an dem man wirklich seine Freude haben konnte. An keinen Stil lassen sich Eisenkonstruktionen so hübsch anpassen wie an den sarazenischen mit seinen schlanken Säulen und seiner Ornamentik hängender Stalaktiten. Dies war der Rahmen, in dem sich französischer Geschmack und englische Behaglichkeit zu überbieten suchten, um eine ideale kleine Wohnstätte für kurze Besuche in dieser entlegenen Wildnis zu schaffen. Ein Untergeschoß, in dem Küche und Keller reichlich Raum fanden, trug das luftige, einstöckige Gebäude, das von einer breiten Veranda umgeben war, die den freien Ausblick nach allen vier Himmelsgegenden gestattete. Es enthielt eine hohe, halbdunkle Mittelhalle mit dem unvermeidlichen Springbrunnen und Stalaktitendom, umgeben von kleinen Zimmern, deren Wände auseinandergeschoben werden konnten, so daß man fast wie im Freien schlafen konnte, wenn die Nacht dazu einlud. Es mußte ein königlicher Genuß sein, nach einem heißen Jagdtage unter dem riesigen Himmelsdom zu ruhen, der sich auf dieser Höhe über dem ungebrochenen, unabsehbaren Kreise unter uns wölbte.
Halim war voll Eifer und Arbeitslust. Die Leibmamelucken liefen mit Pfählen umher, und ein Dutzend Fellachen schlugen sie nach meiner Weisung in den Boden, ebneten hier eine knollige Erhöhung, den tausendjährigen Staub aufrührend, oder füllten dort ein Loch mit den klappernden Scherben, aus denen alte Griechen ihren Zyperwein getrunken hatten. Das Achteck der Grundmauern war bereits abgesteckt. Wir wollten jetzt die Umgrenzungsmauer des Gartens bestimmen, für den auf dem Gipfel noch Raum war.
Schon seit einiger Zeit, während mir Halim seine Ideen bezüglich eines Goldfischteichs und zweier Eckpavillons am Haupteingang deutlich machte, in denen rechts bunte Vögel, links Affen leben sollten, sah Rames Bey abwechslungsweise bald nach Süden, bald nach Osten und begann schließlich mit dem Theodolit zu spielen, der augenblicklich unbenutzt auf dem höchsten Punkt unseres Berggipfels stand.
"Sie sind es!" rief er endlich, wie wenn er trotz der gedämpften Morgenstimmung, in der er sich noch befand, seine Freude nicht länger unterdrücken könnte.
"Wer?" fragte Halim scharf, da er Unterbrechungen ohne Einleitung nicht liebte.
"El Dogan, Hoheit, und der Mameluck Achmed und ein dritter Mann", antwortete Rames, die Augenlider zusammendrückend.
"Wenn ich recht sehe, ist es Sadik Effendi, der Oberschreiber des Nadirs von Schubra. Was will der hier?"
"El Dogan?" rief jetzt auch Halim, sichtlich erfreut. Er richtete den Theodolit nach der Gruppe und sah lange schweigend durch das Fernrohr. "Eine Kreatur, wie es nicht viele gibt, Herr Eyth", fuhr er nach einiger Zeit lebhaft fort, "unter Tieren und Menschen. Man sieht ihm das Blut auf eine Meile Entfernung an. Wie er ausschreitet! Wie er den Kopf hält! - Jetzt wiehert er. Bei Allah, es ist ihm wohl."
"Gott sei gepriesen!" seufzte Rames sichtlich bewegt. "Und dort reitet noch einer, der es eilig hat, nach Kassr-Schech zu kommen."
"Ein Esel", sagte Halim, der den Theodolit gegen Osten gedreht hatte, gleichgültig. "Kommen Sie, Herr Eyth, messen wir weiter! Hierher will ich den Fischteich haben. Mit Beton werden Sie mir das wohl machen können."
"Umsonst ritt er nicht die Nacht durch", bemerkte Rames nachdenklich, indem er wieder durch das Instrument sah. "Es ist der Nasir von Terranis, verstaubt wie ein Kamel des Mokattam. Sein Sais scheint auch genug zu haben; er hinkt. Nur der Esel ist noch munter."
Halim Pascha war im eifrigsten Abstecken des Fischteiches versunken. Alles, was ihn an seine Pariser Schulzeit erinnerte, machte ihm noch immer ein fast knabenhaftes Vergnügen. Ich überlegte mir, nicht ohne Sorgen, wo ich das Wasser hernehmen und wie ich es am einfachsten in den künftigen Teich heraufschaffen konnte, in dem die kommenden Goldfische die Aussicht von der Spitze dieses herrlichen Hügels genießen sollten. Auf allen vieren kletternd kamen mittlerweile der Mameluck Achmed und seine Begleiter am steilsten Abhang des Scherbenhügels herauf. Halim ließ sie fünf Minuten lang stehen, ohne sie zu beachten. Dann rief er plötzlich:
"Du bist zurück, Achmed, und kannst deinem Schöpfer danken. Wie geht es El Dogan?"
"Er ist so gesund, als er es je gewesen ist", versetzte der Mameluck gesenkten Kopfes. "Es war ein Afrit; doch Gott sei Dank, jetzt ist er gebannt."
"Unsinn!" rief Halim. "Es war eine Dummheit und die Unwissenheit des Baschmahandis."
"Ich bitte Gott um Vergebung, aber es war ein Afrit, o Effendini", sagte Achmed mit ungewohnter Bestimmtheit. Er brauchte hierbei jene Form feinster arabischer Höflichkeit, von der wir rohen Europäer nur einen schwachen Begriff haben, indem er nicht den Angeredeten, sondern Gott um Verzeihung bat, daß er widersprechen mußte. Denn kann ein Mensch eine Sünde vergeben?
"Es wurde mit jeder Stunde schlimmer", erzählte er auf einen ungeduldigen Wink Halims, "als ich nach Maraska zurückgekehrt war. El Dogan lag auf dem Boden, zitterte am ganzen Leib und verdrehte die Augen, so quälte ihn der Geist. Unser Hakim wußte sich nicht zu raten. Als es um die vierte Nachtstunde nicht besser wurde, saßen wir auf der Erde neben dem Kranken und baten Gott, den Allbarmherzigen, um Gnade; aber wir hofften nicht mehr. Da sandte der Allmächtige Ibrahim Emir, den Beduinen, deinen Freund, und seinen Sohn. Sie sahen das Tier und sprachen: 'Gott helfe uns; es ist ein Afrit.' Dann fragte mich der Alte, wie es begonnen habe. Ich sprach die Wahrheit und sagte: 'Zu Tanta hat ihn ein Derwisch mit übelm Auge angesehen, dann hat ihn der Baschmahandi, Hoaga Eyth, geritten, bis sein Herz stillstand. Und als er schwach war und dem Umfallen nahe, kam der Afrit, sah seine Schwäche und fuhr in ihn. Nun steht es, wie du siehst.' Da sprach der Emir: 'Genug! Ich sehe, was ich sehe. Soll der Fremde, der Nusrani, büßen?' Er deutete über seine Schulter nach Kassr-Schech. Ich verstand ihn und sagte: 'Nein! Du sollst ihm kein Leid tun; mein Herr, der Pascha, würde es nicht dulden. Er braucht ihn.' 'Hat er Freunde?' fragte der Emir weiter. 'Er ist ein Fremder, ein Deutscher; ich weiß es nicht', sagte ich. 'So hat er Diener?' fuhr der Beduine fort. 'Ich brauche jemand, um den er sich gekümmert hat, seit der Mond des Schaaban am Himmel stand.' - 'Diener in Menge', belehrte ich ihn, 'zu Schubra, zu Terranis; Schmiede, Schlosser, Zimmerleute, Schreiber und Fellachen in Masse! Unser Pascha gibt ihm, was er bedarf, und er bedarf viel.' 'Es ist gut!' sprach der Emir; 'bring mir eine Blutorange oder eine kleine Melone.' Wir fanden eine Melone im Garten des Scheichs. Der Mondschein half uns suchen. Er nahm sie und schnitt mit seinem Messer in ihre Rinde zwei Augen, eine Nase und einen Mund, so daß sie aussah wie der Kopf eines Mannes und uns angrinste. Dann sprach er: 'Nun wendet euch gen Mekka, das heilige, und betet das Glaubensbekenntnis siebenmal. Ich aber werde mich nach Westen wenden, und ihr sollt nicht sehen, was geschieht.' Wir taten, wie er es haben wollte, der Hakim und ich; doch konnte ich die Neugier nicht ganz bemeistern, und so sah ich, daß er die Melone auf den Boden legte, vor den Kopf des Pferdes, das angstvoll zusah. Nachdem er ein wenig gebetet hatte, aber nicht gen Mekka, sprach er laut: 'Leben um Leben', setzte den Fuß auf das Gesicht, das er gemacht hatte, und zermalmte den Kopf, daß er ein Brei wurde. Diesen gab er El Dogan zu fressen. Das arme Tier fraß gierig. Dann brach ein Schweiß in ihm aus, daß es dampfte und das Wasser an seinem Leibe herabfloß. Ibrahim aber sprach: 'Er wird leben, euer Dogan. Gebt mir ein wenig Kaffee. Ich werde alt und bin matt von diesem Werk.' Ich machte ein Feuer und kochte Kaffee, so schnell ich konnte. Als er getrunken hatte, ritt er mit seinem Sohn davon. El Dogan aber schlief schon und schlief ruhig bis zur Morgendämmerung."
Der kleine Mameluck hatte seinen Bericht mit der pathetischen Beredsamkeit beendet, die mich nicht selten bei den einfachsten Fellachen in Erstaunen setzte, sah sich um wie ein Märchenerzähler, der den verdienten Beifall erwartet, und trat einige Schritte zurück. Halim hatte sein skeptisches Lächeln auf den Lippen, das ihn in Kairo selten verließ. Rames dagegen sah mit gespannter Aufmerksamkeit auf den Erzähler.
"Wallah!" rief er, "es war ein Afrit. Und ein großes Glück ist es gewesen, daß die Beduinen des Weges kamen. El Dogan wäre sicher gestorben. Menschen können Afrits ertragen, jahrelang. Ein Pferd hat eine feinere Seele. Es stirbt aus Schrecken, wenn ein zweiter Geist in seinem Leib wohnen will."
"Narrheiten, dummer Mameluckenaberglaube!" rief Halim ärgerlich.
"Habe ich nicht in Abbas Paschas Ställen dreimal dasselbe tun sehen, was Achmed sah?" fragte Rames eifrig. "Wir hatten einen alten Beduinen, der die Sprüche kannte, zu keinem andern Zweck in Benha. Abbas - Gott sei ihm gnädig - glaubte an ihn und bezahlte ihn fürstlich. Wenn unser Hakim nicht mehr helfen konnte, holten wir ihn. Er gebrauchte Blutorangen. Es half immer, wenn es gelang."
"Du bist ein Narr, Rames" sagte Halim, nicht unfreundlich. "So weit haben es die Ärzte in London und Paris zum mindesten auch gebracht. Sie helfen alle; nur gelingt es nicht immer. - Was willst du?"
Der Pascha richtete die Frage mit einer raschen Wendung an den Begleiter Achmeds, der bis jetzt in demütiger Haltung zur Seite gestanden hatte, nun aber mit einer tiefen Verbeugung vortrat, seinen Turban abnahm und einen langen Zettel aus demselben herausbrachte. Halim ergriff das Papier ungeduldig, wandte sich ab und las. Als er zu Ende war, sah er lange schweigend nach Norden, als ob er etwas am Horizonte suchte. Ich konnte nur sehen, wie sein elegant beschuhter Fuß ungeduldig im Schutt wühlte. Dann las er den langen Papierstreifen zum zweitenmal. Darauf drehte er sich mit jener eigenen nervösen Bewegung um, die Kraft und Schwäche zugleich bedeuten konnte.
"Hier ist etwas für Sie, Herr Eyth", sagte er. "Vorgestern hat mein Neffe, der Vizekönig, sämtliche Arbeiter bei den Dampfpflügen in Schubra - Maschinisten und Pflüger, alles! - holen lassen, um sie nach Oberägypten zu schicken, wo er mit seinen eignen Apparaten nicht zurechtzukommen scheint. Die Leute liefen in der Nacht wieder zurück zu Weib und Kind. Man kann sich das denken; eigentlich sind sie auch Menschen. Und nun wurden sie gestern nachmittag, wie man mir schreibt, unter militärischer Bedeckung abgeführt und sofort in Bulak auf Nilbarken gebracht. All Ihre Pflüge stehen still."
"Aber Hoheit", rief ich, "das ist a rein unmöglich!"
"Das ist sicher, mein Lieber. Sie vergessen, daß wir in Ägypten sind", sagte er mit unterdrückter Leidenschaftlichkeit und fuhr dann leiser fort: "Es ist das alte Lied, das nun wieder beginnt: einer gegen alle, alle gegen einen! das Totenlied des Hauses meines Vaters, mein Freund!"
Er lachte gezwungen; kein gutes Lachen.
"Aber was kann geschehen?" fragte ich entrüstet, denn ich sah im ersten Augenblick das harte Werk von drei Jahren plötzlich zusammenbrechen. "Was kann ich tun, Hoheit?"
"Von vorn anfangen", erwiderte er ruhig und bestimmt. "Es bleibt nichts andres übrig; und wenn er Ihnen das zweite Kontingent wegnimmt, nochmals von vorn anfangen. Wer weiß, vielleicht ist es auch zu etwas gut, wenn unsere Leute in dieser Weise in alle Gegenden des Landes verteilt werden. Jedenfalls kann so Ihre Dampfpflughochschule in Schubra zu ungeahnter Blüte kommen. Sobald wir hier mit dem Abstecken fertig sind, reiten Sie nach Hause zurück und - -"
Ein ungewöhnlich lautes Gelächter am Rande des Hügels unterbrach ihn. Wir wandten uns alle mit der Entrüstung, die in einem solchen Falle höfische Höflichkeit gebietet, nach der Seite, von der der Lärm kam. Die sechs Leibmamelucken zogen lachend ein dickes Männchen über die Kante des Hügels, unter dem die Scherben prasselnd in die Tiefe rollten. Der Kleine war blaurot vor Anstrengung und Schrecken, sein Turban saß schief auf seinem kahlen Kopf. Er erhob sich, tränenden Auges, mit Schmutz und Staub bedeckt. Es war mein Freund, der Nasir von Terranis. Am Fuß des Hügels stand sein Esel und suchte sich schon, frech, wie Fellahesel sind, mit El Dogan zu unterhalten, während sein Herr bei der gefährlichen Besteigung von Sackra in seinem Übereifer fast verunglückt wäre.
Musa el Askari hieß der Wackere, und da er an den Umgang mit Prinzen weniger gewöhnt war als wir, wäre er beim Anblick Halims zum zweitenmal beinahe in den Staub gesunken. Er verneigte sich aufs tiefste, berührte mit der Hand die Erde und dann seine Stirne und versuchte den Saum von Halim Paschas Rock zu küssen, was dieser jedoch mit einer abwehrenden Bewegung verhinderte.
"Ah!" rief er freundlich, "ich kenne dich! Du bist der Nasir von Terranis. Was bringst du mir Schönes?"
"Ich bitte Gott um Vergebung, daß ich dir gute Nachrichten nicht geben kann, o Effendini!" klagte Musa. "Laß es deinen Diener nicht entgelten. Ich komme, um den Baschmahandi zu holen. Die Hand Gottes liegt schwer auf Terranis, o Pascha!"
"Nun was ist es?" fragte Halim etwas ungeduldig, da der Nasir aufs neue Angriffe auf seinen Rocksaum unternahm. "Sprich ohne Umschweife, mein guter Mann!"
" Die Reisfelder verdursteten, und die große Maschine pumpte nichts. Ein Fisch war in die umgekehrte Schüssel geraten, die tipp, tapp macht, wenn die Pumpe zufrieden ist. Dort blieb er stecken; der Baschmahandi weiß es, und Gott wollte es so. Mit dem Wasser aber war es völlig aus, und der Mechaniker Jusef wollte nichts anrühren, solange du, o Baschmahandi, nicht dabei seiest. Nun, gestern abend war unsre Not aufs höchste gestiegen. Ich sah, daß der Reis starb - dreitausend Faddan! - Da dachte ich: 'In der heiligen Nacht des Nuß min Schaaban wird uns der Allbarmherzige beistehen' - und bedrohte Jusef und redete ihm freundlich zu, bis er versprach, den Fisch aus der Schüssel herauszuholen. Jetzt ist er auch drin!"
Was - wer?" rief ich erschrocken.
"Jusef", sagte der Nasir halb weinend. Er ging hinunter, willig genug; er war ein braver Moslim und glaubte an den Propheten und das Jüngste Gericht. Auch hatte ich fünf Fellachen an den Strick gehängt, die die Schüssel in die Höhe zogen, wie du es uns gelehrt hattest. Aber die Fellachen, die Herde von Schweinen, ließen los und fielen zu Boden und lachten und zappelten, gerade wie wenn ein Afrit in sie gefahren wäre. Drunten im Schacht aber - unter der Schüssel - bei dem Fisch - -"
Der gute Mann heulte.
"Ist er tot?" fragte ich bewegt, obgleich ich wußte, was die Antwort sein mußte.
"Das ist mein einziger Trost", sagte der Nasir, seine Tränen mit dem Rücken beider Hände trocknend. "Es war mein eigner Schwiegersohn und ein frommer Moslim. Aber es geschah nach dem Willen des Allmächtigen, heute nacht um die fünfte Stunde. Schon seit zehn Stunden ist er im Paradies."
"Um die fünfte Nachtstunde!" brach der Mameluck Achmed los, nach Luft schnappend; das war die Stunde, in der El Dogan den Kürbis fraß!"
"Um die fünfte Stunde", sagte Rames düster, sich abwendend; das war um die Zeit, als der Pascha mir den Pantoffel an den Kopf warf. Ich war selbst nicht weit vom Paradies zu jener Stunde."
Wir schwiegen alle. Das heiße, grelle Sonnenlicht des herannahenden Mittags leuchtete ringsumher, von einem Ende des Himmels zum andern. Die ganze Welt lag vor uns schattenlos, in glühender Tageshelle. Und doch zog etwas wie eine unheimliche, düstere Wolke über uns weg, deren fröstelnden Schatten wir fühlten, ich so gut wie der zitternde Nasir, Halim so deutlich als seine abergläubischen Mamelucken.
Halim sprach endlich. Er war wieder der Mann des Tages und der Tat.
"Reiten Sie mit dem Nasir sofort zurück nach Terranis", sagte er zu mir, "setzen Sie dem Manne die Pumpe in Bewegung; er überschwemmt uns sonst mit seinen Tränen. Dann kommen Sie nach Schubra; dort werden wir sehen, was sich machen läßt. Ich habe mittlerweile meinen Neffen besucht. Ganz in der Tasche hat uns der Vizekönig noch nicht. El Dogan lebt wieder!"
In einer Stunde war ich reisefertig. Während ich mich von Halim Pascha verabschiedete, sagte er leichthin:
"Apropos - Rames hat Ihnen gestern nacht eine Masse dummes Zeug vorgeschwatzt. Sie wissen, in der Nacht des Nuß min Schaaban erzählen wir uns Sachen, aus denen die Schoara ihre Märchen machen. Mehr brauchen Sie sich auch nicht daraus zu machen. Au revoir, mon cher!"
Er lachte etwas gezwungen, wie mir schien, und machte ein Gesicht, aus dem kein Mensch klug werden konnte. Ich versuchte, schon aus Höflichkeit, das gleiche.
Es gelang.
Dann ritt ich durch das Zeltlager, das schon am Boden lag, gen Osten; hinter mir der Nasir auf seinem unerschöpften Eselchen, mein Dragoman Abu-Sa, der Koch auf dem Kamel, mit Bett und Gepäck. Auf dem stillen, achtstündigen Ritt hatte ich Zeit, mir zurechtzulegen, was ich in den letzten vierundzwanzig Stunden gehört und gesehen hatte. Aber es wollte sich nicht alles entwirren. Das ist so mit den Geschichten des Ostens, sonderlich wenn sie auf so dunkeln Blättern stehen. - -
El Dogan starb im Jahre 1867, zum Glück nicht infolge meiner Reitkunst, denn ich bekam ihn nie wieder zu reiten. Rames Bey schwört, er sei an Gift gestorben. Es war das Jahr, in dem der Vizekönig Ismael Pascha Halims Besitzungen konfiszierte und das ägyptische Erbfolgerecht zugunsten von Ismaels Sohn Tiusk geändert wurde. Das Jagdschlößchen für Kassr-Schech ist nie aufgestellt worden. Es liegt, in seine Teile zerlegt, noch heute bei Thalia am Nil- ufer, im Sand begraben. Dort kann es holen, wer Lust hat; es gehört niemand mehr.





Erläuterungen:

(1) Der Stambulrock ist ein einfacher Gehrock aus leichter schwarzer Seide, mit einreihigen Knöpfen; in Ägypten das übliche Kleidungsstück von Beamten und höheren Dienern, die keine Militäruniform tragen.
(2) "Effendi" ist einer der Titel des Vizekönigs und der Prinzen des vizeköniglichen Hauses.
(3) Inschallah - wenn Gott will.
(4) Ma scha allah - wie Gott will.
(5) Sais heißen die Läufer, ohne die kein angesehener Mann einen Ausritt oder eine Ausfahrt unternimmt.
(6) Ein Beutel ist rund hundert Mark, eine jetzt wohl nur noch im Volksmunde übliche Geldeinheit.
(7) Außer mit Menschen und Tieren ist nach dem Koran die Welt mit gewöhnlich unsichtbaren Geistern bevölkert, die sich in der verschiedensten Weise bemerklich machen. Die guten heißen Ginn, die boshaften Afrit.
(8) Die ersten zehn Nächte des Jahres heißen "das Aschr" und werden als Feste angesehen. In diesen Nächten sind die Geister besonders rege, besuchen die Menschen in verschiedenen Gestalten und halten unter sich Zusammenkünfte ab.
(9) Bei den Gebetsreigen (den Sikrs) werden, wie um den Takt der Bewegungen festzuhalten, Ausrufe wie: Allah! Hu! Allahu! und andere nach bestimmten Rhythmen hundertfach wiederholt und scheinen wesentlich zu der religiösen und nervösen Bewegung beizutragen, die der Zweck der Sikrs ist.
(10) Die jüngsten Geschichten- und Romanerzähler in Ägypten heißen Schoara, Srhaer im Singularis.
(11) Es dürfte zum Verständnis des Folgenden nützlich sein, den Stammbaum der Familie Mohammed Alis, soweit er hier in Betracht kommt, mitzuteilen. Die mit Zahlen Bezeichneten sind die zur Herrschaft gelangten Vizekönige Ägyptens; die Jahreszahlen Anfang und Ende ihrer Regierungszeit.

(Der Stammbaum ist nur mit Schriftart COURIER vernünftig lesbar!)

                    1. Mohammed Ali.
                       1805?-1848.
2. Ibrahim. Tussun. Achmed.     4. Said. Zohra (Tochter). Halim.
   1848-1849.  ¦                   1854-1863.
      ¦        ¦
      ¦ 3. Abbas.
      ¦    1849-1854.
      ¦        ¦
      ¦    I1 Hami.
      ¦
5. Ismael. Mustapha Fasil.
   1863-1879.
      ¦
6. Tufik.
   1879-1891.
7. Abbas Hilmi.
   1891-?

(12) Litam heißt das Tuch, mit dem die Beduinen sich den unteren Teil des Gesichtes verhüllen, um es vor der Sonne zu schützen.
(13) Nusrani ist eine Bezeichnung für Christen, "Nazarener"
(14) "Gawasis" sind die zünftigen Tänzerinnen, die "Almehs" die Sängerinnen, die "Schoara" die Märchenerzähler des Landes.
(15) Dahabie heißen die Nilboote, die für den Personenverkehr eingerichtet sind, in denen man unter Umständen auch monatelang zu wohnen pflegt.
(16) "Reis", heißen die Kapitäne der Nilboote.