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Berufstragik

IN DER GRÜNHEUSTRASSE

Hat jemals ein kühner Psychologe dem Bewegungsgesetz der Erinnerungen nachgespürt? In seltenen Fällen ziehen sie ruhig dahin, auf ihrem stillen Weg nach rückwärts; meist tanzen sie in wunderlichen Sprüngen wie Irrlichter, kreuz und quer, beleuchten auf einen Augenblick hier eine alte Haustür, dort ein schwimmendes Stückchen Holz, hier ein wedelndes Hündchen, dort das Lächeln eines Menschenangesichts, das längst zu lächeln aufgehört hat. Heller leuchten sie auf, je weiter sie rückwärts hüpfen, lassen lange Strecken in tiefer Nacht, um mit einemmal ein jugendliches Glück, einen kindlichen Jammer zu überstrahlen, als schiene die Sonne von heute darauf, ehe alles wieder in bläulicher Dämmerung verschwindet. Es gehört einiger Mut dazu, die Formel zu suchen, welche die Kräfte dieser Bewegung beherrscht, gleitend, haltend, springend, stockend, fast immer rückläufig, bis an einem kritischen Punkt die Auslösung einer geheimnisvollen Feder den ganzen Mechanismus auf den gestrigen Tag vorschnellt und das Spiel von neuem beginnt. Meines Wissens hat es noch niemand gewagt. Ich kann deshalb, unbesorgt, eine Regel zu brechen, den letzten Abschnitt der Erinnerungen, die diese Bändchen zusammenhalten, beginnen, fast wo ich den ersten begann.
Es wird seit bald vierzig Jahren mit jedem Tage unerklärlicher geworden sein, wie das Sträßchen zu seinem Namen gekommen ist: "Grünheustraße". Der Gedanke an schnittreife Wiesen, an duftendes Heu, selbst an einen einfachen ländlichen Kuhstall lag wohl keiner Gasse in der weiten Welt ferner als ihr. Von allen diesen lieblichen Dingen trennten sie Meilen von Back- und Pflastersteinen, die der grimmige Kohlenstaub langsam zudeckte, der auch sie schon mit einer Hülle überzog, ähnlich dem bläulichen Duft auf einer Pflaume. Dies wird heute wohl völlig gelungen sein. Damals war das Sträßchen noch jung und hatte seinen phantasievollen Namen vielleicht der Jugend zu danken. Selbst auf den neuesten Stadtplänen von Manchester war es nur in schüchtern punktierten Linien angedeutet, und wer nicht wußte, daß es im Südosten der gewaltigen Fabrikstadt zu suchen war, konnte es kaum finden. Auch der Verkehr der großen Welt ringsumher hatte es noch nicht entdeckt. Sein etwas mangelhaftes Pflaster und seine schmalen Bürgersteige aus Sandsteinplatten waren sauber wie ein Tanzboden, die zwei niederen Häuserreihen rechts und links hinter umzäunten Zwerggärtchen, die eine fortlaufende Front bildeten, strahlten im warmen Rot frisch gebrannter Ziegel. Zu sechsunddreißig geometrisch gleichen Haustüren führten zweimal sechsunddreißig sauber gescheuerte Sandsteinstufen. Sechsunddreißig Fenster im Grundstock, die durch eine erkerartige Ausbuchtung den Blicken der Neugierigen besonders preisgegeben waren, zweimal so viele kleine Fenster im ersten und einzigen Stock sahen regungslos in die stille Straße. In den Erkern, die zu der schönen Stube des Hauses gehörten, standen genau am gleichen Platze sechsunddreißig Tischchen, auf denen sechsunddreißig Kunstgegenstände den ästhetischen Sinn der Bewohner der Grünheustraße bekundeten. Hier aber zeigten sich Unterschiede. Im ersten Erker kniete ein betender kleiner Gipsengel, im nächsten stand ein Teller mit prachtvollen Äpfeln aus Seife. Dann kam eine Kathedrale aus Papiermasse unter einer Glasglocke. Dieser folgte, nicht unpassend, der betende Engel aus dem ersten Fenster noch einmal, in verkleinertem Maßstab, aber auf einem schwarzen Untersatz, und so weiter. Die zwei Sandsteintreppen und der messingene Klopfer an den kleinen braunen Haustüren waren ohne Ausnahme von musterhafter Sauberkeit. Die Kathedrale, die Seifenäpfel sowie die Engel zeigten auch in dieser Beziehung beachtenswerte Eigentümlichkeiten. Gegen die Fensterscheiben gedrückt stand da und dort neben denselben ein Stück weißer Pappe, auf dem in schwarzen Buchstaben zu lesen war: Zimmer zu vermieten. Das war die Grünheustraße.
Ihre Bewohner waren im Durchschnitt achtbare arme Leute; zum guten Drittel Witwen oder Frauen, denen ihr Mann auf andre Weise abhanden gekommen war; dann aber auch kleine Familien mit selten weniger als sechs Kindern. Die Familienhäupter waren Verkäufer in großen Lagerhäusern, Werkführer in Spinnereien, Buchhalter kleinerer kaufmännischer Geschäfte; alles Leute, die morgens mit großer Pünktlichkeit verschwanden und abends mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks wieder auftauchten. Den Tag über war die Straße ein Kindergarten ohne Baum und Strauch, der an den biblischen "Sand am Meer" erinnerte. Dies gab ihr etwas Sonnenlicht, an dem sie keinen Überfluß hatte. Die schwarzen Rauchwolken der Hunderte von Fabrikschornsteinen im Innern der Stadt sorgten hierfür, wenn der Wind aus Osten kam. Drehte er sich, so kam das schwarze Gewölk aus Salford. - Die Witwen, die in der Küche unter dem Erdboden hausten, pflegten ihre schöne Stube einschließlich der Benutzung der Kathedrale oder der Seifenäpfel und eines der Schlafzimmer im oberen Stock an einzelne Herren zu vermieten. Gelang dies, so verschwand das Stück weißer Pappe auf einige Zeit, manchmal auf Jahre aus dem Fenster. Manche der Frauen verstanden es, ihrem Mieter das Leben in dieser Einöde von Ziegeln und Bausteinen, von endlosen Häuserreihen und kahlen Straßen in allen Ehren erträglich zu machen. In dieser Beziehung sind sie in England geschickter als auf dem Festland. Es wäre auch sonst nicht zu tragen.
Wie die ansässigen Bewohner der Grünheustraße waren auch diese Mieter im allgemeinen achtbare arme Leute. Ich darf so weit gehen, es kühn zu behaupten, ohne die geziemende Bescheidenheit zu verletzen, obgleich ich selbst seit zwei Monaten bei Missis Matthews in Nr. 23 wohnte. Meine Wirtin war die Witwe eines verstorbenen Schloßbesorgers des verstorbenen Lords von Harewoodcastle, hatte, wie die meisten dieser Damen, bessere Tage gesehen, klagte, wie die wenigsten, nicht allzuviel hierüber und lebte von einer kleinen Pension und ihrem Mieter. Sie war eine Musterwirtin ihrer Art, still, aufmerksam, mütterlich. Mein Englisch jener Tage machte ihr den Eindruck rührender Hilflosigkeit, so daß es ganz natürlich war, wenn sie mich auch in andrer Beziehung wie ein noch nicht ganz sprachreifes, allerdings übergroßes Knäblein betrachtete. Dieses Mißverständnis rührte mich meinerseits wieder, so daß sich unser auf gegenseitiger Rührung beruhendes Verhältnis vortrefflich gestaltete und sie namentlich meine täglichen, bisher erfolglosen Wanderungen durch Manchester und seine Umgebung mit besorgter Teilnahme verfolgte.
Ein solches Nest gefunden zu haben, verdankte ich nicht unmittelbar meinem Glück, das sich damals mit auffallender Beharrlichkeit hinter den Rauch- und Rußwolken der Fabrikstadt verbarg. Gleich am zweiten Tage meines Hierseins, als ich mich mit dem Mut der Unwissenheit, den besten Zeugnissen der Welt und einem warmen, wenn auch sehr allgemein gehaltenen Empfehlungsschreiben aus London stammelnd in einer der ersten Fabriken Manchesters - Sharp, Steward & Co. - vorstellte, teils um die Fabrik besichtigen zu dürfen, teils und noch viel mehr in der Hoffnung, ein bescheidenes Plätzchen als Zeichner zu finden, begegnete ich einem halben Landsmann. Dieser, wie ich rasch herausfand, mit einem geringeren Grad von Unwissenheit, mit noch besseren Zeugnissen und zwei Empfehlungsschreiben aus London ausgestattet, verfolgte genau die gleichen Absichten. Wir erzielten auch beide in sehr kurzer Zeit das gleiche Ergebnis, eine artige Verabschiedung, und wanderten gemeinsam eine Stunde später mit hängendem Haupte weiter, jedoch nicht, ehe durch die Besichtigung der brausenden Werkstätten meine Sehnsucht, Zeichner in einer englischen Fabrik zu werden, eine krankhafte Steigerung erlitten hatte. Vielleicht hätte ich meinen neuen Freund nicht kennengelernt, denn ich schleppte noch zu viel schwäbische Schüchternheit und Menschenscheu mit mir herum. Zum Glück aber war Harold Stoß eine andere Natur, und ehe wir durch das Fabriktor von Sharp, Steward & Co. abzogen, empfand ich die Wahrheit des Horazschen: Solamen miseris socios habuisse malorum; vollends als wir zu dritt waren. Denn unter dem Tor befand sich noch ein junger Herr von unzweifelhaft teutonischem Kleider- und Haarschnitt, der soeben ängstlich den Inhalt seiner Brusttasche ordnete: Visitenkarte, beste Zeugnisse und drei Empfehlungsbriefe, um dies alles gleich uns und mit gleichem Erfolg den Herren Sharp, Steward & Co. zu Füßen zu legen. - Die beiden nickten sich zu, der Austretende mit einem spöttisch belustigten Lächeln, der Eintretende mit einem Seufzer, der sich kaum hinter einem freundlichen Gruß verstecken lassen wollte. Dann bat mich Stoß, in der nächsten Bierstube ein Glas Porter mit ihm zu trinken und auf Schindler zu warten, der unfehlbar in zehn Minuten wieder erscheinen werde. Der arme Kerl habe Fabriken genug angesehen und werde sich damit nicht aufhalten. Beide wohnten schon seit einigen Wochen in der Grünheustraße. Stoß empfahl mir sein Nachbarhaus. So kam ich zu Missis Matthews und wurde der Dritte in dem Bunde, der sich das Ziel gesteckt hatte, irgendwo und um jeden Preis in dem damaligen schwarzen Eldorado junger deutscher Ingenieure auf ein paar Jahre unterzuschlüpfen. Es war dies keine kleine Aufgabe, denn es gab zu jener Zeit ähnliche Bünde in erschreckender Anzahl, und das Sprichwort von den vereinten Kräften - viribus unitis - wollte schlechterdings nicht passen, so daß wir schließlich eine geographische Einteilung von Manchester feststellten und wochenweise jedem sein Interessengebiet zuteilten, um uns nicht immer wieder unter den gleichen Fabriktoren schmerzlich lächelnd begegnen zu müssen. Die Zeiten waren schlecht, wie sie es gewöhnlich sind, wenn man etwas von ihnen erhofft. Wir merkten dies nach wenigen Wochen des Suchens und Anklopfens. Aber es half nichts. Jeder Gang durch eine der tosenden Fabriken, jeder Blick auf das Gewirr einer halbmontierten Riesenlokomotive, eines unbegreiflichen Jaquardstuhls, einer Werkzeugmaschine mit ihren ungewohnten, stämmigen Formen kräftigte den sinkenden Entschluß aufs neue, zu siegen oder zu verhungern.
Stoß und Schindler nahmen diese Wochen der Prüfung, die zu Monaten zu werden drohten, verschieden hin. Stoß, ein hübscher, großer junger Mann von fast aristokratischem Äußern und den gefälligsten Umgangsformen, war eine heitere Natur, die sich von der Last des Lebens nicht drücken ließ, solange sie nicht allzu schwer wurde. Er war Österreicher, wenigstens zur Hälfte; das leichtere, muntere Blut des Südens verriet sich in zahlreichen kleinen Zügen. Sein Vater war als pensionierter Major gestorben. Seine Mutter, eine Engländerin, die der Österreicher während der Feldzüge Radetzkys in Italien kennengelernt hatte, lebte in Karlsruhe von ihrer bescheidenen Pension. Auf der dortigen Polytechnischen Schule hatte Stoß die Weisheit und die Formeln Redtenbachers eingesogen, an denen zu jener Zeit die technische Jugend Deutschlands mit Andacht und Verehrung hing. Wie sich so oft die Gegensätze in einer Menschennatur begegnen, hatte er ausgesprochenes mathematisches Talent und eine begeisterte Vorliebe für die trockensten Spekulationen, wenn sie sich in algebraische Formeln pressen ließen. Sobald er seine Konzepthefte, die mit endlosen Berechnungen gefüllt waren, auf die Seite warf, war er dagegen der fröhlichste Gesellschafter, der unverwüstlichste Optimist, und hatte das große Geschick, seiner Umgebung einen Teil der eignen Lebensfreudigkeit einzuflößen. Er war sicher, in der Heimat seiner Mutter nicht bloß sein eigenes, sondern auch seiner Freunde Glück zu machen, und wir glaubten ihm fast, so wenig bis jetzt davon zu verspüren war. Der natürliche Umstand, daß er seine nordische Muttersprache - Muttersprache im wörtlichsten Sinn - mit südlicher Gewandtheit sprach, gab ihm Vorteile, die uns bei einem andern mit schmerzlichem Neid erfüllt hätten. Stoß konnte niemand beneiden.
Ganz anders, eine schwerfällige , echt deutsche Natur war Schindler. Er stammte aus einer Pastorenfamilie in Thüringen und hatte sich an einer preußischen Gewerbeschule für seine englischen Abenteuer vorbereitet. Still und scheinbar melancholisch sah er in die Zukunft, und doch machte er, allerdings mit einem Seufzer, die besten Witze in unserm kleinen Kreise, an denen nur er sich nicht zu erfreuen schien. Er hatte einen Herzenskummer; er liebte, seit seiner Schulzeit, treu und geduldig. Deshalb wollte er so rasch als möglich sein Glück machen, und die Aussichten trübten sich mehr und mehr. Mit einer komisch kleinen Summe war er in Manchester angekommen, hatte hier auf einige Wochen als Zeichner bei einem Zivilingenieur Beschäftigung gefunden, denn Gott verläßt keinen Deutschen ganz, und lebte seitdem von der Summe, die er hier in rätselhafter Weise zurückgelegt hatte, in ebenso rätselhafter Weise weiter. Dabei war er krankhaft fleißig, zeichnete und skizzierte tage- und nächtelang und besaß mnemotechnische Einrichtungen in seinem Gehirn, die es ihm ermöglichten, nach einer einmaligen flüchtigen Besichtigung die komplizierteste Maschine geistig nach Hause zu tragen, aufzuzeichnen und wieder zu vergessen, um für andere Platz zu machen. "Denn was man schwarz auf weiß besitzt!" pflegte er kurz abbrechend mit leuchtenden Augen auszurufen, wenn er uns die Berge von Skizzenpapier zeigte, die seine einzigen irdischen Schätze vorstellten, die er aber für die Grundmauern seines künftigen Hauses und Herdes ansah. Sonst leuchteten seine blauen, etwas kurzsichtigen Augen hinter der großen Stahlbrille nie. Man konnte es ihm nicht verargen; es ging zu Ende mit ihm. Seit einigen Tagen schon hatten Stoß und ich vermutet, daß er in Manchester blieb, weil er nicht mehr weiter konnte. Auch in England befördern Eisenbahnen nur gegen Vorausbezahlung; wenigstens menschliche Ware, die naturgemäß weniger Vertrauen genießt als eine Kiste Stiltonkäse oder eine Dreschmaschine.
Manchmal zeigten sich Lichtblicke am Horizont. Vor ein paar Wochen hatte ich einen Ausflug nach Leeds unternommen und zum erstenmal eine Ausstellung der Königlichen Landwirtschaftsgesellschaft von England gesehen. Ich machte mich ohne Hoffnung und mit wenig Freude auf den Weg, eines Empfehlungsbriefes wegen, den ich von einem Herrn in London erhalten hatte und der an John Fowler gerichtet war. Eine landwirtschaftliche Ausstellung! Vieh, Schweine, Gänse und Enten und landwirtschaftliche Maschinen! Für die letzteren hatte ich wie jeder junge Ingenieur, der sich in den höheren Regionen einer technischen Hochschule bewegt hat, die ausgesprochenste Mißachtung und für die Landwirtschaft von Geburt an eine schwer erklärliche Gleichgültigkeit. Aber ich riß die Augen doch ein wenig auf, schon weil ich in der gewaltigen Fabrikstadt, die ich kaum dem Namen nach gekannt hatte, unter Tausenden von behäbigen Landleuten nur mit größter Schwierigkeit ein Unterkommen finden konnte. Und dann der Maschinenplatz der Ausstellung! Dieses Leben, dieses lustige Klappern und Rasseln, Pusten und Pfeifen, Brummen und Sausen! Diese Hunderte mir völlig unbekannter Formen und Dinge. Mit ehrlichem Staunen stand ich einer großen Industrie gegenüber, die sichtlich ihre Fühler über die ganze Erde streckte und von der ich keine Ahnung gehabt hatte. Man sah den zahllosen Maschinen an, daß sie im praktischen Leben ihre natürliche Eleganz und die Bestimmtheit ihrer Formen gewonnen hatten, daß hundert kluge Köpfe, tausend fleißige Hände an ihrer Entwicklung weiterarbeiteten. Wir schrieben 1862. Wer jene Zeit miterlebt hat, wird mir mein naives Erstaunen verzeihen.
Der Empfehlungsbrief führte wie alle andern zu nichts. Doch lernte ich auf dem Ausstellungsplatz John Fowler kennen, der neben seinem Dampfpflug in der Mitte eines Kreises fröhlich begeisterter Landwirte stand, die nicht aus dem allseitigen Händeschütteln hinauskamen und ihm zu dem eben gewonnenen Preis der Landwirtschaftsgesellschaft Glück wünschten. Ein prächtiger Mann von etwa vierunddreißig Jahren, groß und stattlich, schwarzhaarig und freundlich, mit einem Lachen, das seiner Umgebung auf hundert Schritte wohl tat. Er las meinen Brief, drückte mir die Hand und konnte mich nicht brauchen; jetzt nicht. Vielleicht später. Das sagten die meisten; aber Fowler dachte es auch, man konnte es ihm ansehen. Mein Brief war von einem Quäker, und auch Fowler war Quäker. In dem Brief stand, "daß ich auf dem richtigen Weg sei", woran ich völlig unschuldig war. Allein mein Freund in London meinte es gut mit mir, und solche Dinge sind in England nicht bedeutungslos. Trotzdem mußte ich mich nach zehn Minuten anstandshalber verabschieden, so gerne ich ohne weiteres geblieben wäre. Für Pflüge stand meine Mißachtung noch in voller Blüte. Aber Fowler war einer der seltenen Menschen, die man lieb gewinnt, wenn sie sich mit dem Taschentuch den Schweiß abtrocknen. Zwei Tage schlich ich ab und zu um den Fowlerschen Stand und studierte die Geheimnisse des "Clipdrums", ohne zu ahnen, daß ich mit dessen wirklichem Erfinder, einem bescheidenen Männchen, das noch vor kurzem als Klavierfabrikant tätig gewesen war, mehrfach ins Gespräch geriet; aber auch ohne Herrn Fowler wiederzusehen. Mein Gefühl gegen landwirtschaftliche Maschinen aber hatte eine schwere Erschütterung erlitten, ehe ich mich wieder auf den Heimweg nach Manchester machte. Doch was half's? Ernstlich hatte ich ja nicht erwartet, auf einer landwirtschaftlichen Ausstellung dem ersehnten Ziele näherzukommen. Damit tröstete ich mich auf dem Rückweg, während ich eine Liste der mir bekannt gewordenen Fabriken von Liverpool zusammenstellte, die besuchsweise von Manchester aus abgemacht werden konnten, ehe ich mein Hauptquartier nach Glasgow verlegen wollte.
Acht Tage später machten Stoß und ich einen Ausflug nach Anglesea, der eigentlich der die Insel von Wales trennenden Meerenge, der Menaistreet, galt. Es war unsre erste Vergnügungsfahrt, eine notwendige Unterbrechung der entmutigenden Wanderungen von Fabrik zu Fabrik, die hinter und vor uns lagen. Schindler begleitete uns nur bis zum Bahnhof. Die Ebbe in seiner Kasse erlaubte derartige wilde Ausschweifungen nicht mehr. Die lieblichen Ufer um Bangor, die gewaltigen Berge von Nordwales, der glorreiche Ozean und der frische Seewind, der den Salzgeruch des Meeres bis über die Gipfel von Snowdon und Kadr Idris trug, gaben uns in drei Tagen all den Lebensmut wieder, den wir im Dunst von Manchester seit den Ietzten drei Monaten eingebüßt hatten. Auch waren wir nicht ganz ohne einen technischen Reisevorwand ausgezogen. Stephensons weltberühmte Menaibrücke, die erste ihrer Art, die einen Meeresarm überspannt, hatte namentlich Stoß schon längst angezogen. Zwar übten und ärgerten wir uns an Ort und Stelle gegenseitig ein wenig. Er bestand darauf, nachdem wir einen Vormittag lang an den steilen Abhängen bei Bangor, mit der kastenförmigen Riesenröhre hoch über unsern Köpfen, herumgeklettert waren, mein Skizzenbuch mit Berechnungen anzufüllen, in denen er zu beweisen suchte, daß die Brücke mit der Hälfte des Eisens hätte gebaut werden können, das heute in ihr stak. "Wenn sie rechnen könnten, Eyth! Wenn sie ihren Redtenbacher studiert hätten, diese Engländer!" rief er mit der Begeisterung eines echten Karlsruhers jener Tage und begann das vierte Blatt des besten Whatmanpapiers, das ich je besessen hatte, mit einer neuen Entwicklung seiner Prinzipien zu verunreinigen. Und das alles mitten in einer Gegend, die uns wie ein Paradies anlachte, die mit ihrem sonnigen Meereshorizont hinter jedem Strauch und Felsen einem das Herz vor Sehnsucht sprengte. Ich ließ ihn schließlich machen, was er nicht lassen konnte, und tröstete mich: Ein solcher Kerl wird noch ein berühmter Mann. Dann habe ich auf diesen Blättern ein Andenken von ihm und kann sie vielleicht teuer verkaufen.
Wieder gingen zwei Wochen vorüber mit ihrer einförmigen Folge von Hoffnung und Enttäuschung; dann aber kam's anders. Stoß hatte uns zu einem Abendtee eingeladen, um seinen Abschied zu feiern. Er wohnte bei der Frau eines kleinen Schiffskapitäns, deren Gatte nur alle fünf Jahre auf ein paar Wochen nach Hause kam; eine sehr nette, angenehme Frau, die gelernt hatte, mit außerordentlich bescheidenen Mitteln große Festlichkeiten zu veranstalten, und deshalb von uns dreien hoch verehrt wurde. Die deutsche Kneipe bestand für uns kaum mehr: man gab sich gegenseitig Tee mit darauffolgendem Whisky oder Brandy. Nach deutscher Art rollten wir bereits auf der schiefen Ebene der Anglisierung lustig dahin. Stoß war wesentlich schuld daran. Bei ihm kam es natürlich von der Mutter Seite. Man zog sogar in solchen Fällen zu gegenseitiger Ehrung seinen besten Rock an. Zum landesüblichen Frack hatten wir es allerdings in dieser Vorbereitungsklasse des Lebens, in der wir saßen, noch nicht gebracht.
Pünktlich um sieben Uhr abends setzte ich Missis Stevens' glänzend gescheuerten Türklopfer in Bewegung und wurde von Stoß mit seiner gewohnten, etwas stürmischen Freude empfangen. Er hatte in der Tat Ursache, fröhlich zu sein; denn nach allen Anzeichen war für ihn die harte Zeit des Suchens und Wartens vorüber. Und auch Schindler schien endlich ernstliche Aussichten zu haben, den Lohn seiner Beharrlichkeit zu finden. "Wir werden ihn wahrscheinlich erst in einer Stunde sehen", erklärte mir Stoß. Er hatte sich noch gestern abend in der Aufregung über den bevorstehenden Abgang unseres Freundes rasch entschlossen, nach Derby zu fahren, wo ihm das heißersehnte Ziel wieder einmal winkte. "Ein kurioses Ziel!" lachte Stoß, halb verlegen, halb belustigt, wollte aber nichts weiter mitteilen. Schindler werde schon selbst berichten, wenn er komme. Sein Zug könne nicht vor acht Uhr hier sein. Das sei aber kein Grund, weshalb wir nicht unsern Tee trinken sollten, da Frau Stevens ihm später einen frischen Topf brauen könne.
Wir setzten uns an dem sauberen, wohlversehenen Teetisch nieder, dem ein Strauß mächtiger Dahlien das erforderliche festliche Aussehen gab. Den Umständen entsprechend bestand das Festmahl aus zwei Gebirgen von goldgelbem köstlichem Toast und zwei gebratenen Heringen; der dritte wurde zurückgelegt. Dann sahen wir der üblichen kalten Hammelkeule mit Pfefferminzsauce und Pickles entgegen, und zum Schluß winkten zwei Töpfe Marmelade, eingemachte  Johannisbeeren und die Reste eines Stiltonkäses; alles reinlich, nett und freundlich. Nur Frau Stevens selbst warf einen bekümmerten Scheideblick auf den Tisch und wollte sich durch das Lob, das ich der vortrefflichsten Wirtin der Grünheustraße spendete, nicht aufrichten lassen. Der Verlust ihres Mieters lag schwer auf ihrem Gemüt, und da ihr Mann erst vor drei Jahren hier gewesen war und vor kaum vier Monaten geschrieben hatte - sein Schoner lebte zwischen Hongkong und Singapore -, so sah sie einer freudlosen Zukunft entgegen.
Stoß, dieses fröhliche Kieselherz, war um so vergnügter und erzählte mir zwischen dem Hering und der Marmelade, wie sich alles so plötzlich und unerwartet gestaltet hatte.
"Ich bin zu der Überzeugung gekommen, Eyth, daß man nichts in der Welt verachten darf - nichts!" sagte er, indem er mit der ihm eignen aristokratischen Feinheit das Gerippe seines Herings umdrehte, um zu sehen, ob auf der unteren Seite nicht noch etwas Fleisch hängengeblieben war. "Meine Mutter hat aus ihrer Jugendzeit noch ein paar alte Freundinnen in London, von denen ich natürlich nichts erwartete. Eine derselben - eine Miß Plunder - hat ein kleines Pensionat bei Richmond, soviel wir wußten. Die Nachbarvilla gehört einem Mister William Bruce, Zivilingenieur seines Zeichens und beratendes Mitglied des Direktoriums der Nordflintshire-Eisenbahn (1), welcher sein Geschäftsbureau in London hat und seit zwanzig Jahren in aller Welt Brücken baut. An diese Freundin schrieb meine Mutter in ihrer Herzensangst um ihr Söhnchen, und Bruce hatte das Glück, über die gemeinsame Gartenmauer hinweg von meinem Dasein zu hören, das ihm bisher völlig entgangen war. Auch ich hatte von dem Vorhandensein des berühmten Herrn Bruce erst über Karlsruhe einige verschwommene Nachrichten erhalten, beehrte ihn aber trotzdem vor acht Tagen mit einem Schreiben, in welchem ihm meine unschätzbaren Dienste angeboten wurden. Merkwürdigerweise nahm er dies ziemlich kühl auf. Doch erhielt ich, nicht ganz umgehend, eine Antwort mit der Aufforderung, wenn ich gelegentlich nach London komme, möge ich ihn in seinem Bureau, Westminsterstraße Nr.18, aufsuchen. Das war letzten Freitag. Die Gelegenheit bot sich unerwartet rasch; denn am Samstag früh saß ich bereits in einem Eisenbahnwagen, auf dem Wege nach London, und fuhr vom Bahnhof mit dem besten Pferd eines guten Cabs nach Westminsterstraße, wo bekanntlich, wie in einem Bienenkorb, alle berühmten Zivilingenieure der Welt, das heißt der englischen Welt, beisammen hausen. Nicht ganz ohne Hochachtung betrat ich das geheiligte Pflaster, und die palastartige Häuserfront mit ihren weltberühmten Namen auf glänzenden Messingplatten rieselte mir über den Rücken wie ein Anflug unpassender Bescheidenheit. Es war fast ein Uhr, ehe ich vor Nr.18 anlangte, am Sonnabendnachmittag aber schließen die Könige unseres Berufs die Bude. So kam es, daß ich Herrn Bruce kennenlernte, als er eben seine strohgelben Handschuhe anzog und seine sechs Zeichner, die in einem großen hellen Saal hausen und sechs Brücken für fünf Weltteile entwarfen, bereits freiheitstrunken mit den Reißschienen klapperten. Ein schöner, stattlicher Mann in weißer Weste, mit einem gewaltigen goldblonden Bart, den er liebevoll streichelt, so oft ihm die Gedanken stillstehen. Man kann sich in seiner Gegenwart vernunftloser Hochachtung kaum erwehren. Er las meine Karte, sah mich fragend an und strich seinen Bart etwas ungeduldig; es half offenbar nichts. Ich fing an, mich zu erklären, und war bald im ruhigen, gewohnten Fahrwasser. Wir haben uns in den letzten zwei Monaten einige Übung in der Behandlung ähnlicher Fälle erworben. Sein Antlitz verdüsterte sich. Ich fühlte, wie mitten in meinem schönsten Satz die Hoffnungslosigkeit ihre eiskalte Hand auf meine Schulter legte. Auch das kennen wir zur Genüge. Plötzlich überzeugte mich ein leises vergnügtes Zucken im Gesicht des großen Mannes, daß ihm ein Licht aufging. - 'Ah - ah - die alte Miß Plunder - über der Gartenmauer' - murmelte er, 'ich weiß, ich weiß! - Aber ich habe keine Zeit jetzt, Herr Stoß. Man kommt nicht Samstag nachmittags. - Wissen Sie was? Morgen ist Sonntag. Sie sind ein Verwandter von Miß Plunder - wie? - Kommen Sie morgen nachmittag zu mir nach Richmond hinaus, Princess Road, Irawady Villa. Kommen Sie um vier; wir speisen um fünf. Dann kann ich Sie in Ruhe anhören. Adieu!' - Er war zur Türe hinaus und die Marmortreppe hinunter, ehe ich recht wußte, wie mir geschah. Die sechs Zeichner sahen mich einen Augenblick mißtrauisch an, klapperten dann noch heftiger mit Schienen und Winkeln auf ihren Reißbrettern und warfen mit der Behendigkeit von Verwandlungskünstlern ihre Geschäftsröcke ab. Als ich zur Türe hinausging, hörte ich einen zu den andern sagen: 'Das verdammte Narrenglück dieser Ausländer! Der Teufel soll sie holen!' - "Wir haben seit drei Monaten nicht viel von ihm verspürt, Eyth? Wie?"
"Vom Teufel?" fragte ich, bereit, meinem Freund heftig zu widersprechen.
"Vom Glück!" erklärte er begütigend, so daß ich ihn fortfahren lassen konnte. "Nun aber kam's wirklich und wahrhaftig in seiner ganzen Glorie, wenigstens auf einen Sommernachmittag. Es war ein prachtvoller Tag, und das Themsetal um Richmond herum ist ein Paradies, wenn die Sonne scheint. Diese Blumen und Sträucher, diese Gärten und Parke, diese vornehme Stille, dieser freudige Glanz, dieser Duft über allem, der den nächsten grünen Hügel zu einem Waldgebirge macht und den kleinen Fluß in der Ferne blitzen läßt, als sei's der stolzeste Strom des Kontinents. Ich hatte einige Mühe, Irawady Villa zu finden. Ein wundervoll gehaltener Garten, mit Bananen und Palmetten, Blutbuchen und weißem Flieder bestockt, führte zum Haus hinauf und auf der andern Seite nach der Themse hinunter. Das Haus war nicht groß, nicht allzu vornehm, aber behaglich und reich ausgestattet mit allem, was das Leben lebenswert macht. Wenn ich diesen verspeisten Hering ansehe, Eyth, welcher Gegensatz!"
Er ergriff den Glockenzug am Kamin.
"Frau Stevens, Sie können die Heringe wegnehmen! Lassen Sie das dritte Gedeck nur liegen; Herr Schindler muß in zwanzig Minuten hier sein."
"Wo steckt er denn eigentlich? Derby ist keine bedeutende Fabrikstadt, soviel ich weiß", bemerkte ich, indem ich mich nach englischem Brauch daranmachte, die kalte Hammelkeule meines Freundes zu zerlegen, die vor mir stand.
"Man soll nichts im Leben verachten!" rief Stoß zum zweitenmal.
Er triefte heute von Lebensweisheit, vermutlich, weil er jetzt im Hanfsamen saß und wir armen Sperlinge noch nestlos auf den Hecken umherhüpften. Das gab ihm ein Recht, uns zu belehren. Dann fuhr er fort: "Meine mehrerwähnte Miß Plunder, die ich übrigens noch heute nicht gesehen habe, schrieb im gleichen Brief, in welchem sie meiner Mutter die Irawadyvilla verriet, daß ihr Bruder mit großem Erfolg die maschinenmäßige Erziehung von kleinen Jungen in Derby betreibe, und daß dieses hervorragende Institut einen Lehrer der französischen Sprache suche. - Du weißt doch, daß Schindler in Paris geboren ist?"
"Nicht möglich", rief ich fast entsetzt. Ich kannte keinen Menschen, der urdeutscher aussah als der gute Schindler.
"Tatsache!" versicherte Stoß. "Sein Papa ist in jüngeren Jahren Prediger an einer deutsch-evangelischen Kirche oder Kapelle in Paris gewesen. Wie er dazu kam, wissen die Götter, die die deutsch-evangelische Kirche im modernen Babylon damals geleitet haben mögen. Auf dieser Grundlage weiterbauend, ließ der betörte Mann das Pfarrtöchterlein aus Westfalen kommen, das er seit fünfzehn Jahren treu geliebt hatte, und heiratete sie, wahrscheinlich auf dem Wege der Selbstkopulation. Du siehst, unser Schindler hat seine rührende Treue nicht gestohlen; er ist erblich belastet. Jedenfalls waren seine Eltern ein seltenes Pärchen in Paris. Auch dauerte es nicht lange. Kaum erblickte unser Freund das Licht der Welt, so schrie er unablässig nach seinem wahren Vaterland. Der bedrängte Vater erhielt endlich sein geordnetes Pfarramt in Thüringen; der kleine Schindler verließ in seinem siebenten Monat Paris und war von dieser Stunde an der zufriedenste Mensch auf Gottes Erdboden. Ich habe das alles von ihm selbst; es muß also wahr sein."
"So erklärt es sich zur Not!" sagte ich, mich beruhigend.
"Seine Zufriedenheit hindert ihn jedoch nicht", fuhr Stoß fort, "augenblicklich in einer wirklichen Notlage zu sein. Er hat nämlich seit einiger Zeit tatsächlich nicht mehr genügend Geld, um nach Hause zu kommen, auch eine Folge der wahnwitzigen Sucht, in übereilter Weise eine Familie zu gründen. So viel könnten wir ihm vielleicht vorstrecken. Wenn einer seine Schulden bezahlt, so ist es Schindler. Eine sicherere Kapitalanlage wäre nicht zu finden, wenn wir einmal unter die Kapitalisten gehen, wozu du besonders veranlagt bist, Eyth. Also, geniere dich nicht. Inzwischen habe ich ihm verraten, was der Schulmeister in Derby sucht. Meine Londoner Erfolge haben ihn dermaßen aufgeregt, daß er heute früh hinfuhr."
"Kann er Französisch?" fragte ich entrüstet. Der leichtfertige Ton , den Stoß anschlug, gefiel mir nicht. Die Sache war doch zu ernst für unsern guten Schindler.
"Ist er nicht in Paris geboren? Hat er nicht eine Braut in Thüringen? Die Liebe kann schließlich alles", antwortete Stoß mit einem siegreichen Lächeln. "Aber unterbrich mich nicht fortwährend. Ich komme jetzt zum interessanteren Teil meines Reiseberichts.
Unter den Riesenblättern eines Bananenbusches empfing mich in dem Paradiesgarten, den ich nicht weiter schildern will, eine kleine Eva, die ich dir nicht schildern kann. Blaue Augen, goldene Haare, ein Wuchs wie eine Tanne in deinem Schwarzwald, ein Mund - eine Nase - ein Paar Ohren - kurz, wie um aus der Haut zu fahren und ihr an den Hals zu fliegen. Du verstehst mich. Dabei nichts Gefährliches: zwölf oder dreizehn Jahre, das Alter, in dem sie bei uns völlig unmöglich sind. Ich mußte mich tüchtig zusammennehmen, als sie mich nach dem schattigsten Teil des Gartens führte, wo ihr Papa im Gras lag, so lang er war. Er befand sich in Hemdsärmeln; in seinem Bart hing etwas Heu; er war ein völlig andrer Mensch als der von der Westminsterstraße. Als er seinen Engel sagen hörte: 'Papa, hier ist der fremde Herr!' drehte er den Kopf ein wenig, ohne sich zu erheben. 'Hallo, Herr Plunder', sagte er dann sehr ruhig, 'schön, daß Sie kommen. Legen Sie sich hierher. Wir können am besten so sprechen.' Ich gehorchte, nicht ohne einige Verlegenheit, und blieb 'Herr Plunder' für den Rest des Nachmittags. Der Empfang hatte etwas Ungewohntes, namentlich da Herr Bruce längere Zeit kein Wort mehr sagte und, wie mir schien, einzuschlafen drohte. Tiefe Stille herrschte ringsum. Bienen summten. Da und dort regte sich ein leises Rauschen in den Bäumen. Nur von der Themse her, die sonnig durch das Buschwerk blinkte, hörte man von Zeit zu Zeit einen fernen, fröhlichen Ruf.
'Wie gefällt Ihnen das?' begann er nach einer Zehnminutenpause. 'Sehen Sie, das ist der einzig wahre Genuß im Leben. Im Gras liegen, den blauen Himmel ansehen und ein Blatt oder zwei, die im Wege hängen. Ich kenne nichts Himmlischeres zwischen der Themse und dem Irawady.' Dann war er wieder still, fünf Minuten lang.
Doch nach und nach kam ein Gespräch in Gang. Er wollte wissen, woher ich komme, was ich getrieben habe, wie ich zu meinem Englisch gekommen sei. Ich erzählte ihm gewissenhaft, was ich davon wußte, sprach von den polytechnischen Schulen in Deutschland und begann von meinen Zeugnissen zu fabulieren. Ich hatte sie natürlich in der Tasche und lag darauf.
'Der Kuckuck hole Ihre Zeugnisse!' rief er plötzlich lebhaft, zog eine goldene Bleifeder aus der Westentasche, griff nach einer der Zeitungen, die um ihn her im Grase lagen, schrieb nachdenklich etwas auf ihren Rand und reichte mir das Blatt. 'Lösen Sie mir das!'
Es waren zwei ziemlich harmlose Gleichungen zweiten Grades mit zwei Unbekannten, deren Lösung ohne Schwierigkeit auf dem Rest des Zeitungsrandes Platz fand. Jetzt erst setzte sich Herr Bruce auf, sah mich näher an und schien plötzlich zu energischer Tätigkeit zu erwachen. 'Es ist Zeit zum Ankleiden fürs Mittagessen, Herr Plunder, vielmehr Herr Stoß', sagte er im freundlichsten Tone. ,Sie haben keinen Frack hier?'
'Ich hatte keine Ahnung, daß ich die Ehre haben würde' stotterte ich, nun ebenfalls aufstehend.
'Auch gut!' meinte Bruce. 'Missis Bruce wird Sie entschuldigen. Kommen Sie!'
Wir holten ohne weitere Umstände Missis Bruce, die im benachbarten Gebüsch zwischen zwei Bäumen hing, aus ihrer Hängematte herunter. Nach einer Viertelstunde saßen wir unter der schattigen Veranda bei einem kleinen, einfachen, aber vortrefflichen Mittagsmahl. Bruce, der aufmerksamste Wirt, behandelte mich, als ob ich zehn Brücken für Indien zu vergeben hätte; Missis Bruce war liebenswürdig, wenn auch etwas zurückhaltend und erschöpft, von der Hängematte her; die zwei kleinen Miß Bruce waren dagegen um so lebhafter. Ich war ihnen als Deutscher hochinteressant, weil davon die Rede gewesen war, sie auf ein Jahr nach Bonn zu schicken. Sie wollten wissen, weshalb nicht alle Welt Englisch spreche, da ich es doch auch könne und es die einzige Sprache sei, in der man sich verstehe.
'Es wird schon kommen, Ellen!' meinte Bruce mit der Oberzeugung des Engländers aus der Zeit Palmerstons.
'Also!' rief Miß Ellen. 'Warum soll ich dann nach Bonn? Wenn manchmal ein deutscher Herr zu uns herauskommt, so spricht er ganz ordentlich Englisch. Das genügt mir völlig, Papa. - Maud, es ist nichts mit Bonn. Mama behält recht; wir bleiben, wo es am schönsten ist. Komm, spielen wir!'
Die Mädchen - ich kann dir sagen, Eyth, ein wahres Engelspärchen - verliefen sich wieder im Garten, und die Mama folgte ihnen. Bruce und ich blieben beim Sherry sitzen, bis es Dämmerung und Zeit für mich wurde, an meinen Zug nach der Stadt zu denken. Er hatte mir ein zweites Problem vorgelegt: die Berechnung eines eigentümlichen Gitterbalkens unter einer Belastung an drei Punkten. Es schien etwas aus seiner Praxis zu sein, denn er sah das Ergebnis - die Stärke der zu verwendenden Flacheisen - lange schweigend an, schüttelte den Kopf, nickte wieder, sagte dann kurz: 'Das geht nach Kanada!' und steckte das Papier in die Tasche. Dann begann er in der harmlosesten Weise von seinen Arbeiten zu erzählen, von Viadukten in Neuseeland, von Brücken in Bengalen, von einer riesigen Markthalle in Kalkutta. Die Welt schrumpfte zu einem Kügelchen zusammen, auf dem wir herumhüpften, bald mit dem Kopf, bald mit den Füßen nach oben, wie Fliegen auf einem Apfel. Und überall große Pläne, Arbeit in Menge und Ausblicke in die Zukunft, daß einem die Augen übergingen. Dabei blieb er so ruhig und kühl, als verstände sich alles von selbst, als brauchte er nicht vom Stuhl aufzustehen, um alle Weltteile zu übersehen. Ein andrer Horizont als in Karlsruhe, Eyth! Ich wunderte mich schließlich mehr über mich als über ihn, daß er mir das alles sagte und dabei nicht vergaß, mein Sherryglas zu füllen. Aber ich brauchte mich nicht zu beunruhigen. Er sprach mehr für sich als zu mir. Es war sein Sonntagnachmittagstraum. Schließlich begleitete er mich bis an das Gartentor, unter dem er plötzlich stehenblieb. Wie mit einem Ruck ging eine Veränderung in ihm vor. Das Traumgesicht verschwand, das Geschäftsgesicht kam zum Vorschein, bestimmt, scharf, mit einem leisen Zug von Ironie um den halb versteckten Mund. Dann sagte er:
'Ich brauche einen Rechner. Wann können Sie eintreten?'
'Am Mittwoch, Herr Bruce!' sagte ich. Du kannst dir denken, wie mir zumute war.
'Gut! Bis Mittwoch also. Adieu!'
"Und um es nicht zu vergessen!" - Stoß machte einen völlig mißlungenen Versuch, Gleichgültigkeit zu heucheln - "am Ende der Gartenmauer, an der mich der Weg zum Bahnhof hinführte, steht auf derselben ein mit Efeu völlig überwachsenes Gartenhäuschen, eine kleine eiserne Pagode, wenn man das Ding näher ansieht. Als ich, noch halb betäubt von der plötzlichen Wendung der Dinge, unter demselben weiterging, wurde von unsichtbaren Händen ein Korb voll Blumen auf mich herabgeschüttet, so kunstvoll und energisch, daß mein Hut in einem Blumenregen davonrollte und das silberne Lachen von zwei Kinderstimmen - das heißt ziemlich großen Kinderstimmen - mich in keinem Zweifel ließ, wer mich in dieser lieblichsten Weise verabschiedet hatte. Das nennen sie hierzulande 'practical jokes'. Sie sind eben praktisch, wo sie die Haut anrührt, diese Engländer!"
Ich fand Stoß' Begeisterung für seine Engländer mehr und mehr unbegreiflich, je öfter er auf den Blumenregen zurückkam, dem er sichtlich eine übertriebene Bedeutung beilegte. Doch hinderte ihn dies nicht, dem kommenden Ernst des Lebens fröhlich entgegenzugehen. Unser Tee war beendet. Wir rückten nach Landessitte an das offene Kamin, das statt des Feuers mit Papierschnitzeln zierlich gefüllt war, und begannen Vorbereitungen für das übliche Glas Brandy oder Whisky zu treffen, als sich Schindler, von seiner eigenen, neugierigen Witwe gefolgt, im Gange hören ließ. Wir empfingen ihn mit den gebührenden Freudenbezeigungen, um so mehr, als er der Ermutigung bedürftig schien. Rasch war die zweite Auflage des Tees und der dritte Hering zur Stelle. Da er versicherte, einen Wolfshunger mitgebracht zu haben, ließen wir ihn für den Augenblick in Frieden, bis auch er seinen Stuhl ans Kamin schob und wehmütig den Zucker im dampfenden Glase umrührte.
"Nun, alter Freund!" rief Stoß, klopfte derb auf seine Schulter und steckte ihm eine Zigarre in den Mund. In seiner Freude konnte er Schindlers bekümmerte Miene nicht länger untätig ansehen.
"Raff dich auf! Ist's mißlungen?"
"Nein!" antwortete dieser, ohne Neigung zu zeigen, weiterzusprechen.
"Aber was der Kuckuck machst du dann ein Gesicht wie eine verwitwete Nachteule?"
"Weil es gelungen ist, Stoß, über alles Bitten und Verstehen gelungen", rief Schindler mit plötzlich erwachender Heftigkeit. "Ich glaube, ich bin ein verlorener Mann!" Er sah in stummem Leid wieder in sein Brandyglas.
"Du hast doch auf dem Heimweg nicht etwa zuviel getrunken?" fragte ich teilnehmend.
"Ich wär's imstande, und, bei Gott, ich wäre berechtigt dazu antwortete er und leerte sein Glas mit einer komisch desperaten Bewegung, die er vielleicht zum erstenmal im Leben versucht hatte. Schindler war keine theatralisch angelegte Natur. Der Brandy aber tat ihm gut. Er wurde ruhiger und fühlte sich genügend gestärkt, um einen unzusammenhängenden Bericht seiner Abenteuer zu erstatten.
Um zehn Uhr war er in Derby angekommen und hatte ohne große Schwierigkeit Doktor Plunders berühmtes Knabeninstitut aufgefunden. Die Knaben schienen, in Derby wenigstens, berühmt genug zu sein. Ein altes, etwas zerfallen aussehendes Gebäude stand in einem ziemlich großen, von einer Mauer umgebenen Garten, der mannigfache Spuren jugendlicher Tätigkeit aufwies. Die eine Hälfte war in einen Spielplatz umgewandelt, auf dem etliche zwanzig gesunde, kräftig und - nach Schindler - boshaft aussehende Jungen mit furchtbarem Ernste und gelegentlich wildem Geschrei Kricket spielten. Als er über den Platz dem Haustor zu ging, traf ihn der Kricketball schmerzhaft an den Hinterkopf. Die Jungen waren hierüber in hohem Grade entrüstet, obwohl er, halb betäubt, sich zu entschuldigen suchte. Doch hatte der Zwischenfall auch sein Gutes. Der Doktor erschien unter der Haustür, nahm ihn nicht allzu unfreundlich unter seinen Schutz und führte ihn in sein Studierzimmer.
"Das erinnert mich lebhaft an meinen Blumenregen, Schindler", sagte Stoß träumerisch. "Wir scheinen beide Glücksvögel zu sein, jeder in seiner Art. Hat es dir auch den Hut vom Kopf geschlagen?"
"Hast du auch eine faustgroße Beule am Hinterkopf?" fragte Schindler etwas gereizt, ehe er fortfuhr. Der Doktor, ein riesiger Fettklumpen, wohlgeölt, würdig und wohlwollend, schien kein übler Mann zu sein. Er half dem neuen Kandidaten freundlich über den stotternden Anfang der Vorstellung weg. Dieser erzählte, wie er durch seinen Freund Stoß, dessen Mutter eine intime Freundin der verehrten Fräulein Schwester des Herrn Doktors sei, erfahren habe, daß das berühmte Institut eines neuen französischen Lehrers bedürfe. Er komme, um sich um diese Stelle zu bewerben.
"Sehr schön, sehr schön!" meinte der Direktor, der mit dem Blick eines weltkundigen Menschenkenners sofort bemerkte, daß er einen billigeren französischen Professor schwerlich gewinnen könne. "Sie haben wohl Zeugnisse, Papiere, Referenzen?" fragte er aber trotzdem mit würdiger Zurückhaltung.
"Zeugnisse - gewiß - das heißt -" stotterte Schindler und griff nach seiner wohlgefüllten Brusttasche. Seine Zeugnisse waren ja ausgezeichnet, berührten aber, wie ihm plötzlich schwer aufs Herz fiel, seine Leistungen im Französischen nicht im geringsten. Die wenigen auf seine sprachlichen Kenntnisse bezüglichen Papiere aus der Gymnasialzeit waren die einzig mittelmäßigen, die er besaß, und trotzdem hatte sie der ehrliche Mensch mitgenommen.
"Sie sehen, Herr Direktor", sagte er mit dem Mut der Verzweiflung, ehe er diese entfaltete, "ich bin ein geborener Pariser, wie Ihnen hier mein Paß bestätigt. Und so ist es wohl nicht unerklärlich, daß ich keinen Wert auf Zeugnisse bezüglich meines Französischen legte.
Dies war eine geschickte Lüge, wenn man berücksichtigt, daß es eine seiner ersten war. Der Gedanke an die ferne Braut hatte sie ihm abgerungen. Sie wirkte wie ein leichter, angenehmer elektrischer Schlag.
"Pariser! Ausgezeichnet! Ganz vortrefflich!" rief der Doktor. "Dies dürfte einen vortrefflichen Eindruck machen. Es ist mir leider selten gelungen, einen geborenen Franzosen dauernd an mein Institut zu fesseln. Einen geborenen Pariser könnte ich als Stern erster Größe bezeichnen. Lassen Sie Ihre Zeugnisse nur in der Tasche: ich bin völlig befriedigt, Mosiu Skindl!"
"Ich habe allerdings darauf aufmerksam zu machen", stotterte Mosiu Skindl, dessen deutsches, in einem wackeren Pfarrhaus geschärftes Gewissen erwachte, "daß ich Paris schon ziemlich jung verließ."
"Papperlapapp!" "Woher der Doktor das Wort hatte, ist unbekannt, er hielt es für französisch - "Sie sind noch jetzt ein junger Mann, Mosiu Skindl. Das geht uns nichts an. Ihr Paß ist nicht gefälscht, das sieht man Ihnen sofort an."
"Aber ich kam jung, ganz jung nach Deutschland!" Schindler bestand eigensinnig darauf, sich zu erklären.
"Nach Deutschland!" rief der Doktor und machte die Gebärde des Fliegens, als ob er sich mit jugendlicher Leichtfertigkeit über all das wegzusetzen gedenke. "Um so besser! Darauf komme ich noch zurück. Das ist wirklich ein ganz wunderbares Zusammentreffen glücklicher Umstände. - Was sind Ihre Bedingungen?"
Schindler war der bescheidenste Mensch der Welt. Trotzdem verdüsterte sich die Miene des Herrn Doktors ein wenig.
"Hm - hm!" machte er und rieb sich sein fettes, glattes Kinn heftig.
"Ihrem Herrn Vorgänger hatte ich allerdings ein Drittel, ein volles Drittel weniger Gehalt zu bezahlen. Kost und Wohnung frei. Auch die Wäsche. Beachten Sie wohl, auch die Wäsche! Da scheint mir doch die von Ihnen genannte Summe etwas hoch."
"War mein Herr Vorgänger auch geborener Pariser?" fragte Schindler, dem es an Galgenhumor nicht fehlte, wenn ihm das Wasser an die Kehle ging.
"Nein, das nicht", gestand der Direktor; "wir konnten ihn in unsern Anzeigen nur als hervorragenden Franzosen anführen, wenn wir streng bei der Wahrheit bleiben wollten; und wir bleiben grundsätzlich bei der Wahrheit, Mosiu Skindl, schon der uns anvertrauten Jugend wegen. Er war von Schaffhus."
"Aber Schaffhausen liegt nicht in Frankreich", bemerkte der unerschütterliche Schindler.
Nicht? Was Sie sagen!" rief der Doktor erstaunt. "Nun ja, wie dem auch sein möge: in andrer Beziehung war er um so mehr Franzose. Allzusehr! Ich mußte mich von ihm trennen, weil es sich nach kurzer Zeit herausstellte, daß zwei liebende Bräute aus Derby auf sein Herz Anspruch erhoben. Dazu ist Derby zu klein. Ich hoffe, Herr Skindler, daß Sie Grundsätze haben. Ich sehe auf die strengste Achtbarkeit, selbst bei meinem Professor der französischen Sprache."
Schindler beruhigte ihn mit der Bemerkung, daß er eine heißgeliebte Braut in Deutschland zurückgelassen habe.
"Das ist mir lieb; lassen Sie sie nur zurück", meinte der Doktor.
"Und wissen Sie was: Geben Sie eine kleine Probelektion. Das genügt und ist mir mehr wert als alle Zeugnisse. Ich werde mir erlauben, anwesend zu sein, und danach das Gehalt zu bestimmen, das ich Ihnen auszusetzen berechtigt bin."
Er öffnete ohne weitere Umstände das Fenster und brüllte mit der Stimme eines Posaunenengels über den Spielplatz: "Die jungen Gentlemen der ersten Klasse sofort antreten! Französische Lektion!" Schindler trocknete sich die Schweißtropfen von der Stirn, während das wilde Heer über die Treppen tobte und durch donnerähnliches Zuschlagen von Türen andeutete, daß sich die jungen Gentlemen, tiefgekränkt durch die Unterbrechung ihres Spiels, versammelten. Nachdem etwas Ruhe eingetreten war, betrat der Doktor, von Schindler gefolgt, das Schulzimmer. Der letztere hing den Kopf wie ein Opferlamm, das zur Schlachtbank geschleppt wird. Er hätte der hoffnungsvollen Jugend lieber auf dem Kricketplatz noch zehnmal zur Zielscheibe gedient.
Die Klasse bestand aus zehn großen, kräftigen Burschen von fünfzehn bis sechzehn Jahren, mit roten, blühenden Gesichtern, alle noch keuchend von den Anstrengungen des Spiels. Der Doktor gab Schindler ein Buch in die Hand und sagte feierlich: "Die jungen Herren lesen die schwierigeren Kapitel von Fénélons 'Telemach'. Wollen Sie anfangen lassen?"
Schindler raffte sich auf. "Bitte", stotterte er, das Buch aufs Geratewohl aufschlagend, "lesen Sie auf Seite 27 den ersten Abschnitt."
Ein langer Junge begann mit durchdringender Stimme siegesbewußt:
"Gwand onk ä diu köratsch, onk weint äbaut diu taut."
Der Doktor nickte befriedigt. Schindler fühlte sich gerettet: hier konnte er noch wirken. Er machte darauf aufmerksam, daß man neuerdings zu Paris nicht "Gwand", sondern "quand", nicht "Korätsch", sondern "courage" zu sagen pflege, was die Jungen mit skeptischem Lächeln hinnahmen, dem Doktor aber ein zweites Nicken der Billigung entlockte. "Auch die Aussprache von 'on' in der Form von 'onk' ist nicht ganz richtig", fuhr der neue Professor fort, "obgleich ich weiß, daß Engländer, die Frankreich häufig bereisen, 'Didonk, garsonk!' statt 'Dites donc, garcon' zu sagen vorziehen. Man sagt 'on', 'donc', 'gargon'. Überhaupt wird das Französische mehr mit der Nase gesprochen. Sie müssen sich diese Eigentümlichkeit anzueignen suchen, meine Herren." - Diese Bemerkung wurde mit großem Beifall aufgenommen. Auf der zweiten und dritten Bank wurden sofort eigentümliche, kaum menschliche Laute hörbar und entsetzliche Grimassen geschnitten, um dem Wunsch des Herrn Professors wenigstens versuchsweise entgegenzukommen. Die Lektion dauerte eine Viertelstunde, in deren Verlauf der ermutigende Satz von allen Seiten beleuchtet und schließlich von den Schülern so ausgesprochen wurde, daß man ihn fast verstehen konnte. - Befriedigt  klappte der Direktor sein Buch zu. Selbst er hatte viel gelernt.
"Eine schöne Wahrheit, eine große Wahrheit, Herr Skindler", rief er. "Quand on a du courage, on vient ä bout du tout! Sehr wahr, sehr wahr! - Ihr könnt weiterspielen, Jungen!" - Das wilde Heer stürmte hinaus. Es war ein erhebendes Gefühl, durch das offene Fenster vom Spielplatz her zwischen den Schlägen der Kricketbats den lauten Ruf: "Quand on a du courage!" zu hören.
"Ich bin zufrieden, ich bin sehr zufrieden", sagte der Doktor lauschend. "Sie scheinen ein geborener Lehrer zu sein, Herr Skindler. Nur auf eins möchte ich Sie aufmerksam machen. Alle Franzosen, die den Sprachunterricht in meinem Institut leiteten - gütiger Himmel, ich hatte schon über ein Dutzend! -, auch der von Schaffhus, machten, wenn sie im Schulzimmer auf und ab gingen, ganz kleine, zierliche Schritte. - Ganz kleine, zierliche Schritte, Herr Skindler! Sehen Sie, so -."
Der fette Koloß gab eine Vorstellung.
"Daran erkennen wir den wahren Franzosen sofort - Sie, Herr Skindler - ich bedaure, es sagen zu müssen -, machen ganz unförmliche, riesig lange Schritte. Sie haben sich dieselben wahrscheinlich in Deutschland angewöhnt. Dies erregt Zweifel. Man kann nicht jedermann und fortwährend Ihren Paß vorzeigen. Wollen Sie die Güte haben, sich im Interesse des Instituts eines weniger ausschreitenden, eines zierlicheren Ganges zu befleißigen. Vielleicht wären Gamaschen zu empfehlen. Bitte, versuchen Sie es doch. Sehen Sie, so! - Ganz kleine, zierliche Schritte! - Bravo, bravo! - Noch kleiner, bitte!"
Der Doktor marschierte mit Schindler im Schulzimmer auf und ab, bis letzterer den "französischen Schritt" zur Zufriedenheit des ersteren ausführte. Tief in Schindlers Seele schlummerte der schmerzstillende deutsche Humor. Der regte sich zum Glück. Sonst hätte er diese Szene vielleicht nicht überlebt.
"Und noch etwas", sagte der Doktor, dem Schindler seinen Lebenslauf nunmehr in aller Ausführlichkeit mitgeteilt hatte, in flüsternder Vertraulichkeit: "Sie sind also eigentlich ein Deutscher. Ich danke Ihnen für Ihr offenes Geständnis. Es macht Ihrem Charakter Ehre. Ich mache Sie aber darauf aufmerksam, daß dies niemand zu wissen braucht außer uns. - Als Deutscher sind Sie musikalisch."
Schindler wollte lebhaften Widerspruch erheben. Seit Paris habe er nicht mehr musiziert.
"Keine Einrede! Ich kenne Ihre Bescheidenheit. Sie sind musikalisch. Ich bezahle Ihnen das von Ihnen verlangte Gehalt. Sie übernehmen aber hierfür dreimal wöchentlich den Gesangsunterricht in meinem Institut. Haben Sie nicht vielleicht zwei Namen?"
Schindler sah seinen neuen Herrn entsetzt an.
"Mehrere Ihrer Herren Vorgänger hatten zwei Namen", fuhr der Doktor nachdenklich fort. "Es wäre sehr hübsch, wenn wir Sie für den Gesangsunterricht als 'Herrn Schindler' und für den Sprachunterricht als 'Mosiu Petischoos' annoncieren könnten. Wir sollten zwei Namen haben, um Mißverständnisse zu vermeiden. Darüber will ich doch ernstlich nachdenken. Alles übrige ist abgemacht, mein lieber Mosiu Skindler. Wann können Sie eintreten?"
"Er schüttelte mir die Hand so heftig, daß ich nichts mehr sagen konnte", schloß unser Freund, und aufs neue lagerte sich eine schwere Wolke auf seinen sonst so zufriedenen, wenn auch nicht strahlenden Gesichtszügen. "Von heute an bin ich Professor des Gesanges und der französischen Sprache zu Derby. Ich ließe mir's ja gefallen. Die Geschichte hilft mir aus der augenblicklichen Not; wer weiß, zu was sie sonst gut ist. Wenn ich nur 'God save the Queen' von einem Choral unterscheiden könnte!"
"Man sieht, wie dein glücklicher Instinkt dir beisteht", bemerkte ich ermutigend. "'God save the Queen' war ursprünglich ein Choral. Erst neuerdings, seit einem Jahrhundert ungefähr, ist er etwas entartet. Du kannst dies in der ersten Musikstunde verwerten."
"Quand on a du courage!" rief Stoß, die Gläser wieder füllend, und wollte in seiner chronisch gewordenen Herzensfreude ein Hoch auf den neuen französischen Musiklehrer ausbringen. Da erschien durch die vorsichtig geöffnete Türspalte der Kopf von Missis Matthews, meiner Wirtin. Sie brachte einen Brief, der mit der Abendpost angekommen sei, und da ich vielleicht spät nach Hause kommen würde, habe sie gedacht - dann verschwand der Kopf wieder.
"Was wird es sein?" brummte ich. "Die Damen werden nachgerade alle aufmerksam. Die Epistel hätte sicherlich bis morgen warten können!" Gleichgültig riß ich den Umschlag auf; dann aber griff auch ich nach meinem Glas.
"Hipp hipp hurra!" war zunächst alles, was ich meinen Freunden mitteilte.
Der Brief war von John Fowler in Leeds, kurz und bündig wie alle Briefe Fowlers, deren Form und Wert ich allerdings erst später besser kennenlernen sollte. Er lautete:

"Lieber Herr Eyth!

Mein Freund Taylor in London erinnert mich an Sie. Wenn Sie Lust haben, in meine soeben in Gang kommende Maschinenfabrik einzutreten, so finden Sie einen Schraubstock. Sobald sich Gelegenheit bietet, sollten Sie dampfpflügen lernen, wofür ich sorgen werde. Das weitere muß sich finden. Ich glaube an die Zukunft der Sache. Für den Anfang biete ich Ihnen dreißig Schilling die Woche. Damit können Sie leben, was Ihnen vorläufig genügen sollte.
Freundlich grüßend Ihr ergebener
Fowler."

"Hipp hipp hurra!" riefen die zwei andern. Bei näherer Betrachtung mußte ich zwar zugeben, daß nicht alles glänzt, was Gold ist. Ein Schraubstock im Vordergrund und ein Pflug am Horizont, brrr! Aber es war ein Anfang auf diesem Kreideboden, dessen unerwartete Härte wir seit drei Monaten kennengelernt hatten; ein Ende des bangen, müßigen, erschöpfenden Wanderns von Fabrik zu Fabrik, mit der Hoffnung im Herzen, die in den letzten Zügen lag und nicht sterben wollte. Es war eine Erlösung.
Die Bewegung ergriff das ganze kleine Haus in verschiedener Weise. Wir brauten das letzte Glas Punsch ziemlich stark. Jeder Grund, die Brandyflasche und die Zuckerdose zu schonen, war verschwunden. Wir stießen die Gläser zusammen, was in der Grünheustraße einen völlig ungewohnten Klang gibt und unsre Hausfrauen erschreckte. Wir begannen deutsche Lieder zu singen: "Muß i denn, muß i denn zum Städtele naus." Manchester ein Städtele! "Morgen muß ich fort von hier" und "Wohlauf, noch getrunken". Der neue Musiklehrer brachte all die drei herrlichen Abschiedslieder in einer ergreifenden Mischung zur Geltung, ohne es zu ahnen. Bedauerlicherweise war ich der Lauteste. Ich wollte die Grünheustraße nie vergessen, schon weil ich hier fast drei Monate lang schwer gelitten hatte, was mir jetzt erst ganz klar wurde; aber ich wollte hinaus, so schnell als möglich, noch vor den andern! Wohlauf, noch getrunken!
In der Küche standen unsre drei Wirtinnen beisammen und lauschten. Sie ahnten, was der Lärm zu bedeuten hatte. In gewöhnlichen Zeiten liebten sie sich nicht. Missis Matthews rümpfte die Nase über Missis Stevens, und Missis Stevens verachtete Missis Wilson, Schindlers Hausfrau, die dem Schustergewerbe entstammte; Missis Wilson aber beklagte die Hoffart und unverbesserliche Weltlichkeit der beiden andern. Allein das gemeinsame Unglück, das sie an einem Tage betroffen hatte, schmolz die dünne Rinde dieser drei Herzen. Missis Stevens holte das Material zu einem kleinen Sonderpunsch herbei, und als Missis Wilson bei dem Gedanken, den stillen, freundlichen Schindler zu verlieren, die erste Träne vergoß, war auch bei den andern kein Halten mehr. Stoß, der zu ziemlich später Stunde nach der Küche ging, um womöglich noch etwas heißes Wasser zu bekommen, denn Schindler wollte zum Schluß unsre glänzende, wenn auch nebelhafte Zukunft in einer größeren Rede verherrlichen, fand alle drei schluchzend um das erloschene Küchenfeuer sitzen. Es soll dies in der Grünheustraße nie zuvor gesehen worden sein, sonst würde ich es nicht erwähnen.
Wir wollten uns am nächsten Morgen nicht mehr begegnen. Es war schöner, heute abzuschließen. Stoß und ich begleiteten den wackeren Schindler, der uns zum erstenmal tief in seine treue Seele hatte blicken lassen, während er die Photographie seines Gretchens ans Herz drückte, nicht ohne einige Schwierigkeit nach Hause. Noch aus seinem Schlaf zimmer rief er uns mit vor Rührung zitternder Stimme zu: "Quand on a du courage, on vient ä bout du tout."
Dann begleitete ich Stoß heim. Wir wollten uns häufig schreiben und auch im Glück nie verlassen. So trennten wir uns. Vor meiner Haustüre machte ich die merkwürdige Entdeckung, daß auch sie von der allgemeinen Bewegung ergriffen war und sich heute das Schlüsselloch auf der linken statt, wie sonst immer, auf der rechten Torseite befand. Oder sollte sich die sonst so ruhige Straße gedreht haben? Aber es kümmerte mich wenig. Die schönen Verse Uhlands gingen mir wie ein fern verklingender Abschiedsgruß immer und immer wieder durch den Kopf: "Wann treffen wir uns, Brüder, in einem Schifflein wieder?"

AUF DEM KAHLENBERG

Zwölf Jahre waren seitdem vergangen. Die Wellen des Lebens hatten die drei Brüder aus der Grünheustraße wunderlich genug hin und her geworfen. Seit langer Zeit hatte keiner von uns auch nur daran gedacht, mit den andern jemals wieder "in einem Schifflein" zusammenzutreffen.
Ich befand mich auf kurze Zeit nicht allzu fern von der alten Heimat an der blauen Donau. Es war am Tage nach dem Schluß der Wiener Weltausstellung mit ihrem Glanz und ihrem Jammer. Mit ihrem Glanz war es gründlich zu Ende; von ihrem Jammer war noch einiges durchzukosten, und die Sache begann mit Pünktlichkeit und Energie; Eigenschaften, welche im Laufe der letzten sechs Monate gelegentlich vermißt wurden. Gewiß, vieles ließ sich mit der weltberühmten und rührend geliebten Gemütlichkeit der schönen Kaiserstadt entschuldigen; aber auch diese hatte im Laufe des Jahres schwer gelitten. Das mit so lauten Posaunenstößen eingeleitete Ausstellungsunternehmen hatte sich zwischen der Cholera und dem großen Finanzkrach stöhnend durchgerungen. Die Meistbeteiligten fingen an, sich im Prater aufzuhängen und in die Donau zu springen. Es war zu viel für das weiche, fröhliche österreichische Gemüt geworden. Die Bewegung wurde epidemisch.
Ich selbst, obgleich von Natur nicht allzu weich veranlagt, glaubte an jenem Morgen mich derselben anschließen zu müssen; neun Monate in dieser Atmosphäre waren auch für mich nicht ohne Wirkung geblieben. Die hohen Behörden der Weltausstellung hatten schon vor vierzehn Tagen verfügt, daß nach Schluß derselben, am 1. Oktober, kein Arbeiter die geheiligten Hallen betreten sollte, der nicht eine zu diesem Zweck auszugebende Arbeiterkarte neuester Form besaß. Seitdem besuchte ich von Zeit zu Zeit die eleganten Geschäftszimmer der Verwaltung, um meine zwölf Karten zu holen, denn mit dem letzten Schlag der ornamentalen Hauptuhr unter der "Rotunde" wollte ich mit fieberhafter Zerstörungswut Fowlers Pavillon, den ich vergebens zu verkaufen gesucht hatte, zusammenreißen und meine Dampfpflüge in Sicherheit bringen. Dort lächelten mich die müden Unterbeamten verständnislos an und versicherten glaubwürdig, nachdem sie mein Begehren erfaßt hatten, daß sie von solchen Karten nichts wüßten. Und doch hatte ich recht. Am frühen Morgen nach dem klanglosen Schluß des imposanten "Festes der Arbeit" standen Hunderte von Ausstellern, jeder mit zwei bis zwölf tatendurstigen Arbeitern hinter sich, vor den verschlossenen Toren, welche die schwarzgelbe Schutzmannschaft mit seltener Pflichttreue verteidigte, und schrien in allen Sprachen der Welt nach ihren Arbeiterkarten. Das Murren der Menge schwoll gegen zehn Uhr zum brausenden Sturm, während in den gewaltigen Räumen des Innern zum erstenmal, seitdem sie aus dem Boden gestiegen waren, feierliche Stille und Ruhe herrschten. Manchmal erschien der Kopf eines möglichst niederen Beamten durch die Spalte einer Seitentüre, beteuerte seine Unschuld und versicherte den Nächststehenden mit erschrockener Miene, daß die Karten wirklich noch nicht gedruckt seien. Man erwarte aber ganz bestimmt gegen Nachmittag die erste Sendung. Um zwölf Uhr verlief sich die tobende Volksmenge, um einen wohlverdienten freien Nachmittag zu genießen, nachdem man sich den Vormittag mit nutzlosem Ärger und unvernünftiger Aufregung verdorben hatte.
So kam auch ich zu ein paar freien Stunden und wanderte aus dem Gewühl der vielgeprüften Weltstadt hinaus nach dem Kahlenberg. Selbst die neueröffnete Drahtseilbahn lockte mich nicht, so müde war ich aller Triumphe des menschlichen Geistes über die Hindernisse der Natur. Mit einem alten Stellwagen fuhr ich nach Nußdorf, um zu Fuß durch die stillen, halbentlaubten Wälder mein Ziel zu erreichen. Wie ich aufatmete, als ich endlich nur noch das Rascheln des fallenden Laubes um mich hörte! Man muß eine Weltausstellung vom erhebenden Anfang bis zum bitteren Schluß mitgemacht haben, um zu verstehen, wie wohl mir's dabei wurde.
Es war ein prächtiger Spätherbsttag; schon etwas frisch, trotz der Sonne, die auf den goldgelben und rotbunten Bergen spielte; ein Tag, so recht, um wieder Mensch zu werden. Die Wirtschaft auf dem Gipfel des Kahlenbergs war deshalb ziemlich leer. Auch hier wehte es schon herbstlich über die halbgestürzten Tischchen. Aber der Blick hinunter und hinaus bot noch die volle Schönheit des scheidenden Jahres. Ich ließ mir ein Glas Wein auf den nächsten Tisch stellen, lehnte mich auf das Geländer der Veranda und genoß, was zu genießen war.
Links drüben der Leopoldsberg, noch in voller Pracht des bunten Herbstlaubes mit seinem einfachen, klösterlichen Kirchlein, rechts, im gleichen Schmuck, die Ausläufer des Wiener Waldes mit ihren Höhen und Schluchten. Tief unter mir am Fuß des Berges die mächtige Donau, die sich von hier in zahllosen Wasserrinnen durch ein Gewirr von noch grünen Weidenwäldern schlängelt, das bereits die stattliche Linie der Regulierungsarbeiten durchbrach, die heute den Strom in imposanter Breite an der Kaiserstadt vorüberführen. Diese selbst mit ihren Palästen und Kirchen, ihren Kasernen und Fabriken liegt in duftiger Ferne, aus der zwei Bauwerke deutlich erkennbar herausragen: der altersgraue Stephansturm und weiter hinten im Rotblau des Praters die Rotunde unsrer Ausstellung. Noch weiter hinaus, fast verschwindend im bläulichen Dunst des Herbsttages, dehnt sich die Donauebene nach Norden über das Marchfeld, nach Osten gegen Ungarn, dessen Berge um Preßburg geheimnisvoll herüberdämmern. Dort fängt es schon an, etwas orientalisch zu kriseln, und so viel ich seit einem Jahrzehnt Häßliches und Elendes vom Orient gesehen hatte, es zog mich in träumerischen Augenblicken noch immer nach Osten; ich wußte mir selbst nie zu erklären, weshalb.
Ich ließ meinen wachen Träumen freien Lauf und freute mich der Bergluft, die ich in unserem "Industriepalast" dort unten so lange und schmerzlich vermißt hatte. Selbst die Drahtseilbahn, deren kleine Endstation unter mir halbversteckt im Gebüsch lag und die von Zeit zu Zeit mit widerwärtigem Schnurren und Schnarren einen leeren Wagen heraufschleppte, vermochte mich nicht zu stören. Da geschah etwas Außerordentliches, das allerdings wohl jedem Menschen ein paarmal im Leben passiert, jeden aber aufs neue mit demselben Staunen, fast mit einem kleinen Schauder erfüllt: es ist und bleibt so völlig unerklärlich.
Meine Gedanken verloren sich nach rückwärts. Eigentlich hatte ich es, räumlich wenigstens, herrlich weit gebracht; bis hierher auf den Kahlenberg, vom Mokattam in Ägypten und den russischen Steppen und den Sumpflandschaften von Louisiana gar nicht zu reden. Was man in zwölf Jahren nicht alles erleben konnte! Wenn ich an die Grünheustraße zurückdenke und an Schindler und Stoß! An Stoß dachte ich ganz besonders, vielleicht seit Jahren zum erstenmal wieder. Ich wußte nur, daß er sich eine schöne Stellung in England errungen hatte, die man als glänzend bezeichnen konnte, wenn sie mit unserm damaligen Maßstab gemessen wurde. Vor ein paar Jahren schon hatte er einen Vortrag über Brückenkonstruktionen vor der Englischen Gesellschaft der Zivilingenieure zu London gehalten, der durch alle technischen Zeitungen lief. Damals stand er noch mit seinem großen Brückenmann Mr. W. Bruce in Verbindung, der kürzlich geadelt worden war und nunmehr als "Sir" William glänzte. Seitdem hatte ich ihn völlig aus dem Gesicht verloren, jetzt aber kam er mir wieder lebhaft in den Sinn, vielleicht weil mir einfiel, daß er eigentlich Österreicher war und seine Kinderjahre dort unten in dem dunstigen Wien verlebt hatte, von dem er in der Grünheustraße mit warmer Anhänglichkeit sprach, obgleich er es kaum kennengelernt haben konnte.
So weit war ich mit meinen Träumen gekommen, als wieder ein Eisenbahnwagen sausend heraufgestiegen kam und diesmal zwei Insassen mitbrachte, einen Herrn und eine Dame. Ich richtete gleichgültig mein Feldglas auf das Paar, denn ich konnte die Aussteigestelle gerade zwischen zwei Baumwipfeln hindurch sehen. Donner und Doria! Es war ein älterer Bruder von Stoß, wenn es Stoß nicht selbst war. Nein, es war kein älterer Bruder; so ähnlich sehen sich auch Brüder nicht: es war Stoß selbst - nur, gleich mir, etwas älter. Ich schrie ihm zu.
Die Veranda auf dem Kahlenberg war wohl noch nie Zeuge eines stürmischeren, fröhlicheren Wiedersehens gewesen. Kein Wunder, daß wir aufgeregt waren, weil es ihm völlig unerwartet kam, ich, weil ich versichern konnte, daß ich seit einer Viertelstunde fast sehnsüchtig an ihn gedacht habe, was er für einen infamen Schwindel erklärte. Es geht mir meist so, wenn ich den Leuten die Wahrheit sage. Dann stellte er mich seiner Frau vor, einer reizenden, großen schlanken jungen Dame mit dunkelblauen Augen, die fast nicht von ihrem Harold losließen, und einem goldenen Haar, das alles sonnige Gold der herbstlichen Wälder um uns her erbleichen ließ. Sie waren erst seit vier Tagen auf der Reise. Stoß wollte seiner Ellen auf dem Wege nach Venedig und Florenz seine eigentliche Vaterstadt zeigen. "Du erinnerst dich des Blumenregens am letzten Abend in der Grünheustraße!" erklärte er lachend, als er bemerkte, wie ich sein junges Glück anstaunte. Ich konnte mich für den Augenblick irgendwelchen Blumenregens in ganz Manchester nicht entsinnen. Die liebliche junge Frau war rascher als ich, schlug ihrem Harold mit dem Sonnenschirm sanft auf den Kopf und errötete. Nun ging auch mir ein Licht auf.
"Miß Bruce!" rief ich, während wir uns die Hände schüttelten.
"Das war ich!" sagte sie und wurde noch etwas röter.
Von dieser Stunde an sind wir gute Freunde geblieben. Sie schien nach wenigen Minuten anzunehmen, daß ich zur Familie gehöre, und plauderte drauflos, als ob es für den Freund ihres Harold keine Geheimnisse gäbe. Dieser war seit zwölf Jahren sehr viel männlicher, manchmal schien mir's, mit einem solchen Sonnenkind an der Seite allzu ernst geworden. Wer weiß: vielleicht kam ich ihm auch so vor. Man mußte sich wieder ein wenig zusammengewöhnen.
Zunächst wurde die Gegend betrachtet. Stoß erklärte seiner Frau eifrig, was vor uns lag. "Ganz wie vor fünfundzwanzig Jahren", meinte er, "als ich mir all dies von meiner Mutter zeigen ließ: die Donau, die Stadt, das Kloster dort drüben, der Stephansturm, die waldigen Hügel, die Weinberge bis Nußdorf hinunter. Es tut doch wohl, Eyth, nach dem Rauch und Ruß unsrer neuen Heimat!"
Ich nickte. Frau Stoß griff nach dem Sonnenschirm, um ihr Vaterland zu verteidigen.
"Nur eins ist neu und nicht übermäßig schön", fuhr er fort: "Euer Palast dort unten und der umgekehrte Blechtrichter, der die famose Rotunde krönt."
"Wissen Sie, wo er herkommt, Frau Stoß?" fragte ich.
"Er ist doch wohl hier zusammengenietet worden?" meinte sie lächelnd.
"Ja; aber der Gedanke, der Entwurf kommt aus unsrer neuen Heimat, wie sie Harold nennt. Ein Engländer steckt dahinter. Sieht man's ihm nicht ein wenig an: so geradlinig, so furchtbar praktisch."
Jetzt wurde der Sonnenschirm gegen mich mobil gemacht. Es tut mir noch heute weh, wenn ich an diese fröhliche Stunde zurückdenke, in der keins von uns auch nur ahnte, was später kommen sollte.
"Sie ist wirklich nicht ganz uninteressant, die Geschichte dieses Trichters, wenn deine verehrte Gemahlin technische Geschichten ertragen kann", sagte ich zu Stoß, während er die Kuppel mit ihren konzentrischen Ringen und radialen Rippen durch sein Opernglas betrachtete.
"Das kann sie!" rief der Gemahl mit einer plötzlichen Aufwallung von Wärme. "Sie stammt aus der Zunft und könnte sich morgen als Zivilingenieur niederlassen."
"Es kam so", erzählte ich: "Der Plan für das Ausstellungsgebäude stand im allgemeinen fest: die riesige Haupthalle mit ihren Querbauten wie die Rippen eines Walfisches; doch fehlte dem Ganzen ein eigentlicher Mittelbau. Die Österreicher haben Geschmack, das muß man ihnen lassen. Sie fühlten, daß die Sache so zu einförmig aussehen würde, wußten aber nicht, wie dem abzuhelfen wäre. Da kam Scott Russel, der bekannte Zivilingenieur, auf einer Geschäftsreise durch Wien und saß bei einem kleinen Festmahl zu Ehren der kommenden Ausstellung dem künftigen Ausstellungsautokraten, Herrn von Schwarz-Senborn, gegenüber. Man sprach von der Schwierigkeit. An einen großen Kuppelbau hatte man wohl schon gedacht; aber wie sollte ein solches Werk von der erforderlichen Größe ausgeführt werden, ohne Millionen zu verschlingen, an denen kein Überfluß war? Während des Gesprächs nahm Scott Russel den papierenen Lichtschirm von der benachbarten Lampe, stellte ihn auf den Tisch und sagte: 'So!' - Es war ein gewaltig großer Lichtschirm und hatte nur eine Papierdicke. Trotzdem war er steif und fest, wovon sich Herr von Schwarz und die ganze Tafelrunde eigenhändig mit allen fünf Fingern und nicht ohne Staunen, denn sie hatten es ja eigentlich schon vorher gewußt, überzeugten. 'Das', erklärte Scott, 'macht die kreisförmige Form in der einen, die radiale in der andern Richtung. Man muß nur zu beobachten wissen, lieber Herr Schwarz! Sehen Sie sich ein Ei an. Es hat keine Rippen und eine papierdünne Schale und hält alles mögliche aus.' Für Schwarz stand jetzt das Ei des Kolumbus auf dem Tisch. Am folgenden Tag hatte Scott Russel den Auftrag in der Tasche, das Ausstellungsgebäude durch seine Idee zu krönen, und machte sich an die Arbeit."
"Es sind eben doch geniale Kerle, Eyth; das müssen wir zugeben!" meinte Stoß nachdenklich.
"Sie sehen die Welt noch mit natürlichen Augen an", sagte ich, meine Brille abreibend, um selbst die Rotunde, von der ich erzählte, besser sehen zu können. "Zum Glück für uns ist die Geschichte noch nicht ganz zu Ende. Scott Russel arbeitete seine Pläne aus; Harkort in Düsseldorf wurde mit der Ausführung beauftragt. Die deutschen Ingenieure fingen an zu rechnen und bewiesen, daß die bloße geradlinige Eierschale unmöglich stehen könne. Es gab furchtbare Diskussionen. Die Deutschen warfen dem Engländer mit Erfolg meterlange Formeln an den Kopf. Schließlich wurden auch Schwarz und seine Leute besorgt. Man stritt sich um Festigkeitstheorien, die seit den ersten Tagen des Weltbaues schon auf Klärung warten, obgleich der Globus noch heute zusammenhält."
"Das kenne ich", unterbrach mich Stoß lebhaft. "Du glaubst, du habest alles klipp und klar aus deinen Formeln herausgearbeitet, und mit einemmal merkst du, daß das Ganze auf einem kleinen Irrtum aufgebaut ist und alles unter dir zusammenbricht. Die Annahme der Lage der neutralen Faser in einem brechenden Balken zum Beispiel -"
"Bitte, Harold", fiel seine Frau ein, "laß deine neutrale Faser heute ruhen. Sie wissen nicht, Herr Eyth, wie uns die neutrale Faser seit Jahren das Herz schwer macht. Er hat eine neue Theorie hierüber, die ihn Tag und Nacht umtreibt. Namentlich nachts!"
Harold küßte seine Frau lachend. Vor einem Engländer hätte sie diesen Beweis jungen ehelichen Glücks nicht geduldet. Einem Fremden, einem foreigner, gegenüber, den sie nicht mit feindlichen Augen betrachtet, hat eine verdorbene insulare Engländerin die Empfindung der Römerin gegen den szythischen Sklaven. Es ist ärgerlich, aber nicht zu ändern. Stoß ließ mich fortfahren.
"Das Ende vom Lied war, daß Harkot die radialen sowohl als die kreisförmigen Rippen aufsetzen durfte, und zwar äußerlich, wie du sie jetzt siehst. Im Innern war kein Raum und andre Schwierigkeiten, schön sind sie nicht, aber es war ein wahres Glück für Scott Russel und für alles, was unter der Kuppel steht. Selbst zwischen den Rippen bogen sich die Bleche ein wenig durch. Ohne dieselben hätte das brillante Dach die ganze Ausstellung wahrscheinlich in ganz andrer Weise zugedeckt, als beabsichtigt war. Das hinderte aber Mr. Scott Russel keineswegs, beim Prämiierungsfestdiner, wo er unserm Krupp gegenübersaß, dem Kanonenkönig auf die Schulter zu klopfen und ihm mit freundlicher Herablassung zu sagen: 'Wir sind ohne Zweifel die hervorragendsten Kollegen an der Tafel: Sie bauen die größten Geschütze in der Welt, ich habe die größte Kuppel gebaut."
"Und wissen Sie, Herr Eyth", rief Frau Stoß lebhaft, ohne Zeit zu finden, ihr feines Näschen zu rümpfen, wozu sie meine Geschichte sichtlich reizte, "wissen Sie, daß Harold die größte Brücke baut?"
"An der größten Brücke!" verbesserte ihr Gatte, und wieder überflog seine hübschen Züge ein eigentümlicher Schatten, den ich schon zum drittenmal bemerkte. "Du weißt, es wird ernst mit der Ennobucht. Es hat lange genug gebraucht."
"Papa verlor fast die Geduld", berichtete Frau Stoß eifrig; sie war sichtlich auf diesem Gebiete zu Hause. "Er hätte sie ganz verloren. Er hat so viel andres zu tun, das ihn nicht weniger interessierte. Aber Harold hielt aus und zeichnete und plante und rechnete, bis es heraus war."
"Eins habe ich jedenfalls herausgerechnet", bestätigte Stoß, "und es kostete fast ebensoviel Geduld und Sorgen - dich!"
"Unsinn!" lachte seine Frau. "Ich will's lieber gleich gestehen; du sagst es deinem Freund doch, wenn ihr allein seid: ich war nicht schwer auszurechnen. Seit dem Nachmittag, an dem Harold zum erstenmal nach Richmond kam, wußte ich, was herauskommen mußte. Es war nur noch eine Zeitfrage, so etwa wie die: wann holt der große Uhrenzeiger den kleinen wieder ein, wenn sie einmal aneinander vorübergegangen sind. Können Sie das ausrechnen, Herr Eyth? Ganz leicht ist es nicht, denn stillstehen darf der kleine nicht, anstandshalber."
Es war ein reizendes Frauchen für einen Ingenieur! Ich fing an, in meiner platonischen Art verliebt zu werden, und mußte mich zusammennehmen, besonders da Harold wie abwesend in die Ferne starrte.
"Sehen Sie, jetzt rechnet er wieder!" sagte sie, ihn vorwurfsvoll ansehend. "Er hat vor unsrer Verheiratung zuviel gerechnet; seitdem sitzt es ihm im Gehirn. Aber ich hoffe, in Venedig wird es schon besser werden, besonders weil jetzt mit der Brücke alles in Ordnung ist."
"Ich habe davon gelesen, aber nur ganz flüchtig, daß Sir Williams Pläne angenommen sind und eine Gesellschaft gegründet wurde, die die Ausführung übernahm", sagte ich. "Verzeihen Sie das Dunkel, in dem ich lebe. Man kommt auf einer Ausstellung nicht zur Besinnung."
"Es ist auch nicht halb so interessant mehr, seit einiger Zeit", erklärte Frau Stoß. "Vor zehn Jahren, als Papa die ersten Projekte ausarbeitete, da hätten Sie sehen sollen, wie alles lebte. Papa machte Skizzen, Harold begann die Berechnungen aufzustellen, und was er rechnete, war dem alten Jenkins, der jahrelang Papas Bureauchef gewesen war, nicht recht. Aber Harold hatte schon eine Brücke in Wales herausgerechnet, die jedermann entzückte, so leicht und zierlich war sie, und mit Jenkins' klobigen Ideen war nichts anzufangen. Das sah ich sofort, als Harold öfter zu uns herauskam. Doch müssen Sie nicht denken, daß wir schon wußten, was in uns vorging. Ich war noch sehr jung, und Harold wenigstens merkte lange nichts."
"Du weißt es!" bestätigte Harold demütig.
"Nur Mama war schlau genug für uns alle und sprach mit Papa. Da hatte das Rechnen in Richmond plötzlich ein Ende. Es war ein fürchterliches Jahr. Die Parlamentsakte, die man für eine so große Brücke braucht, fiel durch. Papa wurde so verdrießlich, wie er es in seinem Leben noch nie gewesen ist, und ich - es hilft nichts; Harold weiß es und würde es Ihnen doch sagen - ich war am Verzweifeln. Endlich skizzierte Papa neue Pläne hinter Jenkins' Rücken, und Harold rechnete wieder. Wie dies Jenkins sah, wollte er Papas Pfeiler um das Doppelte verstärken. Dann hätte kein Mensch das erforderliche Geld für die Brüche gehabt; ich glaube wahrhaftig, das wollte die alte Nachteule. Und weil ihnen Jenkins im Citybureau keine Ruhe ließ, wurde wieder in Richmond gerechnet. Sie können sich denken, wie ich mitrechnete. Das war im Frühling vor vier Jahren. - Eines schönen Tages brachte Harold Skizzen von eisernen Pfeilern und die Berechnung, wie stark sie sein müßten und was sie kosten würden. Damals saß er die halbe Nacht eingeschlossen mit Papa in dessen Zimmer und wurde schließlich eingeladen, über Nacht zu bleiben, weil es am folgenden Tag doch Sonntag sei. Ich hatte Papa selten so vergnügt und Mama nie so ernst gesehen. Jetzt oder nie, dachten wir beide. Ich sorgte dafür, daß uns Mama am Sonntagnachmittag in der indischen Pagode erwischte. Harold erschrak heftig, aber er benahm sich wie der Gentleman, der er ist. Sie wissen, er ist eigentlich ein Engländer", fügte sie hinzu, mich mit der treuherzigsten Naivität ansehend und dann plötzlich purpurn errötend. Das Erröten verstand sie meisterlich; ich war entwaffnet.
"Das ganze Haus war gerührt; Mama sah, daß jeder Widerstand aussichtslos war, Papa brummte seinen Segen und nahm mir Harold, trotz des Sonntags, zum Rechnen wieder weg. - Aber im ganzen konnte ich zufrieden sein."
"Und ich mußte mich ins Unvermeidliche fügen, so gut ich konnte. An ein Herauswinden war nicht mehr zu denken!" klagte Stoß.
"Siehst du's deinem neuen Freund nicht an, wie er mich bemitleidet, Billy?"
"Der - und Mitleid!" rief sie; worauf sie sich angesichts der ganzen Stadt Wien einem erneuten Ausbruch ehelicher Zärtlichkeit hingaben. Ich wandte mich ab, bestellte eine Flasche Ungarwein, die auf dem Kahlenberg zu haben war, und ließ ein Tischchen in die schönste Erke der Veranda rücken, an dem wir, etwas beruhigter, Platz nahmen.
Nun war die Reihe an Stoß, der ein hübsches Stück Lebensgeschichte in vernünftigem Zusammenhang und mit den Zahlenbelegen, wie sie Ingenieure lieben, zu erzählen wußte. Ellen hing an seinem Mund, als ob sie all das zum erstenmal hörte und nicht selbst miterlebt hätte. Nur manchmal unterbrach sie ihn, um, nach unseres Schillers Anweisung, eine Rose ins irdische Leben ihres geliebten Harold zu flechten, oder einen Dorn einzudrücken, wenn es gerade passen wollte. Stoß hatte in der Tat keine Niete in der großen Lotterie gezogen. Es war eine ganz außerordentliche Frau. Sie konnte rechnen und hatte Humor mitten zwischen zwei Küssen.
"Die Liebesgeschichte kennst du jetzt, nun sollst du auch die Brückengeschichte haben", begann mein Freund, indem er sich behaglich zurechtsetzte und den Ungarwein in der Sonne spiegeln ließ. "Bei Sir William ging es mir vom ersten Tag an gut, Eyth! Es war ein Narrenglück, dieser Sonntag in Richmond, das nicht einem unter Hunderten begegnet. Ich hatte Sir William, der in London steif und zurückhaltend genug sein konnte, in Hemdsärmeln und im Gras liegen sehen. Das änderte von Anfang an unser Verhältnis. Mag sein, daß auch meine Rechnerei mitwirkte. Mein verehrter Schwiegerpapa ist voll Gedanken, hat die technische Phantasie einer Dampfmaschine mit Präzisionssteuerung und die Arbeitskraft eines jungen Elefanten, aber Rechnen ist nicht seine Liebhaberei, und schließlich lassen sich die großen Projekte, mit denen er überhäuft wird, nicht ganz mit dem Gefühl zwischen Daumen und Zeigefinger abmachen. Jedenfalls freute er sich, wenn ich in zwei Tagen dasselbe herausrechnete, was er in zwei Minuten herausgefühlt hatte. Oft genug war ich starr vor Erstaunen, wenn ich beobachtete, wie sehr Brücken bei ihm Gefühlssache sind, namentlich Gitterbrücken. Es ist nicht Erfahrung. Man hat keine Erfahrung von Dingen, die noch nie gemacht wurden. Es ist auch nicht Instinkt. Unsre Vorfahren wußten zu wenig von Häng- und Sprengwerken, um dieses Wissen zu vererben. Es ist ein Drittes, Unergründliches, Unerklärliches, und Bruce hatte ein Stück davon in irgendeinem Winkel seines Gehirns mit auf die Welt gebracht. Nur brauchte er eine ruhige Stunde, um sich die Dinge halb im Traum zurechtzulegen, und diese fehlte ihm mehr und mehr. Er war erdrückt von Aufträgen. So kam ich dazu, ihm mit meinen Integralen, die er nicht versteht, als Beruhigungsmittel zu dienen. - Um so weniger konnte sich Jenkins, der alte Hauptzeichner unseres Bureaus, an mich gewöhnen. Die Art, wie ich rechnete, verstand er ebensowenig; meine Manier, zu skizzieren, haßte er. Ich sei ein Dilettant, ein Landschaftszeichner. Und als gar das Gerücht ins Bureau drang, ich habe in Richmond mit Miß Bruce Klavier gespielt, existierte ich als Ingenieur für ihn nicht mehr. Es bekümmerte mich anfänglich ein wenig. Ich hätte gerne meine Kämpfe mit dem rostigen Kerl, die nicht ausbleiben konnten, in Frieden ausgefochten. Aber er verstand keinen Spaß, namentlich nachdem mir Bruce eine niedliche Brücke über einen Schiefersteinbruch in Caenarvonshire anvertraut hatte, die ich ganz nach meinem Geschmack konstruieren durfte. Nichts Überirdisches: 103 Fuß Spannweite. Ein kombiniertes Häng- und Sprengwerk, leicht wie ein Spinngewebe über einem höllischen Abgrund. Es zittert ein wenig, aber trägt, was es zu tragen hat. Bruce wird seitdem für den kühnsten Brückenbaumeister von England erklärt."
"Sei nicht neidisch auf Papa, Harold!" mahnte seine Frau, stolz lächelnd. "Wo wärst du ohne seine Brücken?"
"Wo wärst du?" fragte Stoß im gleichen Tone fröhlichen Neckens.
"Aber du hast recht wie immer, wenn du nicht rechnest. Wir brauchten seine Brücken. - Dann tauchte mehr und mehr die große Ennobuchtfrage am Horizont auf; unsre Brücke, Billy."
"Unsre Brücke", bestätigte Frau Stoß. "Aber heiße mich nicht Billy! Du weißt, ich kann es nicht ausstehen vor Fremden."
"Sie heißt nämlich Billy, unter uns, wenn wir zusammen Brücken bauen", erklärte Stoß mit studierter Rücksichtslosigkeit. "Der kleinste Zeichner in unserm Londoner Bureau, in den sie vor meiner Zeit verliebt war, heißt nämlich auch so. Ich bin an den Namen gewöhnt, und sie hat ihn gern, aus ihrer Vorzeit. So ist er in Gebrauch gekommen, ich weiß selbst nicht, wann und wo. Ein vortrefflicher Name, Billy!"
Der Sonnenschirm trat in Tätigkeit. Stoß parierte geschickt mit seinem Hut und fuhr ruhig fort:
"Du kennst die lange Vorgeschichte? - Nicht? - Bei deinen Dampfpflügen bist du sichtlich verbauert, Eyth. Aber du weißt wenigstens, daß es eine Ennobucht gibt, die tief in das Land einschneidet und die Eisenbahnen aus dem Norden zwingt, eine gewaltige Biegung nach Westen zu machen oder eine Dampffähre zu benutzen, die seit zehn Jahren bei Pebbleton über den Fluß oder vielmehr über den Meeresarm setzt. Dieses Verkehrshindernis ist jedermann ein Dorn im Auge, und seit Stephenson die Menaistraße überbrückte, dachten technische Enthusiasten an die Ennobucht als nächste große Aufgabe. Doch liegen die Verhältnisse wesentlich anders. Dort war es eine schmale Meerenge zwischen steil abfallenden Felsenufern. Bei Pebbleton ist der Meeresarm fast zwei Meilen breit, die Ufer sind verhältnismäßig nieder, und hier wie dort muß der Seeweg für bemastete Schiffe freibleiben. - Man glaubt nicht, welche Hindernisse ein solcher Bau zu überwinden hat, ehe man auch nur damit beginnen kann. Sir William, wie du hoffentlich weißt, ist der beratende Ingenieur der Nordflintshire-Eisenbahn, die hauptsächlich an der Überbrückung der Bucht interessiert ist, sonst wäre wohl der ganze Plan nicht zur Reife gelangt. Lange vor unsrer Zeit, drei Jahre, ehe Stephenson die Menaibrücke fertiggestellt hatte, wurde in einer Versammlung der Aktionäre der Bahn der Plan erwogen und beschlossen, die vorbereitenden Schritte zu tun. Siebenundzwanzig Jahre, fast ein Menschenalter, voller Entwürfe, Pläne, Abänderungen, des Verlassens und Wiederaufnehmens der Vorarbeiten gehörten dazu, um auch nur den Grundstein des Werkes legen zu können. Zu verwundern ist es nicht, daß hierbei ziemlich viel Geld und ein paarmal auch der Mut verlorenging. Aber Bruce ließ nicht nach. Zwischen seinen hundert Arbeiten in allen Teilen der Welt tauchte immer wieder die Ennobrücke auf wie ein Gespenst der Zukunft. Das haben wir Ingenieure vor andern Menschen voraus: unsre Geister kommen nicht aus der Welt, die war, sondern aus der, die sein wird. Sie quälen uns deshalb nicht weniger. Im Jahre 1854 hatte er seinen ersten Entwurf ausgearbeitet, der die Kosten der Brüche auf hundertfünfzigtausend Pfund Sterling veranschlagte. Da es vorerst nicht möglich war, die beteiligten Eisenbahnverwaltungen für das Projekt zu gewinnen, wurde eine Gesellschaft gegründet, welche die Brücke erbauen sollte, um sie sodann an die Eisenbahngesellschaften zu verkaufen. Zehn Jahre gingen darüber hin, die parlamentarischen Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumen. Während dieser Zeit wurde nicht bloß der Plan, sondern selbst der Platz, wo die Brücke gebaut werden sollte, mehr als einmal gewechselt. Zweimal verweigerte das Parlament seine Zustimmung. Im Jahre 1865 verband sich die Nordflintshire-Bahn mit der Ennobrückenbaugesellschaft, die nach einiger Zeit ganz in jener aufging. Zum drittenmal wurden die Pläne neu bearbeitet und die Zustimmung des Parlaments verlangt. Es war wie in unsern deutschen Märchen: beim dritten Versuch, im Winter 1870, gelang es, die besorglichen Schlafmützen in Westminster zu überzeugen, daß die Welt vor einer Meeresbucht nicht stillstehen könne.
Ich war jetzt bei Bruce in vollem Zuge und hatte meine regelmäßigen Schlachten mit Jenkins, der grundsätzlich andrer Ansicht war als ich und meine feinsten Berechnungen mit gereizter Verachtung behandelte. Er hatte als junger Mann in den Bureaus von Stephenson gezeichnet und glaubte, daß nichts über die Menaibrüche gehen könne und dürfe. Eine viereckige, schmiedeeiserne Röhre auf Steinpfeilern war der einzige Gedanke seines Lebens, und die Vorsicht, mit der Stephenson die riesigsten Experimente ausführte, ehe er die Überbrückung der Meerenge begann, sein Ideal. Wir hatten aber doch seit dazumal einiges gelernt und brauchten nicht immer wieder von vorn anzufangen, wenn es auch heute noch etwas dunkel sein mag, wie es einer Eisenstange innerlich zumute ist, ehe sie bricht. Weißt du, was Kohäsion ist. Eyth? Weißt du jemand, der es weiß?"
Stoß hatte mit einemmal langsamer gesprochen, nachdenklich, fast wie im Traum. In seinem Blick, der auf der Donau zu unsern Füßen haftete, lag etwas wie Angst. Er sah mich plötzlich starr an. Es wurde mir unbehaglich, ohne daß ich wußte, was ich aus diesem Blick machen sollte.
"Da hat dich's wieder!" rief seine Frau, mich sichtlich ganz vergessend, schlang mit einer ungestümen Bewegung ihren linken Arm um seinen Kopf und rieb ihm mit der rechten Hand die Augen. Es war eine Bewegung, wie wenn man ein Kind, das sich fürchtet, auf andre Gedanken bringen will. Stoß riß sich los und lächelte; ein gezwungenes Lächeln, als ob er sich schämte.
"Sie wissen, er hat in den letzten Monaten furchtbar hart arbeiten müssen", sagte Frau Stoß zu mir, "und er hat Nerven wie andre Menschen. Papa hat keine und glaubt, jedermann sei wie er. Wir brauchen ein paar Wochen Ruhe. In Venedig wird es schon besser werden; dann gehen wir nach Florenz, wenn keine Brücken dort sind."
"Unsinn. Laß mich weitererzählen", lachte Stoß, jetzt wieder im alten Tone. "Der umnachtete Dampfpflüger fängt an, ein wenig aufzumerken. Natürlich mußten alle möglichen Arbeiten vorangehen, ehe wir so weit waren. Ich war bald in Pebbleton besser zu Hause als in Richmond und London; die Bohrungen zur Feststellung des Untergrundes im Strombett ließ im Auftrag von Bruce ein Unternehmer aus Manchester vornehmen. Man hatte infolge derselben die Stelle zu verlassen, wo die Brücke nach dem ersten Entwurf gebaut werden sollte. Wir legten sie zwei Meilen weiter landeinwärts. Die Bucht ist dort etwas breiter, allein man stieß auch in der Mitte des Stromes in erreichbarer Tiefe auf Felsgrund, der unsre Pfeiler tragen konnte. Bei den Bohrungen selbst war ich leider nicht anwesend. Ich hatte damals mehrere Monate lang in Irland zu tun. Aber Bruce konnte sich auf Lavalette verlassen, der diese Arbeiten ausführte. Ich hatte keinen Grund, daran zu zweifeln, daß die Sache in zuverlässiger Weise behandelt wurde. Überdies ging sie mich nichts an. Meine Arbeiten begannen über der Sohle des Strombettes. So kam der endgültige Plan im Herbst 1868 zustande. Ich wollte, du wärest einmal mit mir über die Ennobucht gefahren, wenn es stürmt und man in dem schottischen Nebel weder Nord- noch Südufer sehen kann. Man könnte glauben, in der offenen Nordsee hin und her geworfen zu werden. In sechs Jahren - so lange werden wir wohl noch brauchen -, fährst du behaglich über die tosende Flut, neunzig Fuß hoch in der Luft, zwei Meilen lang. Von Süden her kommst du über sechs Pfeiler, über die sich die Brücke nach Norden biegt, dann geht es geradeaus in nördlicher Richtung, quer über die Bucht, zuerst auf zweiundzwanzig Pfeilern in Abständen von einhundertzwanzig Fuß. Nun kommt der mittlere Teil der Brücke auf fünfzehn Pfeilern, mit Spannweiten von zweihundert Fuß. Bis zu diesem Teile liegen die Gitterbalken, welche die Pfeiler verbinden, unter den Schienen der Bahn, die langsam ansteigt. Über den mittleren Teil fährt die Bahn tunnelartig durch die Gitterbalken selbst, um so die erforderliche freie Höhe über dem Flutniveau zu gewinnen. Hierauf kommen nochmals einhundertzwanzig Fuß lange Gitterbalken auf sechzehn Pfeilern. Dann macht die Brücke einen großen Bogen, fast einen Viertelskreis, nach Osten in fünfundzwanzig Spannungen von sechsundsechzig Fuß lichter Weite. Nun kommt ein Sprengwerk von einhundertundsechzig Fuß Länge als Durchlaß für kleinere Schiffe, und zum Schluß noch sechs Pfeiler im Abstand von siebenundsechzig Fuß. Alles zusammen neunundachtzig Pfeiler und eine Gesamtlänge von zehntausenddreihunderteinundzwanzig Fuß, zu deutsch fast zwei englische Meilen."
"Ohne ein Stück Papier und einen Bleistift läßt sich all dies kaum genügend bewundern", sagte ich, um nicht allzu überwältigt zu erscheinen. "Aber es scheint eine ziemlich große Brücke zu sein, Stoß! Ich wünsche ihr alles erdenkliche Glück, bis sie steht und auch nachher."
"Natürlich hat man nur einen Teil eines solchen Werkes auf dem Herzen", versetzte er jetzt mit leuchtenden Blicken; die etwas langweilige Aufzählung von Pfeilern und Spannweiten hatte ihn wunderbar begeistert. "Aber man wird selbst ein Stück des Ganzen, ehe man sich's versieht. Jeden Wunsch für die Brücke fühle ich wie einen Wunsch für mich und Billy. Lassen wir uns leben!"
Wir stießen an. Der blutrote Ungarwein blitzte im Sonnenlicht, als ob er uns verstünde.
"Das Beste hat er Ihnen noch nicht erzählt", meinte Frau Stoß, "die Pfeilergeschichte."
"Es kommt, Schatz, aber fast zum zweitenmal; du hast sie mir halb weggenommen. Ursprünglich waren, von einem Ende zum andern, Steinpfeiler  projektiert. Dies brachte die Kosten der Brücke auf zweihundertfünfzigtausend Pfund, was dem Verwaltungsrat der Nordflintshire-Bahn viel zu hoch schien, so daß der ganze Plan wieder einmal im Begriff stand, ins Wasser zu fallen. Da, auf dem Heimweg nach Richmond, kam mir eines Tages der Gedanke, die Steinpfeiler nur bis zur Höhe des Flutniveaus zu führen und von diesem Punkte an aufwärts in Eisen zu bauen. Acht gußeiserne, säulenartige Röhren, mit schmiedeeisernen Kreuzen verbunden, sollten von hier an die Steinpfeiler ersetzen. Jenkins war außer sich. Die Britanniabrürke stand auf Steinpfeilern. Es war Wahnsinn, die Ennobrücke auf achtzig Fuß hohe Spindelbeine zu stellen. Wir kämpften zwei Wochen lang auf Leben und Tod. Während dieser Tage gestalteten sich meine Spindelbeine immer zierlicher, sicherer und einfacher. Bruce war mit mir schon längst überzeugt, daß die gewöhnlichen Formeln für die Bruchfestigkeit gußeiserner Röhren im Prinzip falsch sind. Nach meiner Art rechnend mußte die Brücke mit eisernen Pfeilern um siebzigtausend Pfund billiger werden als mit gemauerten Pfeilern. Drei Tage lang schloß ich mich ein, um alles, was sich für meinen Plan sagen ließ, schwarz auf weiß niederzuschreiben. Billys blaue Augen halfen mit - vielleicht etwas zu sehr. Jedenfalls wurden die Formeln fast so lang wie die Pfeiler und bewiesen sonnenklar, daß der Plan einen glänzenden Erfolg versprach, wenn die Grundsätze richtig waren, nach denen ich rechnete und rechnen mußte."
Stoß sprach diese Worte mit einer leidenschaftlichen Hast aus, die ich für sehr unnötig hielt. Ich hatte nicht die geringste Absicht, ihm zu widersprechen.
"Mit Sir William hatte ich keine große Mühe mehr. Er wollte mir glauben und ließ Formeln Formeln sein. Er hatte zu viel andre Eisen im Feuer, und Jenkins wurde ihm nachgerade widerwärtig. Als er sich entschlossen hatte, meinen Plan anzunehmen, sprach er so ungefähr wie ein alter Märchenkönig, dem ein kluges Schneiderlein die Krone gerettet hatte: 'Bitten Sie sich eine Gnade aus!' Ich wußte, daß die entscheidende Stunde meines Lebens gekommen war, und bat um Billy. Er erschrak und schüttelte allerdings den Kopf. 'Das, lieber Stoß', sagte er, 'ist eine Frauengeschichte. Soviel ich weiß, hat Missis Bruce andere Ideen. Ich hoffte, Sie würden ein erhöhtes Gehalt verlangen, und mische mich sehr ungern - sehr ungern, Herr Stoß - in das Gebiet meiner Frau. Sie werden mich später vielleicht verstehen lernen.' - Diese Wendung der Dinge mußte ich doch mit Miß Ellen besprechen, und hierbei wurden wir in der indischen Pagode erwischt, wie du weißt." -
Ich dankte und beglückwünschte Stoß für seinen musterhaften Geschäftsbericht. Dann trat die Brücke wieder in den Hintergrund, und die nächste Stunde wurde nach der Melodie: "Alles, was wir lieben, lebe" verplaudert. Ich erzählte, so kurz ich konnte, wie ich mich recht und schlecht in Afrika und Amerika umgetrieben und wie es auch mir nicht übermäßig übel ergangen sei. "Aber allerdings, so weit wie du, du Glückspilz, habe ich es nicht gebracht. Nicht jeder findet die Brücke, die du gefunden hast. Ich laufe noch immer einsam seufzend am diesseitigen Ufer hin und her."
"Besuchen Sie uns doch in Richmond. Ich --" rief Frau Stoß eifrig, stockte dann plötzlich und sah ihren Mann an, als ob er schon alles verstanden habe.
"Du scheinst schlimmer daran zu sein als unser guter Schindler" , lachte dieser. "Erinnerst du dich des hoffnungsvollen Anfangs, den er von der Grünheustraße aus machte?"
"Kann man das vergessen: 'quand on a du courage!'" rief ich, und die alte Zeit kam plötzlich zurück mit ihrem ganzen fröhlichen Jugendelend, das längst zur genußreichsten Erinnerung geworden war. "Wo er hingeraten sein mag? Es sollte mich wahrhaftig nicht wundern, wenn er mit dem nächsten Wagen heraufkäme. Heute ist schon einmal ein Tag, an dem Wunder geschehen."
"Nicht mit Schindler. Wunder sind nicht seine Spezialität", meinte Stoß. "Aber ein braver Kerl ist er trotzdem, dem du sein Glück gönnen kannst."
"Baut er auch Brücken?"
"Nein, aber er sitzt wieder im Thüringischen, hat sein Gretchen geheiratet, die er schon in Manchester trotz der hoffnungslosen Ferne über alles liebte, ohne viel Aufhebens davon zu machen, ist Professor geworden, doziert Englisch an einer kleinen Gewerbeschule und vermutet, unbeschreiblich glücklich zu sein. - Er schreibt mir von Zeit zu Zeit, denn er ist eine treuere Seele als manche, die ich rücksichtsvoll hier nicht erwähnen will. - Es wird kühl, gehen wir!"
Stoß stand auf.
"Warte den nächsten Wagen ab. Ich habe ein Vorgefühl; Schindler kommt!" sagte ich zögernd.
Stoß lachte mich aus, aber wir warteten. Wir waren jetzt die einzigen unter der Veranda. Die ganze Natur lag in herbstlicher Stille um uns her. Es war ein Hochgenuß nach dem lärmenden Treiben der letzten Wochen, und auch Stoß schien mit ähnlichen Gedanken aufzuatmen. Ein leichter Abendwind hatte sich erhoben. Er hielt - eine Gewohnheitsbewegung, die ich schon mehrmals an ihm beobachtet hatte - seinen Vorderarm in die Höhe und ließ, die Hand senkrecht gegen die Luftströmung emporhaltend, den Wind durch die geöffneten Finger wehen. Ellen zog seinen Arm herunter.
"Das ist auch etwas, von dem wir blutwenig wissen: vom Luftdruck eines Windstoßes", sagte er nachdenklich, und derselbe scheue Blick, den ich jetzt zur Genüge kannte, kam in seine Augen. "Drückt ein guter Sturmwind mit zwanzig, oder mit vierzig, oder mit fünfzig Pfund auf den Quadratfuß, der ihm im Wege steht? Du kannst all das in Büchern finden und wählen. Fragst du die Herren Gelehrten aufs Gewissen, so hat es einer vom andern abgeschrieben. - Und dann: drückt der Wind auf eine Fläche von zwei Quadratfuß zweimal so stark als auf einen? Nicht einmal das wissen sie!"
Er leerte sein Glas ungeduldig.
"Es ist Zeit, daß wir mit Harold nach Florenz kommen", meinte Frau Stoß, nicht so fröhlich wie bisher. "Er hat Tage, an denen er wie Espenlaub zittert, wenn ein Wind geht."
"Solange du mitzitterst, ist alles gut!" flüsterte ihr Mann mit einem plötzlichen Ausbruch von Zärtlichkeit, der mich veranlaßte, das Kloster auf dem Leopoldsberg ins Auge zu fassen. -
Aber auch mit dem nächsten Wagen kam Schindler nicht. Im erbärmlichsten Roman wäre er sicherlich gekommen, woraus man schließen kann, daß der erbärmlichste Roman dem harten, rücksichtslosen Leben vorzuziehen ist. Doch sind die Ansichten hierüber geteilt.
Wir fuhren zu Tal. Es war auch so ein Wiedersehen gewesen, das ich lange nicht vergaß.

DIE BRÜCKE

Zunächst hatte die Begegnung mit meinem alten Freunde die Wirkung, daß ich mich plötzlich für Brücken interessierte wie nie zuvor. Früher waren mir diese starren, toten Machwerke ziemlich gleichgültig gewesen. Höchstens als Zugabe zu einer Landschaft ließ ich sie gelten, und dann waren sie mir um so willkommener, je gefährlicher und zerfallener sie aussahen. Ich war zu sehr Maschinenbauer geworden. Was meine technische Teilnahme fesseln sollte, mußte Umdrehungen machen, sich mindestens bewegen. Mit einer Brücke ließ sich nichts anfangen, wenn sie nicht umfiel; man konnte sie höchstens anstreichen. Dies wurde nun anders. Alles wenigstens, was über den Fortschritt der Ennobrücke in Zeitungen und technischen Journalen zu finden war, suchte ich liebevoll zusammen. Ein freundschaftlicher Briefwechsel mit Stoß kam in Bewegung, bei dem nach guter Freunde Art sich allerdings keiner überstürzte. Wir teilten uns gelegentlich unsre Hoffnungen und Sorgen wieder mit, wobei ich ein etwas bunteres Bild darbieten, er in satteren Farben malen konnte. Ein Riesenwerk wie die Ennobrücke nimmt, für gut oder übel, den ganzen Menschen gefangen.
Seine Briefe, die ich sorgfältig aufbewahrte, wurden später durch ein halbes Dutzend andrer an seine Frau ergänzt. Wie diese in meine Hände kamen, wird sich in geeigneterer Weise später zeigen lassen. Ein kleiner Auszug aus beiden Paketen erspart mir die Schilderung der Hauptvorgänge während des gewaltigen Baus, der acht Jahre lang in weiten Kreisen mit reger Aufmerksamkeit verfolgt wurde. - Die ersten zwei Schreiben stammen aus der Zeit, die unserm Zusammentreffen auf dem Kahlenberg voranging. Trotzdem mögen sie der Vollständigkeit halber hier eine Stelle finden.


Ennobucht, den 25. Juni 1871.

Meine liebe Ellen!

Dein Papa behauptet, ich sei in den nächsten drei Wochen hier im Norden nützlicher als in London und Richmond. Ich fürchte, wir müssen es glauben. Ehre Vater und Mutter, auf daß dir's wohl gehe. Die Folge aber ist, daß ich Dir den Festbericht von gestern nicht mit den üblichen Küssen mündlich abstatten kann. Und das Schlimmste scheint mir: meiner kurzen Verbannung in diese Wildnis werden wohl andre, längere folgen, bis wir in fünf bis acht Jahren trockenen Fußes und Arm in Arm über das Stückchen See wandeln können, das sich vor meinen Augen breit macht. Ich habe mir deshalb heute vormittag in Lavalettes Arbeitsschuppen ein Stübchen zurechtgemacht, von dem aus ich die herrliche Wasserfläche übersehen und an Dich denken kann. Es werden vorläufig manche erzwungenen Pausen in unsrer "fieberhaften Tätigkeit" eintreten, wie meine alten Wiener Landsleute zu sagen lieben, wenn sie sich gemächlich an die Arbeit machen. Aus diesen mögen Briefe werden, die den Dokumenten Deiner Brautzeit nichts nachgeben sollen. Du siehst, ich bin seit gestern zu allen guten Vorsätzen fähig. Auch verspreche ich Dir, daß Du selbst vor Ablauf von acht Jahren an dieser Stelle ein zweites Fest mitfeiern sollst, das die kleine Tragikomödie von gestern auslöschen und vernichten wird. Die kommende Eröffnungsfeier der Brücke will ich selbst in die Hand nehmen.
Grundsteinlegen können nämlich Deine wackeren Landsleute, die sonst so vieles können, nicht! Eure Freunde über dem Kanal hätten sich den Tag anders eingerichtet, trotz ihres augenblicklichen Elends. Da wären ein Regiment Kürassiere, ein Bischof und ein Altar, die Bürgermeister der halben Republik, fünfzig weißgekleidete Jungfrauen, fünfundzwanzig Komiteemitglieder in Nationalfarben, Vertreter gelehrter und ungelehrter Zünfte, Blechmusik an beiden Ufern, die vorläufig eine Brücke aus Tönen hergestellt hätten, Böllerschüsse und Feuerwerk angerückt gekommen, um den Segen von Himmel und Erde auf das große Werk herabzurufen. Hier standen wir, fünfzehn aufgespannte Regenschirme, sang- und klanglos um ein wassergefülltes Loch herum, als ob wir einen viereckigen Selbstmörder begrüben. Nur die Eingeweihtesten konnten zur Not ahnen, daß dies ein feierliches Freudenfest war und der erste Stein der großen Ennobrücke versenkt wurde. Da war Dein Papa feierlich und freudig erregt, wie es sich geziemte. Am Morgen hatte er die Nachricht erhalten, daß der Regierung Ihrer Majestät ein Licht aufgegangen und der verdienstvollste Mann des Königreichs geadelt worden sei. "Sir William" stand am Schluß der fünfzehn Jahre langen Vorarbeiten seines gewaltigen Unternehmens, Arbeiten, die einen Elefanten hätten umbringen können. Hinter ihm standen vier Direktoren der Nordflintshire-Eisenbahn - einundzwanzig hatten sich entschuldigt; ihm gegenüber der Bürgermeister, ein Magistratsmitglied von Pebbleton und drei Kollegen aus der Nachbarschaft. Die Bürgerschaft des Königreichs repräsentierte der Wirt zum "Goldenen Kreuz", ebenfalls aus Pebbleton, bei dem das Festessen bestellt war und der die kleine Versammlung mit der Miene tiefster Besorgnis musterte. Er hatte auf dreimal soviel Gedecke gerechnet. Das Ingenieurwesen vertrat nächst Deinem Vater der alte Lavalette, der die Ausführung der Brücke übernommen hat, in einem den Witterungsverhältnissen angepaßten Frack und sehr schmutzigen Stiefeln, Jenkins, der wie eine auf einer Ferienreise begriffene Nachteule dreinsah, ich und die jungen Leute von Lavalette. Die etlichen hundert Erdarbeiter, Maurer und Zimmerleute, die bereits hier sind, standen verschüchtert, wenn auch neugierig in einiger Entfernung und wollten sich nicht heranwinken lassen, als ob sie das Losgehen einer Sprengpatrone erwarteten. Es war aber zunächst nur Dein Vater, der einige passende Worte sprach, die man wegen des Windes leider nicht verstehen konnte. Ihm folgte der erste Bürgermeister von Pebbleton, der in längerer Rede auf die blühende Jutefabrikation seiner Stadt hinzuweisen begann, zum Glück aber nicht weit kam, weil ein Windstoß seinen Regenschirm umdrehte und die Arbeiter dies als das verabredete Zeichen ansahen, in ein kräftiges Hurra auszubrechen, womit die feierliche Handlung schloß. Etwas zu spät, aber sehr rasch versank der Stein in seinem feuchten Grab und bespritzte zum Dank die Nächststehenden mit großen gelben Lehmklumpen, die sie bis zum Schluß des Tages zur Schau trugen. Dann fuhren wir in einem bereitliegenden Dampfer nach Pebbleton hinüber und saßen eine Stunde später bei einem vortrefflichen Mahl. Ganz unerwartet und hocherfreulich war es, daß sich hierzu sämtliche Direktoren der Bahn, sämtliche Stadtverordnete von Pebbleton und eine überraschende Zahl enthusiastischer Bürger eingefunden hatten. Ende gut, alles gut. Gegen elf Uhr nachts hatte man die Brücke nahezu vergessen, obgleich sie in wenigstens zehn Toasten in all ihren Beziehungen zu dieser und jener Welt gefeiert worden war. Die Festlichkeit artete in eine allgemeine Verbrüderung von Nord und Süd, von alt und jung, von Landwirtschaft und Industrie, von Gott und Welt aus, gegen die sich vom ethischen Standpunkte aus gewiß nichts einwenden läßt. Für uns, die eigentlichen Brückenbauer, war es ein halbverlorener Tag. Doch muß man billig sein: in acht Jahren stellt ein halber Tag keinen fühlbaren Verlust dar.
Um so flotter muß es jetzt vorwärtsgehen. Lavalette ist ein netter Herr, guter, solider Engländer trotz seines französelnden Namens, den eine alte Hugenottenfamilie herübergebracht hat, wie ich höre. Man spürt noch etwas von dem ernsten Enthusiasmus seiner Vorfahren, den wir bei Franzosen nicht erwarten, wenn er seine Leute kommandiert oder Pläne für die nächste Zukunft bespricht. Der Mann gefällt mir außerordentlich. Er hat das niederste Gebot für die Brücke gemacht: zweihundertfünfzehntausend Pfund; und ich fürchtete ernstlich, ehe ich ihn kannte, es werde zu niedrig sein. Das ist bei einem so großen Unternehmen für alle Teile ein Unglück. Aber eine Energie und eine Geschäftsgewandtheit wie die seine sind imstande, fünfzigtausend Pfund zu ersetzen. Jedenfalls erwarte ich, gut mit ihm auszukommen, solange er mit dem Gelde auskommt. Er ist, wie jedermann um mich her, in die Brücke verliebt, seitdem er, vor fünf Jahren, im Auftrag Deines Papas die Sondierungen für die Pfeilerfundamente vornahm. Daher erklärt sich auch sein billiges Angebot. Und außerordentlich beruhigend ist es, daß nun derselbe Mann, der diese wichtigen Untersuchungen in Händen hatte, auf denselben auch weiterbauen muß. Du weißt nicht, Schatz, wie unnötig viele Sorgen einem durch den Kopf gehen, wenn man den glatten Wasserspiegel vor sich sieht, der heute, so unschuldig wie ein Kind, das Blau des Himmels zurückstrahlt. Wer kann wissen, was unter dieser glänzenden Oberfläche liegt und liegen wird, ehe wir lustig darüber wegfahren!
Am Strande wenigstens fängt es an lebendig zu werden. Schuppen, Magazine, Geschäftszimmer, Arbeiterwohnungen wachsen aus dem Boden. Am Ufer - man weiß wahrhaftig heute noch nicht, soll man hier von Strand oder Ufer, von Meer oder Fluß sprechen; die Ennobucht bleibt ein geheimnisvoller Hermaphrodit -, am Ufer also ist ein langer hölzerner Landungsstaden fertig. Zwei gewaltige Plattformen sind im Bau begriffen. Auf der einen sollen die Gitterbalken zusammengenietet, auf der andern die Senkkasten und das Belastungsmauerwerk für dieselben gebaut werden, auf welche die künftigen Pfeiler zu stehen kommen. In einigen Wochen wird das alles in vollem Gang sein. Was die Sache so interessant und schwierig macht, ist, daß der Bau der Brücke die Schiffahrt nicht unterbrechen darf, daß also keine Gerüste irgendwelcher Art in dem Strombett aufgebaut werden dürfen. An den drei steinernen Landpfeilern hat man heute mit neunzig Arbeitern zu mauern angefangen.
Vorläufig liegt die weite Bucht noch vor uns im Gold der Abendsonne, als ahnte sie nichts Böses: ein stilles, glückliches Bild, wie es die Natur schuf, ehe Menschen waren. Friedlich rollt die Flut herauf und kümmert sich nicht um die Zwerge, die emsig am Ufer hantieren. Es ist, als fühlten die gewaltigen Wassermassen, daß sie hier Herr sind und nichts und niemand, seit Kanut dem Großen, ihnen zu widerstehen wagt. Aber es kommt anders, mein guter Enno. In wenigen Jahren stehen achtzig schlanke Pfeiler in deinem Grund, gegen die du toben kannst, soviel du Lust hast, und über deiner Tiefe liegt ein eisernes Band, auf dem die Zwerge hin und her fahren, wenn es ihnen beliebt, ob du flutest oder ebbst, im Sturm tobst oder still im Abendrot schimmerst. Die Tage deiner Alleinherrschaft sind gezählt.
In weiter Ferne, drüben in Pebbleton, zünden sie die Lichter an. Die zusammengehören, setzen sich ums Kamin. Es wird Feierabend in der Welt. Auch das Rufen und Rennen, das Gehämmer und Gesäge am Staden unten hat aufgehört. Ich muß hier in meiner einsamen Bude aushalten, so gut ich kann. Aber wenn einmal unsre Brücke steht, Billy, wollen wir auch zusammensitzen wie die Pebbletoner. Nein, schon vorher; hundertmal vorher!
Dein vereinsamter Brückenbauer.

Nachschrift: Schicke mir meine großen Logarithmentafeln hierher. Sie liegen in meinem Arbeitszimmer links oben auf dem Bücherschrank. Das Inspizieren und Überwachen ist eine einförmige Arbeit und läßt manchmal Zeit zu allerhand Nebensächlichem. Auch kann ich Dir nicht immer von meiner Sehnsucht erzählen, wie Du's verlangst. Zur Erholung möchte ich alle auf die Brücke bezüglichen Berechnungen noch einmal durcharbeiten. Das beruhigt. War Dir dieser Brief lang genug?

Ennobucht, den 6. November 1872.
Du willst zu viel wissen, Billy, und zu viel wissen, sagen wir in meinem alten Vaterland, macht Kopfweh. Ganz kannst Du Dich von Deinem Geschlecht eben nicht losreißen. Ich wäre auch übel dran, wenn Du's könntest. Und so werde ich das kleinere der zwei Übel wohl auf mich nehmen müssen und Deine weibliche Neugierde zu befriedigen suchen, so gut es geht. Schimpfe aber nicht nachher, man verstehe kein Wort von allem, was ich sage. Zu einem unverständlichen Bericht gehören immer zwei, und nicht immer ist der arme Berichterstatter der schuldige Teil.
Lavalette will mich um jeden Preis wieder vier Wochen hier behalten, bis das Versenken der neuen Senkkasten in geregeltem Gang ist. Er hat nicht ganz unrecht, denn ich bin für die Änderung verantwortlich, für die er mir übrigens dankbar ist, wie es halbe Franzosen sind - avec effusion.
Wie meine Senkkasten aussehen? - warum Papas alte nichts taugen?- was ein Senkkasten sei?- das alles sprudelst Du heraus, als ob man solche Fragen in zwei Worten beantworten könnte. Aber ich will mein möglichstes tun. Das ist hier die Regel für uns alle.
Es handelt sich also vor allen Dingen darum, für unsre neunundachtzig Pfeiler in zwanzig bis dreißig Fuß tiefem Wasser feste Grundmauern zu schaffen. Dabei ist der Boden der Bucht kein Fels, wie wir ihn brauchen, sondern auf eine Tiefe von zehn bis fünfzehn Fuß Sand und grobes Geröll. Erst unter dieser Schicht, also vierzig bis fünfzig Fuß unter der Wasseroberfläche, findet man Gestein, auf dem sich bauen läßt.
Nun nimm meinen feinsten schwarzen Seidenhut und schneide ringsum den Rand sorgfältig ab - doch nein! tu dies lieber nicht! - Denke Dir ein einfaches Wasserglas ohne Fuß, drehe es um und stelle es so ins Wasser. Das Wasser soll dreimal tiefer sein als die Höhe des Glases. Die im Glas eingeschlossene Luft wird zunächst verhindern, daß sich dieses völlig mit Wasser füllt. Denke Dir weiter ein kleines Loch in dem nach oben gekehrten Boden des Glases und eine dichtschließende Röhre in das Loch geschraubt, die bis zur Wasseroberfläche heraufreicht. Wenn Du durch diese Röhre hineinbläst, so wird durch die Spannung der Luft weiteres Wasser aus dem Glase verdrängt; bläst Du stark genug - ich weiß, du würdest dies tun -, so treibst du alles Wasser aus dem Glase hinaus, so daß selbst der Boden, auf dem es steht, trockengelegt wird. Früher hieß man dies einen Caisson, aus Höflichkeit, weil die Franzosen sich einbilden, das Ding erfunden zu haben; heute ist es ein Senkkasten.
Das heißt, Du mußt Dir das Glas neun Fuß im Durchmesser und sieben Fuß hoch denken, so daß vier Leute bequem darin stehen und arbeiten können, und das runde Loch in der Decke etwa drei Fuß weit; die Röhre, die vom Loch durch das Wasser nach oben führt, vielleicht zwanzig Fuß hoch, und das Ganze aus starkem Eisenblech und teilweise aus Gußeisen. Siehst Du es jetzt?
Dieses Ungetüm, so groß wie ein kleines rundes Haus mit einem unförmlich hohen Schornstein in der Mitte, wird am Ufer angefertigt, zwischen zwei Schiffe gehängt und in den Strom hinausgefahren. An der Stelle, wo man seinen Pfeiler haben will, wird es versenkt und schneidet mit seinem kreisrunden, scharfen Rande unten zunächst in den Sand und das Gerölle ein, auf das es zu stehen kommt. Mittlerweile hat man auch einen mächtigen Block aus Zement und Backsteinen gebaut, im Durchmesser so groß wie der Senkkasten und zwölf oder fünfzehn Fuß hoch, der ein Gewicht von viertausend Zentnern hat. Auch dieser Riesenblock wird von zwei Schiffen geholt und versenkt, so daß er genau auf den eisernen Senkkasten zu stehen kommt und dann noch zur Zeit der Ebbe wie ein Inselchen aus dem Wasser herausragt.
Wie diese gewaltigen Massen von den zwei Booten am Ufer abgehoben, zwischen denselben hängend davongetragen werden und dann genau an der richtigen Stelle in der dunkeln Tiefe verschwinden, will ich Dir heute nicht erzählen. Das meiste schafften dabei Ebbe und Flut für uns, die täglich zweimal das Niveau des Stromes an dieser Stelle um sechs bis zehn Fuß heben und senken. Es hat fast etwas Ergreifendes, wenn man zum erstenmal sieht, wie die geheimnisvolle Naturkraft, die vom fernen Mond herkommt, unsere riesigen Blöcke leise, aber mit einer fürchterlichen, alles zermalmenden Sicherheit packt und wir nur zuzusehen brauchen und den richtigen Augenblick nicht verpassen dürfen. Es wird einem ordentlich bange, wenn die gewaltigen Massen sich stöhnend erheben, als ob sich's von selbst verstünde, ihre Wanderung über Wasser antreten und gurgelnd versinken, um drunten in der Tiefe ihre neuen Pflichten zu erfüllen.
Dann machen sich die Transportboote mit ihren hydraulischen Winden davon, und das Boot mit der Luftpumpe legt sich an die kleine Kunstinsel, in deren Mitte der schornsteinartige Luftschacht des Senkkastens hervorragt. Derselbe wird durch eine Luftkammer mit doppelten luftdichten Türen geschlossen, von denen die eine sich nach außen, die andre nach innen in den Luftschacht öffnen läßt. In diesen Schacht wird jetzt Luft gepumpt. Dieselbe treibt das Wasser aus dem Senkkasten hinaus, so daß man jetzt durch die Luftkammer in die Röhre und in die mit gepreßter Luft gefüllte Kammer hinuntersteigen kann. Dort steht man trockenen Fußes zwanzig Fuß unter Wasser auf dem Sand und Geröll des Flußbettes wie in einem runden Stübchen. Nun geht's ans Ausgraben des Senkkastenbodens. Sand, Steine, Schlamm werden durch den Luftschacht hinaufgeschafft. Es entsteht ein sich langsam vertiefendes Loch, im Durchmesser so groß wie der Senkkasten selbst, in welches derselbe durch sein eigenes Gewicht tiefer und tiefer in den Boden sinkt. Dadurch würde unser Inselchen an der Oberfläche des Wassers bald verschwunden sein, wenn nicht Maurer den Zementblock fortwährend um so viel nach oben weiterbauten, als er in der Tiefe versinkt. Schließlich ist der höher und höher werdende Bau durch die ganze Schicht von Sand und Lehm und Geröll in dieser Weise durchgesunken. Der Senkkasten sitzt auf dem Felsgestein, auf dem er für immer zur Ruhe kommt. Nun wird das hohle Innere desselben ausgemauert und mit Beton gefüllt. Ist dies geschehen, so ist der Pfeiler vom Felsengrund bis an die Wasseroberfläche ein turmartiger, fester Steinblock, auf dem sich getrost weiterbauen läßt.
Verstehst Du das jetzt, Billy? Die niedlichsten Sachen habe ich natürlich weglassen müssen; wie die Leute durch die Luftkammer in das Rohr kommen, wie die gespannte Luft erhalten wird, wie es den Arbeitern drunten zumute ist, wie das Geröll herauskommt, ohne daß der ganze Senkkasten, wie eine Champagnerflasche knallend, seine gespannte Luft verliert, und andres mehr. Das alles wollte ich Dir mündlich gerne auseinandersetzen, wenn Du dann nicht immer vorzögest, Dummheiten zu machen.
Nun bilden zwei solche Senkkästen, die nebeneinander zu stehen kommen und oben mit Mauerwerk verbunden werden, die Basis eines eigentlichen Brückenpfeilers. Aber schon bei den ersten fünf Pfeilern, die in verhältnismäßig geringer Tiefe Felsgrund fanden, hatte man große Schwierigkeiten. Im Sand, durch den sie versenkt werden, liegen gelegentlich mächtige Steine und Felsblöcke, welche der Strom in Urzeiten aus dem Gebirge herabgebracht haben mag. Wenn die Kante des Senkkastens auf einen derartigen Felsblock stieß, wollte das erforderliche senkrechte Versenken nicht mehr gelingen. Drei Pfeiler fielen hierbei völlig um und machten die fürchterlichste Mühe und Arbeit, bis sie wieder aufgerichtet und endlich richtig gestellt waren. Die Basis jedes einzelnen war für seine Höhe zu klein. In dieser Weise konnte Lavalette nicht weitergehen. Nach meinem Vorschlag wurden nunmehr beide Senkkästen auf einen gemeinsamen, ovalen, schmiedeeisernen Unterbau aufgesetzt, in dieser Weise fest verbunden und gleichzeitig versenkt. Hierdurch gewann man eine doppelt so große Basis, und die zwei Teile des Doppelpfeilers konnten ihre parallele Stellung nicht verlassen. Es scheint so in der Tat vortrefflich zu gehen und hat die Sorgen, die uns durch den ganzen letzten Monat quälten und Lavalettes Haar, nach seiner Behauptung, gebleicht haben, aus der Welt geschafft. Jetzt ist alle Hoffnung vorhanden, daß wir rascher vorwärts kommen und die neunundachtzig Inselchen bald über die Bucht punktiert sein werden.
Vorige Woche wurde der erste Gitterbalken zwischen dem vierten und fünften Pfeiler aufgelegt. Das ist auch eine hinlänglich wundersame Geschichte zum Zusehen. Was wir hier unter einem Balken verstehen, ist die ganze Brücke, fix und fertig, mit Ausnahme der Schwellen und Eisenbahnschienen, welche zwei Pfeiler verbindet; ein Ding aus schmiedeeisernen Stäben und Stangen, fünfzehn Fuß hoch, etwa zehn Fuß breit und an diesem Ende des Baues hundertzwanzig Fuß lang, das etwa sechsunddreißighundert Zentner wiegt. Die Stäbe und Stangen kommen, in richtiger Länge geschnitten und gebohrt, von Wales, wo Lavalette seine Eisenwerke hat, und werden hier auf der hölzernen Plattform über dem Wasser, die hierfür gebaut wurde, zusammengestellt. Ist der Balken fertig, so werden an beiden Enden bewegliche Stücke der Plattform entfernt. Zwei Boote fahren während der Ebbe in die entstandenen Lücken unter den Gitterbalken. Mit der steigenden Flut heben sich die Boote und heben auch den Balken in die Höhe, der jetzt, von den beiden Booten getragen, schwimmt. Das sonderbare Fahrzeug wird nun nach den Pfeilern geschleppt, für die es bestimmt ist, welche bei Hochwasser nur wenige Fuß über die Flut hervorragen. Dort wird das Ganze so verankert, daß bei Wiedereintritt der Ebbe die sinkenden Boote unsre Balkenenden auf beiden Pfeilern sitzen lassen und nach kurzer Zeit des weiteren Sinkens frei unter dem Balken wegsegeln können. Was wir ohne Ebbe und Flut machen würden, weiß ich nicht. Es ist eine wundervolle Einrichtung und nur schade, daß wir sie nicht auch erfunden haben.
Nun aber werden auf den zwei Pfeilerinselchen hydraulische Pressen aufgestellt, mit denen der Balken langsam in die Höhe gepumpt wird, während die gußeisernen Säulen Glied um Glied untergeschoben werden, bis der Balken seine richtige Höhenlage, etwa achtzig Fuß über der Wasserfläche, erreicht hat, so daß große Segelschiffe unter ihm durchfahren können.
Dieses Manöver wurde also gestern zum erstenmal ausgeführt. Es ging alles glatt und ohne Anstand vonstatten. Jede Bewegung, jede Pause war ausgeklügelt. Mit der Sekundenuhr in der Hand, einen Mann mit einem Sprachrohr an der Seite, kommandierte Lavalette Schiffe und Leute. An diesem ersten Tag stieg der Balken um zwanzig Fuß in die Höhe. Aber ich war doch begierig, als es Dämmerung wurde, ob wir ihn am nächsten Morgen noch oben finden würden. In sechs Tagen hatte er seine richtige Höhe erreicht, und meine gußeisernen Pfeiler stehen da, als ob sie in den Himmel wachsen wollten. Ich gebe zu, daß man sich an den Anblick gewöhnen muß. Manchmal krampft sich mir doch das Herz zusammen, wenn ich von einem Boot aus oben am blauen Firmament das Gitterwerk betrachte. Man glaubt die ganze fürchterliche Eisenmasse schwanken zu sehen. Natürlich ist es die Bewegung des Bootes, oder es sind die fliegenden Wolken, die das Auge täuschen. Gut aber ist es doch, daß es nicht jedermann zu sehen bekommt. Auch Jenkins brauchst Du nichts zu sagen.
Du siehst, es geht alles munter vorwärts. Lavalette hat jetzt rund dreihundert Arbeiter auf dem Platz, zweihundert hier und hundert am Nordufer. Es ist eine Freude, ein solches Werk wachsen zu sehen, und ich weiß, Du freust Dich mit mir. Die Sorgen laß mir allein. Manchmal brauchen sie einen dicken Schädel und ein festes Herz. Das Unerwartete kommt uns so oft in die Quere, und dann geht auch im gewohnten Gleise nicht immer alles, wie es sollte. Von manchem kritischen Punkte wissen wir noch so blutwenig und sollen und müssen darauf losbauen. Aber wo wäre die Welt geblieben, wenn nicht einige die Nerven gehabt hätten, die es möglich machen, im Dunkeln zuzugreifen.
Das Wetter wird schlecht. Es stürmt viel. Gerade heute rüttelt der Westwind an den etwas mangelhaften Fenstern meiner Bude nicht übel, und die ganze Bucht ist mit weißen Wellenkämmen bedeckt.
Früher freute mich das Brausen, wann und wo ich's hörte. Seit einiger Zeit macht mich's völlig beklommen, ohne daß ich mir bewußt werde, weshalb. Wenn ich den Gitterbalken dort drüben in der Luft ansehe, weiß ich's. Alles ist nicht reines Vergnügen in dieser Welt, Billy, und der diesjährige November ist nicht unser erster Mai.
Trotzdem bleibe ich
Dein getreuer
Brückenbauer.


Ennobucht, den 2. September 1874.

Lieber Freund!

Wenn Du bei unserm wunderbaren Zusammentreffen auf dem Kahlenberg, das meiner Frau besser gefiel als die ganze italienische Reise, einige Teilnahme für meine Brücke heucheltest, so hast Du nicht ungeschickt geheuchelt. Doch würde ich Dir mehr trauen, wenn Du Dich dazu aufschwingen könntest, die Sache in natura anzusehen. Bei Deinen Hin- und Herfahrten zwischen Algier und Rumänien, oder wo Dich diese Zeilen finden mögen, wäre Dir ein kleiner Seitensprung nach dem Norden zu gönnen, namentlich geistig. Selbst für einen verbauerten Schollenbrecher fängt die stattliche Reihe von Pfeilern an sehenswert zu werden, die jetzt von beiden Ufern in die See hinausstreben, um sich mit der Zeit in der Mitte der Meeresbucht - Gott allein weiß zwar, wann - die trutzigen Hände zu reichen. Je länger ich hier bin, um so fester bin ich nämlich überzeugt, daß wir es nicht mit der gewaltigen Mündung eines kleinen Flusses, sondern mit einem kleinen Arm des gewaltigen Ozeans zu tun haben. Es wächst der Mensch mit seinen höheren Zwecken, und umgekehrt.
Die Begegnung in London, die Du mir zwischen zwei Deiner Blitzzüge vorschlugst, konnte ich leider nicht einhalten, da mich ein Telegramm ganz unerwartet hierher sprengte. Alles war im besten Gang, als uns aus scheinbar blauem Himmel ein kleiner Unglücksfall traf; ein großer, menschlich gesprochen, denn es sind sieben brave Arbeiter dabei zugrunde gegangen. Die Zeitungen, die Dich in Algier schwerlich erreichen, machten einen großen Lärm von der Sache, als ob damit etwas geholfen wäre. Die Federfuchser wissen nicht, was es heißt, mitten im Kampf mit der feindlichen Natur zu stehen. Auch unsre Schlachten haben ihre Toten; es kann nicht anders sein. Doch bleibt es, selbst ohne dieses sinnlose Geheul, ein peinliches Gefühl, plötzlich Vizevater von zweiunddreißig unerzogenen Kindern geworden zu sein, wenn man bisher nur für zwei bis drei verantwortlich war.
Die Tatsache ist, daß am 28. August, dem von Dir zu einem fröhlichen Beisammensein bestimmten Tag, das Mittelgußstück eines unsrer Doppelsenkkästen zersprang, der am gleichen Tage den Felsboden berühren sollte.
Die strengste Wahrhaftigkeit ist das Ideal eines Dampfpflügers. Ich habe dies aus Deinem eignen Mund und nehme deshalb an, daß Du in Deinem letzten Brief nicht so fürchterlich logst, wie dies manchmal mündlich der Fall ist, daß Du Dich also für meine Brückensorgen und -freuden wirklich ein wenig interessierst. Beim Palmettenfelderpflügen in der Sahel oder wie die Wüste heißt, in der Du gegenwärtig tätig zu sein vorgibst, hast Du jedenfalls Zeit, einen Brief aus unsrer kühlen Heimat liebevoll zu studieren. Ich ziere mich nicht länger, ihn zu schreiben, um mir eine peinliche Wartestunde zu verkürzen.
Die wirkliche Ursache des Unglücks ist noch nicht aufgeklärt. Wir hatten bis dahin vierzehn Senkkästen der gleichen Gattung anstandslos versenkt. Wahrscheinlich war das Verbindungsstück zwischen den zwei Luftschachtröhren und dem eigentlichen Doppelkasten, wie wir sie neuerdings bauen, schlechter Guß. Das sollte nicht vorkommen; aber hier auf Erden, und namentlich unter dem Wasser, treibt der Teufel sein Spiel mit uns armen Sterblichen, wie ihm beliebt und soweit es Gott zuläßt. Man kann nicht vorsichtig genug sein im Umgang mit diesen höheren Mächten. Du siehst, ich bin ein wenig desperat. Es ist kein Wunder.
Elf Mann waren unten, als mit einem lauten Knall das Wasser durch einen der Schächte hinabschoß und die gepreßte Luft irgendwo hinauspfiff. Natürlich erlöschten sofort alle Lichter. Die armen Kerle waren mit einem Schlag in einer gurgelnden, heulenden Finsternis, in die von allen Seiten Wasser in Wogen hereindrang. Vier Mann, die dem zweiten Schacht am nächsten waren, wurden Hals über Kopf in dem Rohr emporgeschwemmt, daß ihnen auf ein paar Minuten Hören und Sehen verging. Im nächsten Augenblick explodierte die Luftkammer mit ihren Doppeltüren, die oben das Rohr abschließt. Auf dem Dach dieser Kammer ist die Druckluftpumpe angeschraubt, deren Maschinist in den Strom geblasen wurde wie bei einer regelrechten Kesselexplosion. Glücklicherweise war ein Nachen in der Nähe und fischte ihn auf. Für die vier Mann bedeutete die Explosion ihre Lebensrettung. Sie kamen durch das Schachtrohr herauf, wie aus einer Windbüchse geschossen, allerdings mit etwas blutigen Köpfen und einem Beinbruch. Aber die sieben, die noch unten waren, mußten wie Mäuse in einer Falle elend ertrinken. Ich hoffe, sie merkten nicht mehr viel davon.
Als ich acht Stunden später ankam, hatten unsre Taucher die Leichen schon geborgen. Sie lagen in Reih und Glied im Magazin neben meinem Arbeitszimmer und warteten auf ihre Särge. Ohne Ungeduld, friedlich und still, aller Mühen los. Der alte Lavalette, der aus Manchester herbeigekommen war, saß neben ihnen auf einem Balken. Er schien furchtbar angegriffen zu sein, so daß ich ihn trösten mußte. Es war ein Unglücksfall, den nur Gott hätte verhindern können. Aber trotzdem drückt einen das Gefühl der Verantwortlichkeit in solchen Stunden ziemlich. Ich zog ihn mit Gewalt in mein Zimmer; er wollte die sieben stillen Männer nicht verlassen.
Seitdem ich ihn kenne, ist er merkwürdig gealtert und scheint an Sorgen zu tragen, von denen er mir unerklärlicherweise nichts sagen will. Vielleicht sieht er nicht, wie er mit der Brücke und seinen zweihundertfünfzehntausend Pfund zu Ende kommen soll. Es gilt so manchen Stein des Anstoßes und Ärgernisses aus dem Weg zu räumen, an den zuvor kein Mensch denken konnte. Vor ein paar Monaten wäre ich vielleicht ebenso trostlos neben der Totenkompagnie gesessen wie er. Die Reise nach Florenz hat mich wieder auf die Beine gebracht, und Billy - Du weißt, wen ich meine - trägt redlich mit. Sie ahnt ein wenig, daß die Brücke, wenn sie auch zu unserm Glück geführt hat, bezahlt sein will.
Heute früh haben wir die sieben Mann begraben. Sie liegen wenigstens trocken auf dem Hügel hinter unsrer kleinen Arbeiterstadt. Man übersieht von dort die ganze Bucht und die Inselchen, die die mächtige, geschwungene Linie der künftigen Brücke bezeichnen. Es sind am rechten Ufer schon vierundzwanzig, am linken elf. Noch eine weite, spiegelglatte Fläche liegt unberührt zwischen beiden. Ob sie noch mehr Menschenleben kosten wird? Nicht, wenn es mit menschlichen Mitteln vermieden werden kann. Dabei sei es aber genug der Sentimentalität. Das Leben ist hart. Wir hätten nicht in die Welt kommen sollen, wenn wir das nicht tragen können.
Den Arbeitern kann man so viel Philosophie vielleicht nicht zumuten. Sie machten gestern, im Schrecken über den Unfall, Anstalt zu streiken, wenigstens die Senkkastenleute. Ich rief sie zusammen und sagte ihnen, was im Einverständnis mit Lavalette geschehen werde. Die Röhren und alle Teile unter Wasser, die bis jetzt in Gußeisen ausgeführt waren, sollten in Zukunft aus Schmiedeeisen und weichem Stahl gemacht werden. Die Arbeitszeit in den Senkkästen sollte von zehn auf acht Stunden herabgesetzt, der Lohn um dreißig Prozent erhöht werden. Sie lächelten gutmütig, denn sie sahen, daß es mir ernst war. Aber der Eindruck der sieben Särge war noch zu frisch. Es rührte sich keiner, als ich sie aufforderte, zu sagen, ob sie zufrieden seien. Nun erklärte ich, daß ich die nächsten vierzehn Tage hierbleiben und mich jeden Tag in jedem Senkkasten eine Stunde lang aufhalten werde, um mich zu überzeugen, daß alles in Ordnung sei.
Dies half.
Im übrigen geht die Arbeit munter vorwärts. Sieben Gitterbalken liegen an ihrem Platze, drei sind im Heben begriffen. Am Ufer, auf beiden Seiten, wird gehämmert und genietet, daß es eine Freude ist; die Sache ist jetzt organisiert wie eine fliegende Fabrik. Meine Pfeiler bewähren sich. Sie sind eine gewaltige Ersparnis, verglichen mit dem Mauerwerk der Menaibrücke. Allerdings sehen sie noch immer etwas toll aus bei der Höhe von sechsundachtzig Fuß über dem Wasserspiegel, welche das Schienengeleise in der Mitte des Stromes erhalten muß. Eine ziemliche Anzahl der Säulen muß in die Gießerei zurückwandern, was sich Lavalette mit löblicher Ergebung gefallen läßt. Es soll mir wenigstens keine passieren, die nicht nach Material und Ausführung tadellos ist. Leider kann man die Augen nicht überall haben. Solange Lavalette vollständig gesund war, konnte ich ruhiger sein. Er ist zwar der Unternehmer, aber ein Mann, auf den man bauen kann wie auf unsre Felsen.
Ich glaube, ihr beneidet mich; Du vielleicht weniger, denn mit Deinen Pflügen scheinst Du ein lustiges Wanderleben zu führen, um das umgekehrt Dich mancher beneiden mag. Aber Schindler schrieb mir vor einiger Zeit in diesem Ton. Der gute Mann weiß nicht, was er sagt. Manchmal schon wünschte ich, ich säße auf seinem Katheder und dozierte Englisch oder jede beliebige andre Sprache unter der Sonne. Er kann dabei wenigstens im Frieden schlafen, ohne daß ihn jeder Windstoß aus den Träumen rüttelt.
Nebenbei: Bist Du auf Deinen verrückten Kreuz-und-quer-Fahrten nicht zufällig einer Formel oder einem Rattenkönig von Formeln begegnet, die den Winddruck gegen große, komplizierte Flächen, Gitterbalken zum Beispiel, betreffen? Nirgends wissen sie etwas Bestimmtes hierüber. Mein Schwiegervater, der alte Bruce, lacht mich aus, wenn ich mit der Frage komme, streckt seine Nase gen Himmel und meint: "Was bis heute niemand weiß, brauchen wir auch nicht zu wissen, Junge! Die Welt fällt nicht um, weil du sie nicht in Formeln zu bringen weißt. Frage übrigens in Greenwich an, wenn dir's Spaß macht." In Greenwich, am Königlichen Observatorium, wissen sie auch nichts, nicht einmal, wie schnell ein gut schottischer Sturmwind läuft. Bei den besten Exempeln, an die sie sich erinnern, ist regelmäßig im kritischen Augenblick ihr Meßapparat zusammengebrochen, und bis er wieder im Gang war, war der Sturm vorbei.
Mich läßt das Problem nicht ruhen. Bruce trägt zu Hause eine gutmütige Wurstigkeit zur Schau, seitdem er zum Maschinenadel gehört, die wenigstens erträglicher ist als seine Maske in der City und bei den Direktoriumssitzungen seiner Eisenbahnen. Dort gibt er sich das Ansehen, als sei die Welt und alles, was darinnen ist, zu klein für ihn geworden. Die Manier scheint sich übrigens zu bezahlen.
Wenn ich wieder auf die Welt komme, werde ich Dampfpflüger. Deinen Briefen nach brichst Du mit Deinen Maschinen alle acht Tage zusammen, ohne daß Dir's etwas schadet. Ich wollte, ich hätte es so gut.
In alter Freundschaft
Dein
Stoß.


Ennobucht, den l5. Oktober 1875.

Arme Billy!

Jetzt gilt es zusammenzuhalten "in guten und bösen Tagen", wie Du leichtsinnigerweise in der kleinen Jakobskirche zu Richmond seinerzeit versprochen hast. Damals lag unsre Glücksbrücke im rosigen Morgenlicht vor uns, zart und duftig wie ein Elfengespinst, und wir wollten schon darüber, Hand in Hand und leichten Herzens. Heute, sechs Jahre später, liegt die unüberbrückbare Bucht vor mir in blaugrauer Dämmerung. Wie zwei hilflose, gebrochene Arme streckt sich unser Bau von beiden Ufern nach der Mitte, und eine weite Wasserfläche dehnt sich zwischen den Pfeilerinselchen, die zweimal täglich zur Ebbezeit aus dem Wasser ragen und zweimal hilflos in der Flut versinken. Ich werde mich in den nächsten vier Wochen an das Bild gewöhnen müssen, denn es wird sich nicht ändern. Gestern haben wir die Hälfte der Arbeiter entlassen. Je weniger getan wird, um so mehr werde ich zu tun haben, so daß ich wohl für einen Monat nicht daran denken kann, nach London zurückzukommen. Ganz rettungslos ist die Sache ja nicht, sonst könnte ich rascher aufräumen.
Der arme Lavalette also ist gestorben und mausetot, wie Du weißt. Ich dachte in der letzten Zeit öfter, daß ihn die Brücke liefern werde. Jeder neue Pfeiler, den er aufstellte, schien ihn etwas mehr zu Boden zu drücken, obgleich er nie klagte. Und es ging schließlich rascher, als irgend jemand geglaubt hatte. Das kam so:
Schon beim Versenken des vierundzwanzigsten und fünfundzwanzigsten Senkkastens, vom Südufer gerechnet, fand sich der Felsgrund, auf dem sie alle aufstehen müssen, beträchtlich tiefer, als man erwartet hatte. Die alten Bohrungen hatten ganz andre Maße ergeben. Beim sechsundzwanzigsten Senkkasten war die Tiefe derart, daß es nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. Ich riet deshalb Lavalette, ehe er mit dem siebenundzwanzigsten beginne, neue Bohrversuche machen zu lassen, um über den wirklichen Stand der Sache in dieser infernalischen Tiefe klarzuwerden. Es war dies um so nötiger, als wir jetzt an das Mittelstück der Brücke kommen, das den Durchgang für große Segelschiffe gestatten muß. Bis hierher waren die lichten Weiten zwischen den Pfeilern hundertzwanzig Fuß und die eisernen Teile der Pfeiler siebzig Fuß hoch. Von jetzt an kommen sechzehn Spannweiten von zweihundert Fuß und eine Pfeilerhöhe von fünfundachtzig Fuß, weil die längeren Gitterbalken dieses Teils der Brücke über den Bahngeleisen liegen, statt, wie bis hierher, drunter. Kurz, hier fängt der Ernst der Sache eigentlich erst an. Du hast dies alles ja an den Fingerenden, Billy! Man schlug nun fünf neue Bohrlöcher in den noch pfeilerlosen Teil der Bucht, und da zeigte sich, daß von beiden Seiten der Felsgrund plötzlich scharf abfällt und eine tiefe Mittelrinne bildet, die wir zu überbrücken haben; so tief, daß nicht daran zu denken ist, unsre bisher üblichen Senkkästen bis auf den Felsen zu versenken. Die alten Bohrungen, denen der ganze Bauplan zugrunde lag, waren falsch; eine Schicht zusammengebackener Kiesel, welche mächtige Sandlager bedeckt, hatte die Leute getäuscht. Sie glaubten, auf dem Felsen zu sein und hatten nur diese Schicht zwischen dem Stromgeröll und den drunter liegenden Sandlagern erreicht. Am Abend des Tages, an dem diese Tatsache unzweifelhaft klar wurde, legte sich Lavalette zu Bett. Bekanntlich hatten seine eignen Leute vor mehr als zehn Jahren die Bohrungen und den Fehler gemacht. Nach zwei Tagen war er tot. Sein Hausarzt hatte ihn schon vor Monaten gewarnt, daß mit seinem Herzen nicht alles in Ordnung sei und daß er jeden Ärger von sich abhalten müsse. Ein sehr zeitgemäßes Rezept für einen Mann mit der Ennobrücke auf dem Hals. Es war ein guter, wackerer Mann, nur etwas zu sanguinisch und etwas zu weich für sein Handwerk. Unsre Zeit braucht Leute von Stahl, soviel auch gewisse Narren über die Verweichlichung der Menschheit jammern. Es gibt solche, sonst gäbe es keine Ennobrüche, keinen Mont-CenisTunnel, keinen Telegraphendraht zwischen England und Amerika. Aber nicht jeder hat Stahl genug im Blut, und so stirbt mancher an einem Herzleiden, ehe man sich's versieht.
Lavalette hinterläßt zwei Söhnchen, die noch nicht aus der Schule sind. Seine Firma erklärte sofort, daß sie nach dem Tode ihres Chefs außerstande sei, den Brückenbau weiterzuführen. So stand die Sache vor drei Tagen. Die Nachricht lief in Pebbleton wie ein wildes Feuer von Haus zu Haus und war in vierundzwanzig Stunden das Börsengespräch von Manchester und London. Die Aktionäre der Nordflintshire-Eisenbahn rangen die Hände; ein paarmal hunderttausend Pfund ihres Geldes schienen nutzlos ins Wasser geworfen worden zu sein. Das übrige Publikum hatte wie gewöhnlich den Zusammenbruch vorausgesehen. Es habe alles seine Grenzen. Für Brücken seien Flüsse genug in der Welt; Meeresarme sollte man in Ruhe lassen. Die Aktien der Eisenbahn sanken um zehn Prozent, die der alten Brückengesellschaft um fünfzig. Die wohlhabendsten Aktionäre hofften, daß die Geschichte wenigstens damit ein Ende haben und niemand versuchen würde, das unglückliche Unternehmen wieder auf die Beine zu stellen. So reckte sich neben den plötzlich entdeckten technischen Schwierigkeiten die Geldfrage wie ein alles erdrückendes Gespenst vor uns auf. Jetzt aber zeigte Dein Papa, aus welchem Metall er gemacht ist. In Pebbleton wurde vorgestern eine gemeinsame Sitzung der Direktoren der Nordflintshire-Bahn und der alten Brückengesellschaft abgehalten, um die Lage zu betrachten. Ich glaube, zwei Drittel der Herren kamen mit der Absicht, für das Aufgeben des Brückenbaus zu stimmen. Sir William saß wie üblich neben dem Präsidenten der Bahnverwaltung. Sein vornehmes, pomphaftes Wesen, das er sich in der letzten Zeit angewöhnt hat - verzeih mir, Billy; seit sechs Jahren gehörst Du mir, nicht mehr ihm -, war wie weggeblasen. Er sprach mit der Begeisterung eines achtzehnjährigen Gelbschnabels von der Notwendigkeit, von dem enormen Nutzen der Brücke, mit einer fast hinreißenden Überzeugung von der Überwindung der Schwierigkeiten, die keinem großen Unternehmen erspart bleiben, von seinem felsenfesten Entschluß, nicht nachzulassen, was auch heute beschlossen werden möge, von der Schande, ein solches Werk halbfertig zu verlassen, von der Ausdauer und Zähigkeit der anglosächsischen Rasse, deren Vertreter - hier machte er seinen mürrisch dasitzenden Nachbarn eine bezaubernde Verbeugung - sich in dieser Krisis um ihn geschart hätten. Kein Oppositionsredner kam so recht zum Wort. Die gefährlichsten versprachen wohlwollend zu prüfen, wie der abgerissene Faden weiterzuspinnen wäre. Entrüstet ergriff Dein Papa wieder das Wort. Er begreife nicht, wie der ganze Lärm entstanden sein könne, woher der Kleinmut eigentlich gekommen sei. Alles gehe ja vortrefflich. Man möge doch ihm gütigst überlassen, mit den technischen Schwierigkeiten fertig zu werden. Der Tod Lavalettes sei ein schwerer Schlag, ohne Zweifel, aber er habe sich bereits umgesehen. Hinter Lavalette stünden ein Dutzend Unternehmer, die den Bau weiterzuführen bereit seien. Vielleicht etwas teurer. Aber die Geldfrage sei in diesem Falle für Männer von der Weitsichtigkeit der anwesenden Herren, für eine aufblühende Stadt wie Pebbleton, für die großen Verkehrsinteressen von England und Schottland ohne Belang.
Der Oberbürgermeister von Pebbleton, ein Mann schöner Reden, folgte ohne Zagen, und bald war die Begeisterung allgemein. Der Trotz dieser nordischen Mannen fängt langsam Feuer, dann ist aber auch kein Löschen mehr. Ich glaube, man hätte ihnen jetzt die schwerste unsrer Sorgen ohne Bedenken mitteilen können: die große Änderung im Bauplan des Mittelstücks der Brücke, die unvermeidlich geworden war, die zweifelhaften Mehrkosten, die Unmöglichkeit, das Ganze zur bestimmten Zeit fertigzustellen. Je erdrückender die Schwierigkeiten vor ihnen aufgestiegen wären, um so entschlossener hätten sie standgehalten.
Abends saß ich mit Papa noch eine Stunde zusammen. Je ruhiger er in der Sitzung gewesen war, um so mehr kochte es jetzt in ihm. Er wollte keinen Augenblick stillstehen. Er wollte vorwärtskommen, und wenn er die Brücke am Himmel aufhängen müßte. Wir besprachen die neuen Pläne. Ich machte Skizzen und mußte manches aufzeichnen, was ich kaum für ausführbar halte. Doch wird es schon etwas heller um uns her, wenn es auch ein halbes Jahr lang ziemlich still um die Brücke bleiben dürfte. Morgen erwarten wir Griffin & Co., die Unternehmer, die seinerzeit das zweitbilligste Angebot gemacht hatten. Sie werden voraussichtlich den Bau weiterführen. Dann muß mit Lavalettes Erben eine vernünftige Vereinbarung getroffen werden. Eine der schwierigsten Aufgaben ist, die Arbeiter über die nächsten Monate wegzuschleppen, bis ein neuer Anfang gemacht werden kann.
Und meine Briefe werden kürzer werden in der vor uns liegenden Zeit; doch weißt Du jetzt, warum. Halte gut haus. Es kommen wieder bessere Zeiten.
Dein
Harold.


Ennobrücke, den 8. August 1876.

Lieber Schollenbrecher!

Du hast natürlich auch in Deinen Zeitungen an der Wolga gelesen, daß wir samt unsrer Brücke um ein Haar in die Luft geflogen sind und die mächtige Ennobucht ihre Wogen wieder ungebrochen und in paradiesischem Frieden auf und ab rollt. Ich wollte Dir den Genuß dieser Nachricht nicht allzu früh verkümmern, doch jetzt, seitdem sie fast ein Jahr alt ist, dürfte es Zeit sein, Dich zu überzeugen, daß alles Lug und Trug war.
Ohne Zweifel hatten wir ernste Augenblicke, in denen es gruselte und kriselte. Der Tod des guten Lavalette - "Wehe dem Manne, der sich auf Menschen verläßt und nennet Fleisch seinen Arm!" - fiel mit dem Augenblick zusammen, in dem uns sozusagen der Boden unter den Füßen verschwand. Es entstand mehr Lärm, als nötig und gut war, und der ganze Bau geriet in bedenkliches Wackeln. Die unvermeidliche Umgestaltung aller technischen Maßregeln, widerspenstige Aktionäre, kein leistungsfähiger Bauunternehmer, ein Publikum, das sich beglückwünschte, daß das tolle Unternehmen stillschweigend begraben werde: das alles kam zusammen und sah schwarz genug aus am Horizont. Aber es weckte den alten Bruce, der mit einemmal wieder jung wurde. Das Phänomen war hochinteressant. Er packte die Aktionäre an den Ohren und schüttelte sie, bis sie warm wurden; dann packte er mich am Kopf - Du weißt, wir sind nahe Verwandte - und stieß mir ihn so lange auf ein Reißbrett, bis der wunde Schädel etwas Brauchbares von sich gab. Du kannst Dir vorstellen, wie es bei uns aussah, wenn ich Dir sage, daß mir diese Behandlung förmlich wohltat. Er hatte in weniger als vier Wochen einen Unternehmer gefunden, Griffin & Co., eine Clevelandfirma, die bereit ist, den Bau um zweihundertfünfzigtausend Pfund fertigzustellen, und mit rühmlichem Eifer ins Zeug geht. Kurz, wir haben ein halbes Jahr verloren, aber dank dem nicht zu bändigenden Willen meines unglaublichen Schwiegervaters ist der tote Punkt überwunden, und gestern haben wir den dritten der neuesten großen Senkkästen in die tiefe Mittelrinne der Bucht glücklich versenkt.
Davon möchte ich Dir einiges erzählen, denn seit der Hauptsturm vorüber ist, kommen mir wieder allerhand Bedenken, die ich am liebsten in einer Freundesbrust versenken möchte. Wenn ich sie auf diese Weise loswerden könnte, würdest Du Briefe erhalten, mit denen Du Deine strohfeuernden Dampfpflüge zehn Stunden lang heizen könntest. Die Mühe sollte mich nicht verdrießen, sie zu schreiben.
Sir William Griffin, ich und ein halbes Dutzend untergeordneter Hilfsdenker - Du glaubst nicht, wie viele Finger in so einem gigantischen Pudding stecken - hatten sich also daran zu machen, das ganze Mittelstücks der Brücke umzugestalten. Wegen des verschwundenen Felsuntergrundes war, wie Du weißt, der alte Plan nicht mehr festzuhalten. Zunächst wurde beschlossen, längere Gitterbalken - zweihundertfünfzig statt zweihundert Fuß - anzuwenden, um ein paar Pfeiler zu ersparen. Die Geldfrage hängt immer über uns wie ein Schwert, und trotzdem wird das große Werk etwa zweimal so viel kosten, als Bruce die Aktionäre vor sechs Jahren träumen ließ. Dann müssen wir es aufgeben, den unergründlichen Felsboden für die Pfeilerfundierung zu erreichen, und uns auf das zusammengebackene Geröll verlassen, das die Sandschichten des Untergrunds bedeckt. Dies hat kein Bedenken, solange man den Fuß der Pfeiler groß genug macht. Deshalb kommt statt der ursprünglichen Doppelsenkkästen von zehn Fuß Durchmesser ein Riesenkasten von einunddreißig Fuß Durchmesser in Anwendung, auf dem in ähnlicher Weise wie früher ein solider Steinpfeiler bis zur Fluthöhe aufgebaut wird. Soweit sieht die Sache befriedigend aus.
Nun müssen auf diesen kreisrunden Riesentrommeln meine gußeisernen Pfeiler aufgestellt werden, und dabei zeigt sich, daß die acht Säulen, aus denen sie aufgebaut sind, kaum Platz finden und wir uns nur mit sechs, in Sechseckform angeordneten Säulen begnügen müssen. Du kannst Dir denken, wie mir dies mißfiel. Gerade die Pfeiler, die um fünfzehn Fuß höher werden als alle andern, sollten zwei Säulen weniger erhalten! Ich hatte ein paar tolle Szenen mit Sir William. Er war wütend, wenn ich mit meinen Berechnungen kam, und hatte nicht ganz unrecht. Denn mit scheinbar kleinen Annahmen bei zweifelhaften Punkten der Kalkulation läßt sich fast alles ausrechnen, was man haben will. Es war nicht die mathematische Gewißheit, die ich ihm entgegenhalten konnte. Festigkeitskoeffizienten unsrer heutigen Materialien, Winddrucksfragen - alles ist so unsicher, daß man mit zehnfacher oder zwanzigfacher oder dreißigfacher Sicherheit rechnen kann, je nach der Stimmung, ohne sehr fehlzugehen. Jedenfalls läßt sich nicht beweisen, daß man fehlgegangen ist. Ich fühlte nur, wie mich eine geheime Angst packte, die ich mit allem Rechnen nicht loswurde. Bruce erklärte mich schließlich für einen nervenschwachen Geisteskrüppel, dem er nie eine Bruce hätte geben sollen. Griffin, der unbehaglich dabeistand, versprach, die Wanddicke der Säulen um einen halben Zoll stärker zu machen, als ausbedungen war, und das beste Material nicht zu sparen. Und schließlich gab ich nach. Es war wahrhaftig nicht meine Brücke, und die Pfeiler, so wie sie jetzt werden, sind nicht meine Pfeiler. Ich war, nach drei Tagen des Streits, außer mir.
Nicht meine Pfeiler, sagte ich? Habe ich nicht mit diesen Pfeilern, die das Glück und das Unglück meines Lebens zu sein scheinen, einen Schatz erkauft, der mir noch heute über alle Brücken geht? Du verstehst das nicht, alter Junggeselle; es gehört deshalb nicht in Deinen Brief. Aber es will mir nicht aus dem Kopf seit einiger Zeit und kommt überall zum Vorschein, wo es nicht hingehört.
Griffin gefällt mir nicht halb so wohl wie der alte Lavalette, obgleich er, als jüngerer Mann, zweimal so viel Tatkraft an den Tag legt. Auch der Guß, den er aus Middlesborough schickt, ist schlechter als der alte. Ich habe ihm vorige Woche sechs Säulen zurückschicken lassen, woraus ein heftiger Briefwechsel entstand. Doch was kümmern Dich diese Einzelheiten? Wenn Du in Deinem Werk aufgehst, wie ich in meiner Brücke, verlierst auch Du den Maßstab der Dinge und eine vernunftgemäße Perspektive. Schreibe mir ein wenig von Deiner Wolga, damit ich den richtigen Augpunkt wiederfinde. Aus der Ferne sieht alles mehr aus, wie es wirklich ist, als in der Nähe, obgleich viele das Umgekehrte behaupten.
Etwas für Dich als Mechanikus! Seit etlichen Tagen versuchen wir ein neues System des Caissonversenkens, das einer unsrer jungen Assistenten erfunden hat und das uns viel Mühe und Zeit erspart. Statt Sand und Geröll im Grund des versinkenden Senkkastens wie bisher auszugraben und durch die Luftschächte mühsam heraufzuschaffen, haben wir auf einem Saugboot, wie wir es nennen, sechs große, kesselartige Blechbehälter, die mittels einer Pumpe luftleer gemacht werden. Von diesen Behältern geht ein Schlauch in die Tiefe, der am Boden des Senkkastens mündet. Wird die Verbindung zwischen dem Behälter und dem Schlauch geöffnet, so saugt die Luftleere des Behälters Wasser, Sand und Steine mit furchtbarem Gebrüll herauf, so daß sich der Behälter in zehn Sekunden mit dem gewünschten Brei füllt. Man hat das Faß dann nur zu entleeren und es wieder luftleer zu pumpen, worauf es aufs neue bereit ist, seine zehn Zentner Geröll heraufzusaugen. Weder Bruce noch Griffin wollten an das Ding glauben, solange es nur auf dem Papier stand. Der Zeichner, der es erfand, ist der Sohn eines der sieben ertrunkenen Senkkastenarbeiter. Der junge Mann ließ mir keine Ruhe, und schließlich bequemte sich Griffin dazu, den Versuch zu machen. Jetzt bildet er sich wahrhaftig ein, er habe den Witz selbst erfunden, der übrigens das Glück des Jungen machen wird. Ich sorgte dafür, daß er sich die Sache patentieren ließ. Die Senkkästen, die ihn um den Vater gebracht haben, sind ihm eine kleine Vergütung schuldig.
Morgen kommt der erste der zweihundertfünfzig Fuß langen Gitterbalken auf seine volle Höhe. Die hydraulischen Hebevorrichtungen arbeiten jetzt musterhaft. Wir kommen mit den Riesenkasten täglich um fünfundzwanzig Fuß weiter, so daß er in vier Tagen seine schwindelige Höhe erreicht. In der Nähe sieht die Sache gruselig aus, in der Ferne, vom Ufer gesehen, wie ein Zauber, wie etwas, das im Traum geschieht; heimlich, still, wie von selbst. Man hört keinen Laut und hat, bei der Größe der Massen, alles Gefühl für Entfernungen verloren. Höher und höher steigt das Ding und ruht wie schwebend in der Luft, als ob Eisen kein Gewicht mehr hätte. Das sind Augenblicke, in denen man ein dummstolzes Gefühl nicht ganz unterdrücken kann - noch mag, um Dir's ehrlich zu sagen. Man hat so viele geheime Sorgen nebenher, daß man sich Augenblicke solcher Illusionen nicht verderben darf. Seitdem uns vor einem Jahr der Erdboden unter den Füßen verschwand, traue ich dem morgigen Tag nicht mehr.
Meine Frau sagt, ich brauche wieder eine Erholungsreise. Ist Kumys gut für die Nerven? Wie sieht es an der Wolga aus? Ich habe fast Lust, Dich in Samara aufzusuchen. Aber wie ich höre, bauen sie dort auch eine große Brücke.
Erzähle mir davon! Nein, schreibe mir und erzähle mir nichts von der Brücke.
Dein
Stoß.


Ennobrücke, den 27. Februar 1877.

Freue Dich mit mir, Billy; es geht lustiger voran als je. Die jüngsten sechs Monate haben trotz des Winters Wunder getan. Gestern wurde der letzte der kleineren Gitterbalken auf seine Pfeilerschwellen festgebolzt. Im ganzen sind es siebenundzwanzig Stück, die jetzt, auf zierlichen Stelzen stehend, von Süden und Norden her gegen die Mitte der Bucht zwei ununterbrochene dunkle Linien ziehen. Von den großen zweihundertfünfzig Fuß langen Balken lagern fünf auf ihrer schwindligen Höhe. Du weißt, sie müssen um fünfzehn Fuß höher gelegt werden als die andern. Der sechste wird seit einigen Tagen ins Blaue hinaufgepumpt und mit seinen Säulenbeinen versehen, die ihm während des Aufsteigens unter dem Leibe wachsen, der siebente liegt fertig am Ufer, bereit, sich auf die Seefahrt zu machen, zwei sind im Begriff, zusammengenietet zu werden, und nur von den letzten vieren ist nichts zu sehen. Aber trotzdem ist das Ende in Sicht, Billy! Unsre Brücke wird fertig, ehe das Jahr zu Ende geht. Es ist jetzt alles so hübsch organisiert, neue Probleme sind nicht mehr zu lösen, die Leute sind dermaßen eingeübt, daß ich nicht wüßte, woher eine ernstliche Störung noch kommen sollte. Griffin ist in wachsender Geschäftsaufregung, treibt und jagt jetzt an allen Enden, so daß vieles etwas pünktlicher gemacht werden könnte. Aber man gewöhnt sich auch daran, leider.
Du solltest jetzt das Leben ringsum sehen! Wie das von Ufer zu Ufer hämmert und klopft, stampft und plätschert, kracht und stöhnt und alles sich reckt und streckt, damit die zwei langen Brückenarme sich endlich die Hände reichen. Es sind fünfhundert Arbeiter auf beiden Ufern, vier Dampfer, zwölf Barken zu allen möglichen Zwecken. Kleine Boote ohne Zahl wimmeln unter den neunundsiebzig Pfeilern umher, von denen nur noch drei ihre Fundamente nicht über Wasser zeigen. Im Morgensonnenlicht, das mit der Flut die Bucht heraufströmt, macht all das ein herrliches Bild. Wir haben aber auch zehn Jahre lang daran gemalt mit Müh und Sorgen aller Art. -
Man ruft mich. In einer halben Stunde ist die Flut hoch genug, um den fertigen Gitterbalken auf den Rücken zu nehmen und an seine Stelle zu tragen. Ich muß diesmal dabei sein und schließe den Brief, wenn ich zurückkomme. -

Guter Gott, weiß ich noch immer nicht, daß man den Tag nicht vor dem Abend loben soll? Ein entsetzliches Unglück hätte geschehen können, und ein großes Unglück ist geschehen. Nur eines ist tröstlich, es hat diesmal keine Menschenleben gekostet. Aber es wird Griffin eine runde Summe Geld und uns alle mindestens vier kostbare Wochen kosten. Bis morgen früh die großen Schleppbarken mit dem schweren Hebezeug von Pebbleton herübergeholt und die Taucher von Leith eingetroffen sind, kann nichts geschehen. So erhältst Du wieder eine lange Epistel mit einer langen Hiobspost. Das untätige Warten nach solchen Stunden ist das Schlimmste daran. - Aber warum hast Du auch einen Brückenbauer geheiratet? Du hättest Dir's zweimal überlegen sollen, denn Du kennst das Gewerbe. Du weißt, was wir unsre Gitterbalken heißen: völlig fertige Stücke der großen Brücke, die wie eine entsetzlich lange viereckige Röhre aussehen und von einem Pfeiler zum andern reichen. Die, um die es sich gegenwärtig handelt, sind zweihundertfünfzig Fuß lang, achtzehn Fuß breit und sechsunddreißig Fuß hoch, so daß ein ganzer Eisenbahnzug in ihrem Innern bequem Platz hat. Sie wiegen nahezu viertausend Zentner. Was das heißt, kann sich nur der vorstellen, dem das Röhrchen einmal auf die Zehen fällt; der nicht einmal.
Auch habe ich Dir einmal erzählt, wie dieses Spielzeug auf einer Art von Holzbrücke am Ufer aufgebaut wird, wie dann, wenn es fertig ist, an beiden Enden zwei Joch der Holzbrücke herausgenommen und an deren Stelle zwei kräftige Barken untergeschoben werden, die sich mit der steigenden Flut heben und den Balken schwimmend davontragen. Die Sache ist so einfach und geht so lautlos und sicher vor sich, als wäre es viel weniger als ein Kinderspiel. Gut. Dieses Manöver sollte heute zum dreiundsechzigsten Mal ausgeführt werden, und ich wollte mitfahren, um die Steinpfeiler zu beobachten, wenn das fürchterliche Gewicht auf sie niedersinkt.
Als ich an das Ufer kam, waren die Barken schon unter dem Gitterbalken festgelegt, die mächtigen Schwellen und Holzklötze aber, die ihn tragen mußten, noch einen halben Fuß unter dem Eisenwerk. Langsam, fast unmerklich stiegen sie empor wie die Zeiger eines Uhrwerks. Es war das Weltalluhrwerk, das man hier laufen sehen konnte. Die Schiffer der Boote, ein Dutzend Arbeiter und die Führer des Trupps warteten plaudernd auf das Steigen des Wassers, das in rauschenden Wellen vom Meer heraufkam. Das Wetter hatte sich plötzlich geändert. Ein frischer Wind jagte in leichten Stößen über die Wasserfläche, und im Osten stieg eine Mauer schwerer Wolken auf, die scharf gegen den blauen Himmel abstach.
"Das Wetter bleibt nicht stad", sagte der Kapitän der Barke, auf der ich Platz nahm, ein alter Schiffer aus Pebbleton, zum Vormann der Brückenleute. Er erwartete und erhielt keine Antwort. Brummend hantierten die Leute mit den Seilen, welche die Barke festhielten, die etwas unruhig hin und her schwankte. Man warf den zwei kleinen Schraubendampfern schon die Schlepptaue zu. Alle Aufmerksamkeit war auf unsre Barke selbst gerichtet, die jetzt die Unterkante des Balkens berührte. Hier wurde noch ein mächtiger Holzkeil untergeschlagen, dort mit hastiger Anstrengung eine sich verschiebende Schwelle zurechtgerückt. Man hörte da und dort ein leichtes Knistern, ein dumpfes Knarren. Das Boot drückte jetzt gewaltig von unten. Die Bohlen der Holzbrücke, denen die Last allmählich abgenommen wurde, stöhnten auf. Es wurde ihnen mit jeder Minute leichter. Jetzt fiel ein Holzklotz, auf dem ein Teil des Gitterbalkens geruht hatte, polternd aus seiner Lage, jetzt am andern Ufer ein zweiter. Die zwei Schleppdampfer zogen die ausgestreckten Taue sanft an, um ihre Länge genau zu regeln. Jetzt endlich regte sich der mächtige Gitterbalken mit einem leisen Ruck, und plötzlich schwebte er einen Zoll hoch über dem Lager, auf dem er entstanden war. Zwanzig Arbeiter warfen die Unterlagen über den Haufen, auf denen er entlang der Brücke geruht hatte. Man wartete noch zehn Minuten, dann schwankte er sechs Zoll über jedem festen Punkt der Plattform. Der Vormann kommandierte: "Seile los!" und die zwei Dampfer zogen langsam und vorsichtig die Schlepptaue an.
Majestätisch segelte das wunderliche Doppelfahrzeug in den Strom hinaus: die zwei Barken, mit dem zweihundertfünfzig Fuß langen Riesenbalken, der sie verband. Der Holzstaden, von dem wir abtrieben, befindet sich oberhalb der Brücke. Da die Strömung wegen der steigenden Flut landeinwärts zieht, läßt man die Barken in dieser Richtung hinauftreiben, um sie weiter oben über die Bucht wegzuschleppen. Dann erst wird der Balken langsam gedreht und in einer Stellung parallel zur Brücke dieser entgegengeschleppt. Das gewohnte, wenn auch noch immer etwas unbehagliche Manöver gelang wie früher immer, doch bemerkten wir jetzt erst, wie unruhig der Strom war. Je weiter wir gegen die Mitte der Bucht kamen, um so höher wurden die Wellen. Der blaue Himmel war verschwunden, ein pfeifender Wind kam vom Meer her, und da und dort zeigten sich die weißen Schaumkämme einer regelrechten See. Man fuhr natürlich immer mit der größten Vorsicht, so daß die Fahrt gewöhnlich dreißig bis sechsunddreißig Minuten dauerte. Die Arbeiter betrachteten sie als eine ihrer Lustbarkeiten und saßen gewöhnlich plaudernd auf dem Rand der Barken. Heute wurde einer nach dem andern still und sah nachdenklich über die windbewegte Fläche, auf der weiter unten schon stürmische Regengüsse hinfegten.
"Kein guter Tag für die Fahrt, Kapitän!" sagte ich zu dem alten Schiffer, der mit einem Seilende in der Hand starr nach dem letzten, kaum aus dem Wasser hervorragenden Pfeiler sah, dem wir zusteuerten. Ein weißer Wellenkranz, wie eine kleine Brandung, zeigte die Stelle deutlicher als gewöhnlich.
"Nein!" sagte er, sichtlich nicht geneigt, das Gespräch fortzusetzen. Von Zeit zu Zeit spritzte jetzt etwas Wasser über Bord, denn die Boote gingen mit ihrer gewaltigen Last ziemlich tief. Manchmal traf eine Welle die Bootseite mit einem lauten, harten Schlag. Dann ging ein Zittern durch unsern Gitterbalken, von einem Boot zum andern, wie wenn man eine Saite berührt. Dazu heulte jetzt der Wind hörbar und brachte dicke Nebelwolken den Fluß herauf. Die Stimmung war unbehaglich.
"Können Sie schwimmen?" fragte ich unnötigerweise den knurrigen Alten, um etwas Leben in die Gesellschaft zu bringen. Es schien mir stets rätlich, bedenklichen Augenblicken wenigstens mit dem Schein von Humor entgegenzugehen, wenn man ihnen nicht mehr ausweichen kann. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, ging der Mann nach dem Bug des Bootes. Dort hingen zwei Rettungsgürtel. Er band den einen los und warf ihn mir zu. An Deutlichkeit ließ die Antwort nichts zu wünschen übrig. Ein paar Arbeiter lachten unbehaglich.
Unser Fahrzeug hatte noch nicht die Mitte des Stroms erreicht, der uns mit Gewalt von der Brücke ab nach oben trieb, was übrigens ganz im Plan des Manövers lag.
"Wir können wohl nicht zurück, Kapitän?" fragte ich nach einer langen Pause, in der man nichts als das Plätschern des Wassers, das Sausen des Windes und das regelmäßige Brausen der zwei Schleppdampfer hörte.
"Nein!" sagte der Mann.
"Der Transport des Balkens könnte ja ebensogut morgen ausgeführt werden, wenn die Bucht ruhiger ist", meinte ich.
"Nein!" war die lakonische Antwort unter dem zerfetzten Matrosenhut. Dann machte er aus beiden hohlen Händen ein Sprachrohr und brüllte etwas in den Nebel hinaus, das man wohl an beiden Ufern hören, aber sicher, wie mir schien, nirgends verstehen konnte. Die Schlepptaue des linken Dampfers und unseres Bootes streckten sich mit einem Ruck, die des andern sanken lose gegen das Wasser. Der Gitterbalken schwenkte sich langsam quer über den Strom.
Dann erst wandte sich der Kapitän zu mir, gutmütig blinzelnd, als lägen nicht fünf Minuten zwischen meiner Bemerkung und seiner Antwort. "Seit wir wegfuhren, denke ich daran, Mister Harold" die Leute nennen mich alle beim Vornamen, der ihnen mundgerechter zu sein scheint -, "aber es geht nicht. Keiner der Steuerleute ist darauf eingerichtet. Wie wollen Sie die vier Boote kommandieren, daß alles zusammenarbeitet? Das muß vorher verabredet sein. Wir würden die Brücke einstoßen oder sonst ein Unheil anrichten. Die Sache muß durchgeführt werden wie immer. Geht's, so geht's; geht's nicht -"
Damit war seine Beredsamkeit erschöpft. Der Gitterbalken stand jetzt parallel mit der Brücke, quer über den Fluß. Beide Dampfer zogen mit Macht gegen die wütende Strömung, die uns entgegenbrauste. Am Bug unsrer Boote spritzten die Wellen jetzt beständig über Bord. Die Barken hoben und senkten sich in unruhiger Bewegung, die sich dem Balken mitteilte, der haushoch über seine Unterlagen emporragte. Da sich beide Boote jedoch nicht in gleichem Tempo bewegen wollten, so zitterten und knirschten die Unterlagen bösartig.
"Hierher, Leute!" schrie der Kapitän, "alle Mann nach vorn!" Sie gehorchten mit ungewohnter Behendigkeit. Wir näherten uns jetzt den Pfeilerinseln, auf denen ein halbes Dutzend Leute uns erwartete, förmlich eingehüllt in den weißen Gischt einer kleinen Brandung. Die Dampfer waren schon zwischen den Pfeilern durchgefahren und ließen die Schleppseile sinken. Jetzt erst, an den Pfeilerinseln als festem Punkt, sah man, wie unser gewaltiges Zwillingsfahrzeug schwankte und schaukelte. Es war grausig. Ich begann an Dich zu denken, Billy, und an die Kleinen.
Beim besten Willen kann ich nicht genau erzählen, was nun vor sich ging. Es war den Steuerleuten wahrscheinlich nicht möglich gewesen, die genaue Mitte zwischen unsern zwei Pfeilern einzuhalten. Auch hatten die Schlepper uns nicht ganz parallel mit der Brücke herangezogen. Wir mit unserem Balkenende waren noch ein paar Fuß vom Pfeiler entfernt. Da kam ein furchtbarer Stoß von der andern Seite. Fünf, sechs Leute fielen zu Boden. Dann ein zweiter. Die Unterlagschwellen krachten und drehten sich, die dicken Seile, die den Balken aufrecht hielten, knallten entzwei und flogen wie Peitschenschnüre durch die Luft. Am fernen Ende stieg die Bootspitze aus dem Wasser wie ein Pferd, das sich bäumt. Bei uns neigte sich der Gitterbalken nach hinten, langsam, unaufhaltsam; die Unterlagschwellen stürzten zermalmt in einen Holzstücke speienden Haufen übereinander, und dann war es zehn Sekunden lang ein Zischen und Tosen, ein Klatschen und Schlagen, ein Knirschen und Sausen, in dem man nicht wußte, ob man im Wasser oder auf dem Land, auf den Füßen oder auf dem Kopf stand. Und das Geschrei!
Als ich mich wieder mit einiger Besinnung umsehen konnte, stand ich neben dem alten Kapitän auf der Pfeilerinsel. Unser großer Gitterbalken war spurlos verschwunden, und der reißende Strom jagte darüber weg, da und dort noch ein wenig gurgelnd, als habe ihm der ungewohnte Bissen nicht übel geschmeckt.
Das Erstaunliche ist, daß nicht ein Mann verlorenging. Am andern Ende waren die meisten ins Wasser gesprungen. Da jedoch die Leute auf den Pfeilern zwei Kähne bei sich hatten, wurden sie ohne Schwierigkeit aufgefischt. Auf unsrer Seite gab es einen Beinbruch und ein paar zerbrochene Rippen, wofür wir Gott danken dürfen. Da alle unsre Leute sich an der Spitze des Boots befanden, konnten sie mit einem Sprung das rettende Inselufer erreichen und lachten schon wieder, wenn sie an das allgemeine Gehüpf und an die unglaublichen Sprünge dachten, die sie fertiggebracht hatten. Unser fast zertrümmertes Boot hing noch an den Schlepptauen des Dampfers, das andre war mit dem Gitterbalken untergegangen. Die Dampfer brachten die ganze Gesellschaft ohne Verzug ans Ufer. Es war mir nicht unangenehm, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, da es gleich darauf entsetzlich zu regnen begann.
Ein kleines Stoß- und Dankgebet hatte der versunkene Gitterbalken wohl jedem von uns ausgepreßt, vom stummen Kapitän bis herunter zum zehnjährigen Bootsjungen, dessen kleine Zunge vor Aufregung nicht mehr zur Ruhe kam; jedem in seiner Sprache, und wunderliche Sprachen waren es teilweise. Aber der uns erhalten, versteht uns auch und verzeiht das Gestammel. Ernst war es allen.
Dann galt es zu arbeiten. Das ist das Gute in solchen Fällen: sie lassen uns keine Zeit, lange über verschüttete Milch nachzudenken. Zuerst wurden Telegramme an Deinen Papa und Griffin aufgegeben, die beide nicht übel geschimpft haben mögen. In sicherer Entfernung ist dies ja eine harmlose Form von Tröstung. Diesen folgte ein Telegramm nach Leith, um so schnell als tunlich zwei geübte Taucher hierher zu bekommen. Dann wurde einer der Schlepper mit einer Barke und zwanzig Mann nach Pebbleton geschickt, um alle Hebewerkzeuge, die im Lande aufzutreiben sind, zu holen. Sie nahmen gleichzeitig auch das zerbrochene Bein und die Rippen mit, welche sie im dortigen Hospital abzugeben haben. Die Verunglückten betrachteten den Fall mit stoischer Ruhe und freuten sich auf ein paar Wochen ungestörter Erholungszeit. Es ist wahrhaftig eine Rasse aus Hartguß. Damit war geschehen, was für den Augenblick geschehen konnte, und Zeit gewonnen, Dir dieses Briefchen zu schreiben, das Dich hoffentlich freuen wird.
Es ist mittlerweile Abend und Ebbe geworden. Trotzdem sieht man nichts von unserm Balken. Dabei geht es mir vortrefflich. Ein solches Zwischenspiel, nach dem man weiß, wo und was anzupacken ist, sehe ich als Hochgenuß an gegenüber den schlaflosen Nächten, die uns eingebildete Sorgen bereiten. Du verstehst mich, aber sage niemand etwas davon. Dies muß unser Geheimnis bleiben.
Für immer Dein
Harold.


Pebbleton, den 23. September 1877.

Hipp hipp hurra! Ich bitte Dich, lieber Eyth, noch einmal: Hipp hipp hurra! Gestern ist die erste Lokomotive über unsre Brücke gefahren. Und wie!
Es war eine tolle Wirtschaft, diese letzten drei Monate. Man wollte mit Gewalt vor Anbruch des Winters das Werk, an dem wir nun fast acht Jahre arbeiten, fertig sehen, und die Gewalt hat gesiegt. Jeden packte schließlich dieses Eilfieber in unheimlicher Weise, und ich selbst war einer der schlimmsten, obgleich eigentlich nur das Zusehen meines Amtes war. Allein die Telegramme des alten Bruce, der nicht müde wurde, die Hoffnung auszusprechen, daß er das Ende der Brücke noch erleben möge, das Herumstampfen und Schreien Griffins und seiner Leute, die - Gott sei's geklagt - unter dem Vorwand von Übereifer manches schlechte Stück Guß- oder Schmiedeeisen in den Bau hineingeschmuggelt haben mögen, steckten mich an. Ich schrie, stampfte und telegraphierte genau wie sie. Ehrlich gesagt, ich ließ mich gerne anstecken und arbeitete mit, als ob ich einer von Griffins jungen Leuten wäre, anstatt dazu da, sie zu beaufsichtigen. Es tat mir gut. Ich habe mich schon lange nicht mehr so vergnügt und sorgenfrei gefühlt. Selbst ein tüchtiger Herbstwind läßt mich seit einiger Zeit wieder ruhig schlafen. Ich glaube, ich war auf dem besten Wege, ernstlich krank zu werden, ehe diese Sturmwochen kamen. Fixe Ideen können Blut zersetzen.
Gestern also, um zehn Uhr vormittags, wurde die letzte Schiene auf die Brückenschwellen genagelt. Es war zwischen dem zweiunddreißigsten und dreiunddreißigsten Pfeiler in einem der langen Gitterbalken der Mittelbrücke. Wir alle, Griffin, ich und ein halbes Dutzend seiner Ingenieure und Werkführer, standen feierlich um die Schwellen herum, auf denen das letzte Verbindungsglied zwischen Süd und Norden ruht. Bruce hatte leider eine Erkältung im Leib und konnte nicht kommen. Der älteste Schienenleger auf dem Platz durfte die letzte Schraube durch die letzte Fischplatte stecken und anziehen. Ich hatte die Operation in den letzten Monaten wohl tausendmal mit angesehen, ohne etwas dabei zu denken, als daß sie etwas schneller ausgeführt werden könnte. Heute hatte ich den Eindruck, als ob der alte Kerl mir das Herz zusammenschraubte, schmerzhaft und wohlig zugleich. Griffin hatte für ein paar Flaschen Sekt gesorgt. Dies löste die Spannung ein wenig und stellte die übliche Feststimmung vor. Für die Arbeiter sollte sie erst am Abend beginnen.
Und nun komme ich an ein Kapitel, das Du leider nicht verstehst, das ich Dir aber trotzdem nicht vorenthalten kann. Sobald die Schiene festgeschraubt und das erforderliche mangelhafte Hurra ausgestoßen war, fuhren Griffin und ich auf einer Draisine nach Pebbleton hinüber, wo, wie wir angeordnet hatten, eine Lokomotive unter Dampf stand. Sie sollte mit uns ohne Verzug die erste Fahrt über die Brücke machen; dieser Genuß durfte uns nicht entgehen. Lustig pfiff sie uns entgegen, als wir in den Bahnhof einfuhren, setzte mich aber auch sofort in ein kleines Erstaunen, nicht weil ihr eine halbverbrannte Girlande um den Schornstein und ein Rosenkranz über die Sicherheitsventilhebel hing, das war einem poetischen Lokomotivführer, der auf ein glänzendes Trinkgeld rechnen konnte, zu verzeihen -, sondern weil neben dem Mann statt des Heizers eine Dame stand. Ich traute meinen Augen kaum. Es war Billy.
"Donnerwetter", rief ich in meinem besten Brückenenglisch, "was tust du hier? Willst du herunterkommen, Schatz!"
"Donnerwetter, willst du heraufkommen!" sagte sie. "Wir haben hundertunddreißig Pfund Dampf und können nicht länger warten!"
Wir fochten einen Strauß! Griffin, der unsre Ehekämpfe nicht kannte, war in der größten Verlegenheit, während wir uns heftig beschimpften und liebevolle Blicke zuwarfen. Sie war vor einer Stunde expreß von London gekommen. Sie ist das eigensinnigste Geschöpf auf Gottes Erdboden, was ich besonders hochschätze. Man weiß im Verkehr mit ihr wenigstens immer, was man zu tun hat. Ich stellte ihr vor, daß sie vor Schwindel sterben würde, ehe wir auf dem Südufer ankämen. Ich sagte ihr, daß eine erste Fahrt über eine derartige Brücke meistens den Tod aller näher Beteiligten verschulde und daß ihr Gewicht die Katastrophe mit Bestimmtheit herbeiführen müsse. Statt aller Antwort fragte sie den Lokomotivführer, mit welchem Hebel man pfeife, und pfiff. Als ich sie an ihre unerzogenen Kinder erinnerte, fragte sie mich, ob ich Rabenvater genug sei, die auch noch zu verlangen. Ich sah, es half alles nichts. Wir stiegen deshalb auf, nahmen sie in die Mitte, setzten sie auf einen umgestürzten Kohlenkübel und fuhren ab.
Natürlich wurde langsam gefahren, sobald wir die Brücke erreichten, um die Gegend zu genießen, wie Du Dir denken kannst. Es war ein windiger, sonniger Herbstnachmittag; Land und Wasser strahlten von den Bergen im Westen bis hinaus gegen Osten, wo sich die offene See im wasserhellen Himmel widerspiegelt. Über den ersten Teil der Brücke, auf dem die Gitterbalken unter den Schienen liegen, sah die Fahrt toll genug aus, besonders da die Bohlung an der Seite des Geleises und das Handgeländer noch fehlen. Man schien turmhoch über dem Wasser zu hängen und die Maschine in der Luft hinzuziehen. Hier zog Billy doch vor, die Augen zu schließen, und wurde etwas bleich, so daß ich sie auslachen und ohne Widerstand küssen konnte. Die Rache war süß. Dann kamen wir auf die Mittelbrücke, wo die Maschine durch das Innere der Gitterbalken läuft. Hier fühlt man sich sicherer, obgleich das Gegenteil der Fall sein sollte. Wenn ein Teil der Brücke bedenklich ist, so ist es dieser. Auf Augenblicke vergaß ich hier meine Frau. Die Arbeit von zehn Jahren stand auf dem Spiel. Griffin und ich sahen uns an. Wir wußten beide, was wir dachten, ohne ein Wort zu sagen. Aber es war wirklich unmöglich, das leiseste Zittern der gewaltigen Gitterbalken zu fühlen. Allerdings: wir fuhren sehr langsam und vorsichtig. Nun kam man wieder ins Freie. Billy war jetzt an alles gewöhnt und sah sich keck um. Und als wir am andern Ufer zwischen den Granitobelisken durchfuhren, die das Ende der Brücke schmücken, und das hundertstimmige Hurra der Arbeiter die Maschine empfing und gleichzeitig die Bierfässer angerollt kamen und das Hurra sich verzehnfachte, da packte sie mich am Kopf und mißhandelte mich vor der versammelten Volksmenge in unverantwortlicher Weise.
Wie gesagt, Eyth, ich kann Dich nur bedauern, denn Du verstehst dies alles nicht. Aber ein stolzes Gefühl ist und bleibt es, mit bebendem Herzen über ein Werk von Jahrzehnten wegzufahren und zu fühlen, daß es steht, für alle Zeiten steht. Soviel wirst Du begreifen, und das ist eigentlich alles, was ich Dir erzählen wollte.
Die offizielle Prüfung, bei der sechs schwere Lokomotiven auf jeden Gitterbalken gestellt werden, wird wohl erst in vier Wochen stattfinden. Ich habe jetzt nicht mehr die geringste Sorge und lache mit Sir William um die Wette, wenn der alte Jenkins seine langen Gesichter schneidet. Was die Bruchfestigkeit betrifft, so ist absolut nichts mehr zu befürchten.
Die eigentliche Eröffnung der Brücke soll dann nach weiteren drei Monaten feierlich vorgenommen werden. Man will während des Winters nur Güterzüge über dieselbe leiten, damit das arme Publikum sich an die Sache gewöhnt. Es gibt nämlich heute noch auf beiden Seiten der Bucht ängstliche Gemüter genug, die der Brücke nicht trauen, obgleich sie Billy persönlich geprüft und gut befunden hat.
Und was denkst Du jetzt dazu?
Es war mir im Lauf der letzten Jahre manchmal ein Trost, lieber Freund, Dir mein sorgenschweres Herz auszuschütten. Ich bestehe deshalb darauf, daß Du als stiller Sorgenteilhaber bei dem Eröffnungsfest nicht fehlst. Unser wackerer Schindler, Doktor und Professor des Englischen und Französischen, hat bereits zugesagt und wird sicherlich eine Festrede in gemischter Sprache zum besten geben. Auch Billy erwartet Dich und ist gewöhnt, ihren Willen respektiert zu sehen. Solltest Du zur Zeit in Hindostani oder Mexiko beschäftigt sein, so treffe rechtzeitig in Pebbleton ein. Weniger können wir wahrhaftig nicht verlangen.
In alter Freundschaft
Dein
Stoß,
Brückenbauer z. D.


EINE SCHWERE LAST

Von der amtlichen Eröffnung der Ennobrücke genoß ich nur eine begeisterte Beschreibung, die mir unser alter Freund Schindler in die Steppen Rußlands nachsandte. Nicht allein um sein Englisch aufzufrischen, womit er sich vor sich selbst entschuldigte, hatte er der wiederholten Einladung Harolds Folge geleistet. Im Grunde des Herzens war er noch jetzt mehr Ingenieur als Sprachkünstler und verfolgte von seiner thüringischen Warte herab unser Leben mit sehnsüchtiger Teilnahme und neidloser Begeisterung. Es erschien ihm deshalb auch manches in rosigerem Lichte als uns, die wir die Dinge in der Nähe genossen. So erklärten sich mir die Dithyramben seines Festberichts hinlänglich.
Ein volles Jahr später, während dessen wir wenig oder nichts voneinander gehört hatten, befand  ich mich im äußersten Norden Schottlands, zu Dunrobin, als Gast des Herzogs von Sutherland. Es war der Abend eines ebenso interessanten als anstrengenden Tages. Der Herzog war nachmittags in Lachsfischereiangelegenheiten nach der Westküste abgereist. So kam es, daß Herr Greig, einer der leitenden Geschäftsteilhaber von Fowler & Co., und ich in einem kleinen altertümlichen Saal des Schlosses beim abendlichen Glase schottischen Whiskys allein beisammen saßen und die Ereignisse des Tages besprachen. Im Kamin loderte ein mächtiges Holzfeuer und beleuchtete mit seinem flackernden Licht die reiche, düstere Ausstattung des Zimmers, in dem uns die üppigste Behaglichkeit in Formen entgegentrat, die aus vormittelalterlichen Zeiten zu stammen schienen. Auch ohne die Hirschgeweihe und Eberköpfe und die Riesenhörner ausgestorbener Stiere hätte man glauben können, sich in die Behausung eines der altkeltischen Hochlandlairds verirrt zu haben, auf deren Grund und Boden Dunrobin steht. Greig, ein unverfälschter Schotte, fühlte sich völlig zu Hause. Mir war die ganze Umgebung mit ihrem Zug ins Hünenhafte und Ossianische ein ungewohnter Genuß nach der kühlen Wirklichkeit, die uns den Tag über umgeben hatte.
Der Herzog war eines jener Originale, die uns in seiner eignen Heimat kaum in Erstaunen setzen: trotz seines alten Geschlechts, trotz seines fabelhaften Reichtums einer der Männer unsrer Zeit, wie sie vielleicht nur auf dem Boden der englischen Aristokratie gedeihen, wo man begriffen hat, daß die alten Waffen nicht mehr hinreichen, den Glanz des alten Wappens zu erhalten. Sein Großvater hatte Sutherlandshire, die Stammgrafschaft der Familie, mit seinen Wunderlichkeiten fast zugrunde gerichtet; der Enkel wollte es mit den seinen wieder retten. Jener war ein leidenschaftlicher Jäger gewesen. Sein Ehrgeiz ging dahin, die ganze Nordspitze Schottlands in einen riesigen Wildpark zu verwandeln. Tausende seiner Bauern hatte er genötigt, auszuwandern, die Höfe eingerissen und auf den Feldern Wald und Heide angepflanzt. Alles Land, das ihm im Wege lag, wurde ohne Rücksicht auf die Kosten zum selben Zweck angekauft. Als er starb, hatte die Bevölkerung von Sutherlandshire um sechzig Prozent abgenommen.
Der jetzige Herzog war im Begriff, das verschwundene Landvolk wieder heranzuziehen. Dies war im rauhen Norden keine allzu leichte Aufgabe. Wald und Heide mußten wieder urbar gemacht, Ackerfeld und Wiesen hergestellt, Häuser gebaut werden, und was vor hundert Jahren dem harten, bedürfnislosen Bauern genügte, war heutzutage völlig unbrauchbar. Die Steine und Felsen, zwischen denen der Großvater seinen ärmlichen Pflug zerstoßen hatte, mußten vor allen Dingen entfernt werden, ehe sich Felder schaffen ließen, auf denen ein Landwirt unsrer Tage mit einiger Aussicht auf Erfolg wirtschaften konnte.
Diese Aufgabe sollten die Dampfpflüge des Herzogs leisten, von denen sich bereits acht in meilenweitem Umkreis um Dunrobin in ununterbrochener Tätigkeit befanden. Es war eine erstaunliche Arbeit, für die eine große Gruppe besonderer Geräte erst erfunden werden mußte. Zunächst konnte nicht daran gedacht werden, einen gewöhnlichen Dampfpflug durch die felsenbesäte Heide zu treiben. Ein riesiger Haken, ähnlich einem großen einarmigen Schiffsanker, wurde von dreißigpferdigen Maschinen in Wirklichkeit mit der Kraft von achtzig Pferden zwei Fuß tief durch den Boden gezogen und riß alle Steine, die ihm in den Weg kamen, aus dem Grund. Blöcke von einem halben Kubikmeter schienen spielend aus der Unterwelt zu kommen. Kam das Gerät auf einen alten Granitfindling, der in dieser Weise nicht zu bewältigen war, so wurden auf demselben Dynamitpatronen entzündet, welche die Arbeiter stets neben ihrem Brot und Speck sorglos in der Tasche bei sich trugen. Nach dieser vorläufigen Bearbeitung hatte das völlig weiße Feld, von losen Felsen und Steinen bedeckt, das Aussehen einer erstarrten Sturmsee. Es wäre unmöglich gewesen, mit dem rohesten Wagen über dieses steinerne Meer zu fahren, ohne ihn zu zertrümmern. Ein wunderlich geformter Schlitten wurde deshalb zwischen den Dampfpflugmaschinen hin und her gezogen, auf welchem die Steine nach den Feldenden geschleppt wurden. Dort überstürzte sich der Schlitten von selbst und warf seine grausige Ladung ab. So wurden, entlang den Feldgrenzen, hohe Wälle aus Felsblöcken gebildet, die teilweise zum Bau von Wohnhäusern und Stallungen, namentlich aber auch zu stattlichen Umfassungsmauern der Felder selbst Verwendung fanden. Dann erst konnte ein gewöhnlicher Dampfpflug seine Arbeit beginnen und das Feld für die erste Hafersaat zurechtpflügen, die samt Haus und Hof dem neuen Gutspächter übergeben wurde. Schon waren einige dieser Höfe besetzt und in vollem landwirtschaftlichem Betrieb, aber noch immer hatten wir an den Maschinen zu ändern und zu bessern, die diese wunderliche, gewöhnlichen Menschenkräften unmögliche Arbeit durchführten. Das Ganze war eine Lieblingsaufgabe meines Chefs und Freundes Greig, doch wurde auch ich öfter herbeigeholt, wenn es sich um ein besonders kitzliges mechanisches Problem handelte. So hatte ich diesmal mit einem neukonstruierten Hilfsgerät Versuche angestellt, mittels dessen der Transportschlitten jeden Augenblick und an jeder Stelle an das in Bewegung befindliche glatte Drahtseil der Dampfpflüge angehängt und wieder losgelassen werden konnte. Den Herzog hatten die Versuche in die allerbeste Stimmung versetzt. Er hatte uns lachend und plaudernd in seinem eignen Wagen nach Dunrobin zurückgeführt .
Doch fehlte es auch dem fürstlichen Millionär nicht an Sorgen; denn an allen Ecken und Enden der Erde hatte er seine Eisen im Feuer: am Nil, in Neufundland, in Bengalen wie in Sutherlandshire. Ob er aus diesem Grund den schlechtesten Schneider in Großbritannien für seine eigne Person beschäftigte, wurde häufig hinter seinem Rücken erörtert und nie ganz aufgeklärt. Die landwirtschaftlichen Verhältnisse der nächsten Zukunft, die er mit klarem Blick voraussah, und das rauhe Klima des nördlichen Schottland ließen ihn befürchten, daß seine Arbeit an dieser Stelle schließlich umsonst sein könne und daß die Pächter, trotz aller greifbaren Ermutigung, unter einem solchen Himmel nicht lebensfähig bleiben dürften. "Ich weiß, was ich dann mache", sagte der Herzog mit grimmiger Entschlossenheit; "geht es nicht, unterdrückt uns hier der amerikanische Wettbewerb und das englische Wetter, so mache ich mir selbst Konkurrenz. Ich habe vorige Woche einen Vetter nach Manitoba geschickt, um dreißigtausend Acker Prärieland zu kaufen. Nötigenfalls schicke ich in ein paar Jahren all meine Pächter über das Wasser, ihm nach. Den Kopf müssen wir oben behalten, ihr Herren, was auch kommt."
Nun saßen Greig und ich beisammen und überlegten uns dies und jenes, was der rauhe Tag gebracht hatte, technische und wirtschaftliche Dinge, soziale und politische Fragen. Des Herzogs Whisky war vortrefflich; behaglicher gepolsterte Sorgenstühle, trotz ihres barbarischen Aussehens, konnte man in der Welt nicht finden. Ein alter, wie aus Holz geschnitzter Kammerdiener in schottischer Hochlandstracht kam herein und überreichte uns auf einem silbernen Teller, den man in einem Hünengrab gefunden haben mochte, ein paar Briefe. Die Abendpost war soeben eingetroffen. Die Adresse des mir gehörigen Anteils, der aus Leeds nachgeschickt schien, verriet eine fremde Damenhand. Briefe von fremden Damenhänden habe ich von jeher nur selten erhalten. Ich drehte ihn deshalb nachdenklich hin und her und bemühte mich, zu erraten, von wem er wohl sein könnte, anstatt ihn zu öffnen, wie dies ja allgemein Sitte ist. Greig hatte den seinen ohne Zaudern aufgerissen, hatte ihn in einer halben Minute gelesen, warf das Blatt ungeduldig auf den Boden und starrte mit immer tiefer werdenden Stirnfalten in das Kaminfeuer. Er war einer der Leute, denen ein guter Zorn von Zeit zu Zeit Bedürfnis ist; es war dann rätlich, abzuwarten, was er damit anzufangen gedenke. Ich sah mit Interesse zu, wie der rote Feuerschein in seinem roten Bart spielte. Halb Gnom, halb Feuerteufel, war der wackere Schotte in dieser Umgebung ganz in seinem Element; aber es war besser, ihm dann nicht in den Weg zu kommen.
"Es geht verdammt schlecht in Leeds, Eyth!" begann er endlich und griff nach seinem Whiskyglas.
"Etwas in die Luft geflogen? - Ein Streik in Aussicht?" fragte ich teilnehmend.
"Schlimmer", knurrte Greig. "Vorige Woche wurden nur zwei Dampfpflüge bestellt, die Woche zuvor nur einer, und der darf erst im nächsten Frühjahr abgeliefert werden. Unsre Magazine werden bald überfüllt sein."
"In der ganzen Welt gehen die Geschäfte gegenwärtig zum Erbarmen", suchte ich zu trösten. "Wir können nicht erwarten, das nicht zu fühlen."
"Aber dieses Gefühl ist ein infam schlechter Trost", versetzte Greig.
"Seit den fetten ägyptischen Jahren können wir wöchentlich fünf, sechs vollständige Dampfpflüge in die Welt setzen. Wir müssen Platz für sie finden, Land, Arbeit! Es muß etwas geschehen."
"Wenn wir auch nach Manitoba gingen?" schlug ich vor.
"Nein!" sagte Greig, nachdenklich eine riesige Zigarre des Herzogs anzündend. "Nicht nach Manitoba, aber nach Peru. Wann können Sie abreisen?"
Er verlangte keine Antwort und sah wieder schweigend in das Feuer.
"Vorige Woche aß ich mit Herrn Fowler im Reformklub in London zu Mittag", fuhr er nach einer langen Pause fort. "Zufällig. Er hatte einen Peruaner zu Gast gebeten, einen Senor Aspillaga - Zuckerpflanzer. Bringt jährlich achthundert Fässer Rohzucker auf den Londoner Markt und wußte nicht genug von den riesigen Fabriken zu erzählen, die sie jetzt dort bauen. Ägyptischen Stils."
"Ohne einen Vizekönig?" fragte ich zweifelhaft.
"Das ist vielleicht das beste daran. Er überschüttete uns mit endlosen Geschichten von den Fabriken, von den riesigen Gütern, von der Arbeiternot. Es hat neuerdings seine Haken mit den Chinesen. Sie brauchen Kräfte, namentlich für den Feldbau, und wissen nicht, wo sie sie hernehmen sollen, die Herren in Peru."
"So weit wäre es unser Fall", meinte ich mit wachsender Aufmerksamkeit.
"Kurz, Eyth, wir müssen ein neues Land aufschließen", rief Greig mit plötzlich heiter werdender Miene. Er überließ es stets seinem Zuhörer, den logischen Zusammenhang seiner Sätze herzustellen.
"Wann können Sie abreisen? Nächste Woche? Gut. Gehen Sie morgen nach London. Aber nehmen Sie in Leeds Ihre Koffer gleich mit. Besprechen Sie die Sache mit Herrn Fowler! Sehen wir einmal!"
Er trat an den gewaltigen Eichentisch in der Mitte des Zimmers, der, in künstlicher Roheit stilgerecht geschnitzt, aus einem Urwaldrest der Eiszeit zu stammen schien, auf dem aber in kostbaren Mappen und Einbänden Fahrpläne und sonstige Reisebücher in reicher Menge umherlagen.
"Sehen Sie!" rief er nach einer Minute des Hinundherwerfens der Mappen; "am Samstag geht der nächste Dampfer von Southampton nach Panama. Das ist Ihr Boot. Ich gehe morgen früh nach Glasgow. Ihr Zug geht erst um neun über Edinburg. Lassen Sie etwas von sich hören und lassen Sie sich's gut gehen. Wir brauchen uns morgen früh nicht mehr zu belästigen. Gute Nacht!"
"Aber ich kann kein Wort Spanisch", warf ich, doch etwas bedenklich werdend, ein.
"Ich kann nur zwei Sprachen, die sich dazu zum Verwechseln ähnlich sehen", sagte er lachend, "Englisch und Schottisch, und reise durch die ganze Welt. Man verstand mich noch überall, wenn ich laut genug wurde. Und Sie haben vier Wochen Zeit an Bord. Stecken Sie die Nase in ein Buch, wenn Sie glauben, daß es notwendig sei. Ich bin andrer Ansicht. - Es ist doch heute noch etwas geschehen; es ist mir besser. Gute Nacht, Eyth!"
Die letzten drei Worte sprach er mit einem plötzlichen Anflug von Herzlichkeit, den ich zu schätzen wußte. Im Grunde genommen hatten wir uns sehr gerne, und dies war voraussichtlich ein Abschied für mehrere Jahre.
Der hölzerne Kammerdiener machte vergebliche Versuche, ihm die Schlafzimmerkerze zu entreißen und voranzutragen, die er auf einem Nebentisch ergriffen und angezündet hatte. Es gelang nicht. Der alte Mann folgte dem energischen Herrn ehrerbietig, aber kopfschüttelnd durch die frühgotische Tür des Saals.
Nun hatte ich Zeit, an meinen Brief zu denken. Der peruanische Plan konnte warten. Ich hatte es halb und halb vermutet: er war von Ellen Stoß und setzte mich nicht wenig in Erstaunen. Er lautete:

Ennovilla. Richmond, den 18. Februar 1879.

Lieber Herr Eyth!

Wollen Sie mir in einer Not, von der Sie keinen Begriff haben, einen Dienst erweisen, den ich Ihnen nie vergessen werde? Besuchen Sie uns oder suchen Sie meinen lieben Mann zu sehen, ehe Sie wieder aus England verschwinden. Man weiß bei Ihnen ja nie, wie lange Sie erreichbar sind. Ich glaube, er ist ernstlich krank oder im Begriff, es zu werden. Überreden Sie ihn, England auf ein Jahr zu verlassen. Ägypten, das Kap, Westindien - der Ort ist ganz gleichgültig; aber fort muß er. Ich brauche Ihnen nicht mehr zu sagen, denn ich weiß, daß Sie einer seiner treusten Freunde sind und er Ihnen selber sagen wird, was Sie zu wissen brauchen, um uns zu helfen. Am Samstag geht er nach Pebbleton. Vielleicht könnten Sie ihm in Leeds, das er um zehn Uhr erreicht, eine Stunde schenken. Unter allen Umständen aber rechnet auf Ihre Freundestreue

Ihre dankbar ergebene

Ellen Stoß.

Das war für eine Engländerin ein so dringender, bitterernster Brief, daß ich noch sinnend in meinem Sorgenstuhl lag, als der hölzerne Kammerdiener zurückkehrte, um nachzusehen, ob es wenigstens mir beliebe, mich von ihm nach meinem Schlafzimmer geleiten zu lassen.
Es war heute Freitag, und wenn ich überlegte, was in der nächsten Woche geschehen mußte, keine Stunde zu verlieren.
"Kann man morgen in aller Frühe von Dunrobin nach Richmond oder London telegraphieren?" fragte ich den Mann.
"Zu jeder Stunde der Nacht, wenn Sie es wünschen", erwiderte er.
"Seine Gnaden der Herzog können in keinem Hause schlafen, in dem man nicht zu jeder Nachtstunde nach allen fünf Weltteilen telegraphieren kann. Ein Telegraphist ist die ganze Nacht am Apparat, auch wenn Seine Gnaden nicht hier sind."
"Gut; geben Sie mir ein Formular", bat ich. Es lag auf dem Tisch aus der Steinzeit schon bereit und eine eingetauchte Feder daneben, ehe ich mich erhoben hatte. Ich schrieb:

"Stoß. Ennovilla. Richmond. Bin morgen nachmittag vier Uhr an der Ennobrückenstation. Muß Dich vor Abreise nach Peru dringend sprechen. Verfehle mich nicht.

Eyth."

Dann ging ich zur Ruhe, allerdings nicht übermäßig beruhigt. Peru machte mir keine großen Sorgen. Je mehr ich daran dachte, um so fühlbarer wuchs die Freude an dem Gedanken, den alten Inkas etwas vorzupflügen. Wie ich mich aus dem Geschichtsunterricht erinnerte, waren es sachverständige Herren, mit denen sich umgehen ließ. Aber Stoß? Was konnte meinem Freund zugestoßen sein? Frauengeschichten? Kaum denkbar. Ich konnte das Gefühl nicht loswerden, daß es sich um etwas Schlimmeres handle. - Aber Unsinn! Es konnte ja nichts Schlimmeres geben.

Als ich am folgenden Mittag zur verabredeten Stunde Stoß auf der Plattform der kleinen Station stehen sah, die eine halbe Stunde vor dem südlichen Ende der berühmten Ennobrücke als Knotenpunkt zweier von Süden kommender Bahnlinien angelegt ist, konnte ich mich eines gelinden Schreckens nicht erwehren. Er hatte sich seit der Zeit unsres letzten Zusammenseins auffallend verändert. Seine Haltung war ersichtlich gebückt; manchmal, wenn er selbst sich dessen bewußt wurde, schnellte er mit einem nervösen Ruck in die Höhe. Er war dünner geworden. Seine früher vollen, bräunlichen Wangen waren eingefallen und spielten ins Gelbe, unter seinen dunkeln Haaren konnte man die weißen längst nicht mehr zählen. Das Eigentümlichste waren seine Augen, die einst so heiter und herausfordernd in die Welt hineingesehen hatten. Sie schienen größer als früher, wenn er sie aufschlug, und dann lag etwas wie eine ängstliche Frage in dem Blick, der unsicher und wie bewußtlos herumsuchte. Aber er sah selten auf und vermied es, sein Gegenüber anzusehen. Meist blickte er zu Boden, als ob er in tiefstes Nachdenken versunken wäre. Dann sah man wohl auch seine bleiche Unterlippe sich regen, während die Finger seiner linken Hand in fortwährender Bewegung waren, wie wenn ein schlechter Komponist an der Arbeit wäre. Es war kein Zweifel, mein guter Stoß war krank.
Wir begrüßten uns lebhaft; er mit ungewöhnlicher Heftigkeit; beide erfreut über das geschickte Zusammentreffen, denn Stoß war ebenfalls kaum vor fünf Minuten mit dem Zug aus Süden angelangt. Es wäre fast zu einem Kuß gekommen, wenn ich demselben nicht durch einen energischen Druck der Hand Einhalt getan hätte. Männer küssen sich auf englischen Eisenbahnstationen nicht, ohne allgemeine Sensation hervorzurufen, was ich für unnötig hielt. Aber in Stoß regte sich der alte Österreicher, und ich sah jetzt deutlich am Zittern seiner Lippen, wie weich er war.
Wir hätten besser getan, uns in Pebbleton zusammenzubestellen, meinte er. Dort sei ein vortrefflicher Gasthof. Hier, eine Viertelstunde von der Ennobrückenstation entfernt, läge nur ein kleines, aber allerdings ganz gemütliches Wirtshaus, in dem wir jedenfalls vor Wind und Regen Schutz finden würden.
Ich erklärte, daß ich auf die Ennobrücke verfallen sei, weil ich den Riesenbau unter der Leitung von einem seiner Schöpfer gern gesehen hätte. Für mich finde heute die Eröffnungsfeier statt. Ich hoffe, er habe etliche Flaggen zum Aushängen mitgebracht. Für den Festchor und die Hurras wolle ich einstehen.
Es zuckte über sein Gesicht wie ein körperlicher Schmerz, aber nur auf einen Augenblick. Dann schnellte er in die Höhe und lachte zum erstenmal sein altes Lachen.
"Grundschlechter Mensch, wie immer!" begann er. "Als wir die fünfzig Weißgekleideten hier hatten, hast du dich natürlich nicht blicken lassen. Wird es nicht besser mit dir werden? Meine Frau läßt dich vielmals grüßen und bittet um Aufklärung. - Gut; sehen wir uns die Brücke an, das ist ja auch mein Zweck, heute und in den nächsten Tagen. Wenn es Dämmerung wird, sitzen wir im 'Goldenen Brückenkopf' zusammen, bis heute abend neun Uhr dreißig mein Zug geht, denn ich muß leider weiter. Die Direktoren der Nordflintshire-Bahn tagen morgen früh in Pebbleton; einer der Herren will noch heute nacht mit mir zusammentreffen, und ich soll morgen Bruce vertreten. Der alte Herr wird täglich behaglicher und eingebildeter. Die Brücke war zu viel für sein moralisches Gleichgewicht."
Der Stationsvorstand, welcher Stoß mit großer Höflichkeit begrüßte, übernahm unser Gepäck und versprach, das meine nach dem "Goldenen Brückenkopf" zu schicken, denn ich konnte erst am folgenden Morgen mit dem ersten Zug Leeds erreichen und hatte im Sinn, hier zu übernachten. Dann schlenderten wir einen Wiesenpfad entlang am Fuß des ansteigenden Eisenbahndamms der Brücke zu.
Ich fand rasch den alten Plauderton wieder. Bei Stoß wollte er sich nicht sofort einstellen, obgleich ich ihm ansah, wie er sich Mühe gab. Er erzählte mir, wie die technische Prüfung und die Eröffnung der Brücke ohne allen Anstand verlaufen sei und wie drei Monate später zwischen Bruce, den Bauunternehmern und der Bahngesellschaft alle Geldverhältnisse sich glatt und streitlos abgewickelt hätten. Die Brücke habe dreihundertzwanzigtausend Pfund gekostet, etwa um die Hälfte mehr, als man vor zwölf Jahren erwartet habe, sei aber trotzdem noch außerordentlich billig für ein so riesiges Werk. Ein paar hübsche runde Schecks seien im letzten Augenblick von Hand zu Hand gegangen, und auch er könne sich nicht beklagen. Seitdem sei er öfter hier, obgleich sein Schwiegervater und er mit dem Bau nichts mehr zu tun hätten. Doch halte er es für gut, von Zeit zu Zeit noch einen Blick auf dieses Monument des letzten Dezenniums zu werfen. Auch erhalte er gelegentliche Berichte von einem Herrn Noble, den die Bahngesellschaft zum Brückeninspektor ernannt habe, einem äußerst gewissenhaften alten Mann, der nach Schrauben, Keilen und Nieten sehe, die sich etwa gelöst haben könnten. Dieser habe ihn kürzlich gebeten, gelegentlich wiederzukommen, und mit ihm wolle er in den nächsten Tagen die ganze Struktur wieder einmal gründlich untersuchen.
Er hatte munter angefangen zu erzählen, sprach aber immer leiser und zuletzt stockend, wie wenn ihn eine schwere Sorge drückte. Von der Brücke konnte man noch immer nichts sehen, bis wir zu einem kleinen Wärterhause, das unmittelbar vor dem Brückenkopf erbaut ist, am Damm hinaufstiegen. Hier stand plötzlich das ganze großartige Bild vor uns.
Es war ein unruhiger, windiger Nachmittag. Zerfetzte weißgraue Wolken jagten mit Sturmeseile von den Bergen im Westen der See zu. Große Schatten und Sonnenflecke flogen über die weite Landschaft und belebten in wunderlicher Weise die mächtige Wasserfläche der Ennobucht, die sich etwa siebzig Fuß unter uns dehnte. Am andern Ufer, kaum sichtbar im Schatten der Hügel, lagen die Häuser von Pebbleton und am entfernten Strande hin eine Reihe von Dörfern und Städtchen. Im Hintergrund gegen Norden ragten die ruhigen Gipfel des schottischen Hochlands empor. Im fernen Westen türmten sich die schweren Wolken auf, und die Sonne schien in kurzer Zeit in der vergoldeten Masse versinken zu müssen. Auf dem flimmernden, lebhaft bewegten Wasser flog ein Dutzend Segelschiffe der See zu. Da und dort sah man einen Dampfer, der eine Brigg oder einen Schoner mit gerefften Segeln heraufschleppte. Aber alles trat an dieser Stelle zurück vor dem mächtigen Bauwerk, welches eine dunkle, starre Linie durch die lichtbewegte Landschaft zog und seit Jahresfrist als der Stolz und Triumph unsrer Zeit gepriesen wurde.
Schön war sie nicht, die berühmte Brücke. Ein boshafter Kritikus hatte für ihren Stil die Bezeichnung "frühamerikanisch" erfunden. Aber die schwindelnde Höhe über dem Wasserspiegel, die riesige Länge gaben dem Bauwerk seinen eignen Charakter, und auch in Bauwerken ist das Charakteristische oft mehr wert als das Schöne. Hier war in Eisen und Stein Entschlossenheit, Wille, Lebenszweck. Am Nordende, in dunstiger Ferne, machte die Brücke noch weit vom Ufer ihren gewaltigen Bogen gegen Westen, so daß eine lange Reihe ihrer schlanken Pfeiler deutlich hervortrat, während weitaus die Mehrzahl von unserm Standpunkt aus, in der Längsrichtung der Brücke, nicht gesehen werden konnte. Um so mehr schien es, als ob die riesigen Gitterbalken förmlich in der Luft hingen. Namentlich der mittlere Teil, der in der Länge von einem Kilometer hoch über die andern Partien hervorragte, machte den Eindruck, als ob die Gesetze der Schwere bei so gewaltigen Bauten keine Geltung mehr hätten. Die die Bucht überschreitende Bahn war nur eingleisig. Auf beiden Seiten der Schienen war ein schmaler, asphaltierter Fußsteg, der nach der Wasserseite hin durch ein Eisengeländer geschützt war. Zwischen den Schienen und Schwellen jedoch konnte man noch immer durch die Gitterbalken ins grüne Wasser hinuntersehen und das Eisenwerk betrachten, auf dem die hölzernen Schwellen lagerten. Die achtzig Fuß unter uns durchziehende Strömung, die den Blick in wunderlicher Weise mitzog, trug nicht zum Gefühl der Sicherheit bei, mit dem ich Stoß folgte, der, ohne ein Wort zu sprechen, ein Stückweit über die Brücke wegging, die sich endlos vor uns dehnte.
"Wollen wir einen Zug abwarten?" fragte er plötzlich, wie wenn er meine Gedanken erraten hätte. "Es ist Platz genug für uns."
Ich konnte dem Vorschlag nichts Verlockendes abgewinnen und meinte, es wäre klüger, zurückzugehen, da es bald Dämmerung werden müsse, und der Wind immer lebhafter aus Westen zu blasen begann. Gemütlich konnte man diesen Abendspaziergang zwischen Wasser und Himmel kaum nennen, selbst an der Seite des besten Freundes. Wir wandten um. Am Wärterhäuschen begrüßte Stoß mit einem: "Wie geht's, Knox?" einen Bekannten aus der Bauzeit, der Brückenwärter geworden war. Der alte, gutherzig und zuverlässig aussehende Mann erwiderte den Gruß mit verwunderten Augen, griff unbeholfen nach der Mütze und erkundigte sich angelegentlich nach Stoß' Gesundheit.
"Wir sind nicht so kräftig, wie wir waren, Herr Stoß", meinte er zutraulich. "Zu viel Arbeit! Zu viel Sorgen! Sie sollten Bahnwärter werden, Herr Stoß! Gesunde Luft hier oben. Ein ruhiges, kleines Nest. Viermal des Tags auf der Brücke hin und her, das kann der Mensch aushalten. Nur bis zur Mitte, Herr Stoß! Nur bis zum Pfeiler Nummer dreiundvierzig. Ich habe es schon damals gesagt, als Sie noch auf dem Bau waren: Zu viel Sorgen, das zehrt."
"Es ist doch alles in Ordnung, Knox, soviel Ihr wißt?" fragte Stoß und tat wie belustigt, aber mit dem ängstlichen Blick, der immer deutlicher hervortrat.
"Was wird nicht in Ordnung sein, Herr Stoß!" rief der Alte fröhlich. "Vorige Woche ist wieder einer der Malefizkeile aus den Querstangen gefallen. Am Pfeiler Nummer fünfzehn. Aber wir haben das Luder hineingeschlagen, daß ihm das Ausfallen vergehen wird. Alles in Ordnung! Natürlich! Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Ich und drüben Bob Stirling, wir passen auf!"
Wir wünschten dem Alten einen vergnügten Abend und gingen dem Hügel zu, der westlich von der Brücke zu mäßiger Höhe ansteigt. Auf dem Gipfel liegen die sieben Senkkastenarbeiter begraben, denen der alte Lavalette ein einfaches Steinkreuz hatte errichten lassen. Von hier aus übersah man das ganze Werk in einem prachtvollen Gesamtbild, und wie auf einen Wink brach die Sonne noch einmal durch die Wolken und überflutete die Landschaft mit rotem Gold. Namentlich machte der riesige Schatten der Brücke, der sich scharf auf dem Wasserspiegel der Bucht abzeichnete, einen fast unheimlichen Eindruck.
Ich schüttelte Stoß, dessen Züge sich freudig belebten, die Hand.
"Ich habe dir noch nicht Glück gewünscht, Stoß, wie ich es schon längst tun wollte!" sagte ich ernst. "Es ist wahrhaftig ein großes Werk, an das du deine besten zwölf Jahre gerückt hast. Natürlich, du hast es nicht allein gebaut, und dein Schwiegervater, wie es so der Weltbrauch ist, heimst alle Ehren ein, aber ein gutes Stück von dir steckt in dem Ding, und du darfst stolz darauf sein. Ich bin in keiner Hipp-hipp-hurra-Stimmung, und die sieben Toten, auf denen wir stehen, sind keine lustige Gesellschaft dazu. Aber ich denke mir, selbst sie muß es freuen, wenn sie sich in einer hellen Mondnacht herauswagen und das schwarze Ungetüm da unten fertig sehen. Selbst diese armen Kerle haben ihren Anteil daran und sind nicht umsonst geboren."
"Nein, die nicht; die Pfeiler stehen", sagte Stoß träumerisch. "Aber komm!" Er warf noch einen langen Blick auf das im stürmischen Abendlicht aufflammende Bild. Dann entzog er mir mit einer raschen Bewegung die Hand, die ich gehalten hatte, und ging den Hügel hinunter.
'Gut!' dachte ich, ihm folgend. 'Aber nach dem Tee muß er beichten.'"


Die beiden Zimmer, in denen ich gestern und heute meinen Abend zubrachte, hätten kaum einen größeren Gegensatz bieten können. Eins nur wissen die Engländer überall zu bewahren, selbst in Wirtshäusern, solange sie noch nicht dem Zuge der internationalen Gleichmacherei erlegen sind: die Behaglichkeit eines wenn auch vorübergehenden Heims. Es war in dem kleinen Stübchen des "Goldenen Brückenkopfs", in welchem uns die Wirtin untergebracht hatte, nicht anders als im Herzogsschloß. Die niederen, mit roten Vorhängen verhängten Fenster, der schlichte, altertümliche Hausrat, an dem die Zeit da und dort ein Stück abgeschlagen hatte, dessen Wunden aber längst wieder vernarbt waren, das reinliche Tischzeug, dem man trotzdem den täglichen Gebrauch ansah, das Kohlenfeuer, das den kleinen Raum mehr durch seinen roten Schein als durch seine strahlende Wärme belebte, das alles lud zu einem traulichen Plauderstündchen ein, wie ich es brauchte. Dazu rüttelte jetzt ein förmlicher Sturm an den Fensterscheiben, so daß es mir ganz wohlig zumute geworden wäre, wenn ich noch den alten Stoß vor mir gehabt hätte. Während des Tees hatten wir von unseren frühesten Zeiten gesprochen, namentlich Schindlers gedacht, der seit Jahren mit seiner gewohnten Treue und Gewissenhaftigkeit über die Fortschritte eines technischen Lexikons und, in regelmäßigen Zwischenräumen, über die Geburt von fünf Mädchen berichtet hatte, die - alle sechse - sein Vaterherz hoch erfreuten. Dann rückten wir ans Kamin, und die Wirtin brachte ungebeten die Whiskyflasche und das heiße Wasser.
Auch in dieser Beziehung berührten sich Herzogschloß und Bauernwirtshaus.
"Wie es windet!" begann ich, als nach einem lang ausgezogenen, fernen Grollen die Fenster wieder einmal hörbar zitterten. "Es tut einem ordentlich wohl, aus der warmen Stille heraus dem Aufruhr zuzuhören."
Stoß, der, das Schüreisen in der Hand, nachdenklich im Feuer herumgewühlt hatte, fuhr auf und flüsterte heftig:
"Du weißt nicht, was du sagst, Eyth! Das heißt -" Er stockte. Dann fuhr er langsam fort: "Ich erinnere mich, früher konnte ich das Gefühl auch verstehen. Noch vor zehn Jahren."
Wir waren beide schon fünfzehn Jahre in England. Eine gelegentliche Pause von zehn Minuten unterbrach unser Gespräch in keiner Weise.
"Du bist nicht wohl, Stoß; wach auf!" begann ich wieder und gab ihm einen herzhaften Schlag auf das Knie. Wir mußten den alten Ton wieder finden. Ich war jetzt zu jeder Gewaltmaßregel bereit.
"Nicht wohl?" fragte er, mit peinlicher Wehmut in seiner Stimme.
"Es ist mir nie wohler gewesen als heute, seit Monaten. Es tut mir gut, dich wieder zu sehen, Eyth." Er reichte mir unnötigerweise die Hand, ohne mich anzusehen.
"Gut, dann schwatze!" sagte ich, und bot ihm das dampfende Glas, in welchem ich, nach einem ziemlich kräftigen Rezept, seinen Abendtrunk gebraut hatte.
"Es stürmt furchtbar in diesen schottischen Tälern", sagte er nach einer zweiten Pause. Dann nahm er einen tüchtigen Schluck. Das Getränk schien ihn zu beleben. Er warf sich in seinen Stuhl zurück und begann endlich Zusammenhängendes zu erzählen.
"Du weißt nicht, was ich in den letzten Jahren durchgemacht habe, und Gott weiß, wie es enden soll. Aber es bleibt unter uns, was ich dir jetzt sage. Es kann keinem Menschen gut tun, wenn du es weiterplauderst, und mir kann niemand helfen. Du weißt, wie ich mit Bruce zusammen an den Plänen der Ennobrücke gearbeitet habe. Es war eine Lust. Der Mann mit seinem Weltruf hatte übermäßig viel zu tun in allen Winkeln des Erdballs und vertraute mir blindlings. Er hatte recht. Er wußte nicht viel mehr als ich. In diesen großen Aufgaben ist noch so vieles dunkel. Ohne Mut kommt man dabei nicht weiter, und den haben die Jungen so gut wie die Alten.
"Es war eine glorreiche Zeit. Alles Schaffenslust und Hoffnung. Du weißt, Billy half schon eifrig mit und baute an der andern Brücke, die uns beide zusammenführen sollte. - Ich glaube wirklich, nach Bruces und des alten Jenkins ursprünglichen Plänen wären wir nie durchgekommen. Die Kosten wurden in dieser Weise für die damaligen Verhältnisse zu hoch. Da fiel mir auf dem Weg von London nach Richmond mein Plan mit den gußeisernen Pfeilern ein. Bruce griff danach, gierig, wie nach einem Rettungsring. Die Festigkeitsfrage, die Kostenberechnungen überließ er mir, wie es damals schon seine Art war, und, bei Gott, Eyth, ich habe ehrlich gerechnet und manche lange Nacht durchgesessen, um mir selber über die Sache völlig klarzuwerden. Aber schließlich beruht doch alles Mögliche auf Annahmen, auf Theorien, die noch kein Mensch völlig durchschaut und die vielleicht in zehn Jahren wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Ein Holzbalken mit seinen Fasern ist noch verhältnismäßig menschlich verstehbar. Aber weißt du, wie es einem Block Gußeisen zumute ist, ehe er bricht, wie und warum in seinem Innern die Kristalle aneinanderhängen; ob ein hohles Rohr, das du biegst, auf der einen Seite zuerst reißt oder auf der andern vorher zusammenknickt, ehe es in Stücken am Boden liegt? Wieviel ich über Kohäsion nachgedacht habe, damals und später - namentlich später -, daß mir übel wurde von den ewig kreisenden Gedanken - Donnerwetter, wie es stürmt!"
Er lauschte, mit dem scheuen Blick, den ich noch immer bei ihm nicht gewohnt werden konnte.
"Das Schlimmste war nicht die einfache Tragfähigkeit. Mit den Gitterbalken ist, glaube ich, alles in Ordnung. Auch später, als die hohen Mittelpfeiler weiter gestellt werden mußten, wurde dieser Teil der Aufgabe so behandelt, daß wir keine Sorge zu haben brauchten. Aber in völligem Dunkel war man mit der Berechnung des Luftdrucks gegen die ganze Struktur. Bruce wollte hiervon überhaupt nichts wissen. 'Wind! Wind!' rief er, wenn ich auf das Kapitel zu sprechen kam; 'was sechs schwere Lokomotiven freischwebend trägt, wirft kein Wind um!' Das war seine Theorie, und sie läßt sich anhören. In schwachen Augenblicken habe ich mich selbst förmlich daran geklammert. Dabei wußte man und weiß noch heute blutwenig über den Luftdruck eines Sturmes. Wir nehmen zwanzig Pfund auf den Quadratfuß an. Dabei müssen meine Pfeiler, wie ich sie ursprünglich projektiert hatte, wie Felsen stehen. Später, als die Brücke schon über die halbe Bucht fertig war, erfuhr ich, daß die Staatsingenieure in Frankreich vierzig Pfund annehmen. Vor einem Jahr erst schrieb mir ein Bekannter aus Amerika, daß sie dort auf fünfzig rechnen, und die amerikanischen Ingenieure sind nicht übermäßig vorsichtig, wie alle Welt weiß. - Doch tauchte die Frage erst später ernstlich auf, als schon alles in flottem Bau war. Niemand, auch ich nicht, kümmerte sich anfänglich darum. Wir glaubten an Bruce, und Sir William glaubte an sich und sein Gefühl. In den letzten Tagen, in denen die Berechnungen zum Abschluß kamen, auf denen das ganze Brückenprojekt aufgebaut ist, hatte ich noch einen lebhaften Kampf mit mir selber. Welchem Sicherheitskoeffizienten darf ich trauen? Nicht bloß das Brückenprojekt, auch was ich damals für mein höchstes Erdenglück hielt und was es geworden ist, hing an der Antwort. Wenn ich so rechnete, daß Bruce die Sache annehmbar fand, konnte ich die Hand nach Ellen ausstrecken. Gott verzeihe uns beiden. Sie küßte mich in einen niederen Sicherheitskoeffizienten hinein. Am folgenden Tag waren wir ein Brautpaar.
Ich war in den ersten Jahren nicht ängstlich und hatte keine Ursache dazu. Wenn die Ausführung sorgfältig überwacht werden konnte, so durfte ich so ruhig sein wie Bruce und alle Welt. Daß ich aufpaßte, als ob mein Leben daran hinge, kann ich beschwören. Aber als die Senkkästen abgeändert und meine Pfeiler statt aus acht nur noch aus sechs Säulen aufgebaut werden mußten, fing ich wieder an zu rechnen. Es war aus mit meiner Ruhe. Dazu kam der Tod Lavalettes, der Eintritt der neuen Bauunternehmer, die nicht halb so gewissenhaft waren wie der alte Hugenotte; der Hochdruck, mit dem schließlich alles dem Ende zudrängte und manches nicht ausgeführt wurde, wie ich es wünschen mußte! Du verstehst jetzt vielleicht, wie mir nach und nach zumute wurde, und keinem Menschen durfte ich ein Wörtchen von all dem sagen. Das ganze Unternehmen drängte mit aller Wucht seinem Abschluß entgegen; zu ändern war nichts mehr. Wie oft ich an den Festkarren Dschagannathas dachte, den nur ein Gott aufhalten kann, wenn er über seine Hindus wegrollt.
Die Prüfung der Brücke auf ihre Tragfähigkeit, die Übergabe an die Bahngesellschaft, die Eröffnungsfeier; alles ging ja glänzend vorüber. Wir, Sir William und seine Leute sowie die Bauunternehmer, waren jede Verantwortlichkeit los. Mein Schwiegervater wiegte sich im Gefühl, die größte Brücke der Welt gebaut zu haben, und schenkte der Sache keinen zweiten Gedanken. Was in mir vorgeht, Eyth, namentlich seitdem ich nach der Eröffnung weniger zu tun habe und, wie es heißt, mich etwas erholen kann, ist nicht leicht erzählt.
Alles, auf Schritt und Tritt, wachend und schlafend, erinnert mich an die Brücke. Zu London in unsern Bureaus sind die Wände mit prachtvollen Aquarellen des Baues geschmückt. Über meinem Schreibpult hängt ein Ölgemälde, das einen der großen Mittelpfeiler mit seinen sechs Säulen darstellt, von einer richtigen Künstlerbrandung umtobt. Komme ich abends nach Hause - mein Schwiegervater hat uns am Eröffnungstage eine reizende Villa geschenkt -, so starrt mir zuerst über dem Gartentor ihr Name - Ennovilla - in goldglänzenden Buchstaben entgegen, und zuletzt, wenn ich in die Augen meiner Frau sehe - wir lieben uns wie am ersten Tag - und sie mich küßt, denke ich daran, wie diese Augen vor zwölf Jahren an meinen Rechnungen mitgearbeitet haben. Jede Höhe, von der ich herunterblicke, jedes Wasser, über das ich gehe oder fahre, jeder Luftzug, der die Blätter eines Baumes zum Rauschen bringt - es ist eine Höllenqual - - und keine Rettung --"
"Was sagt dein Arzt?" fragte ich, so ruhig ich konnte.
Stoß starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an, als ob er mich nicht verstände. Es war etwas Irres in seinem Blick. Seine Aufregung konnte ich begreifen; er hatte allem nach zum erstenmal seinem Herzen Luft gemacht. Das konnte auch einen starken Mann erschüttern, der jahrelang unter einem solchen Druck lag und der Last täglich neue Steine zugeschleppt hatte.
"Komm!" rief ich aufspringend. "Wir haben noch eine halbe Stunde, bis dein Zug geht. Ich begleite dich bis an den Bahnhof. Die Luft wird uns beiden gut tun."
Er stand langsam auf. Einige Minuten später traten wir in die schwarze Herbstnacht hinaus.


Es war ein Wetter, wie es im November und Dezember die schottischen Täler, die von West nach Osten streichen, gelegentlich durchbraust. Die ganze Natur schien im Aufruhr. Der Wind kam in heftigen Stößen über das Feld. Da und dort hörte man ein lautes Krachen. Blätterlose, abgerissene Zweige flogen durch die Luft. Es war schwarze Nacht um uns her. Trotzdem sah man an zwei, drei Stellen ein Stückchen des blauen Himmels mit klaren Sternen, über welche zerrissene Wolken in rasender Eile hinjagten. Ich nahm Stoß beim Arm. Unter andern Umständen hätte ich es lustig gefunden, gegen den Sturm anzukämpfen. Heute beschäftigte mich zu sehr, was ich gehört hatte.
"Ein erfrischender Landwind!" schrie ich meinem Freund ins Ohr, um das Gespräch wieder aufzugreifen. "Aber die Sache ist ganz klar. Du hast zu viel gearbeitet. Deine Nerven sind nicht in Ordnung. Du bist einfach krank."
"Meinst du? - Ich wollt', ich wär's!"
"Sei ganz ruhig! Diesen Wunsch hat dir ein gütiges Geschick erfüllt, ehe du ihn aussprachst", fuhr ich zuversichtlich fort und drückte mich näher an ihn. Man konnte, wie der Wind, nur in Stößen sprechen und hörte sich dann kaum; aber es war keine Zeit zu verlieren. Was ich zu sagen hatte, mußte rasch gesagt werden.
"Es ist durchaus nicht notwendig, daß du krank bleibst - hast Weib und Kind und darfst dich deinen Phantastereien nicht hingeben, wie zum Beispiel ich. In meinem Fall machte das nichts. Ich könnte mir den Genuß des Verrücktwerdens gestatten. Auch verstehe ich deine Empfindungen ganz genau. Brücken allein bringen sie nicht mit. Wenn man vor tausend Hektar Felsboden steht, der um jeden Preis gepflügt werden muß, oder wenn mir meine Maschinen, mit denen ich ein Königreich retten soll, im Schlamm versinken, oder wenn das ewige Ringen mit der rohen Natur einen neuen Gedanken verlangt, der aus dem Dunst des armen Gehirns nicht hervortreten will, dann wird es auch uns zumute wie euch Brückenbauern. Namentlich in den Nächten, wenn die kleinste Schwierigkeit sich aufbläst wie der Frosch, der ein Ochse werden wollte. Geht dann die Sonne rechtzeitig auf, was sie trotz all unsrer Kümmernisse selten unterläßt, so verschwinden die Gespenster. Man sieht die Dinge wieder, wie sie sind, und schließlich findet sich ein Weg aus jeder Not. Du mußt fort. Das ist das beste Mittel in solchen Fällen."
"Ich kann nicht weg von der Brücke", murmelte Stoß. "Es zieht mich wie mit deinen Drahtseilen. Ich habe nichts hier zu tun; aber du siehst, ich bin heute wieder hier. Ich kann nicht anders."
"Unsinn!" schrie ich in ehrlichem Zorn. "Das klügste wäre, du würdest heute noch umkehren, deinen kleinen Koffer von Anno damals packen und mit mir über den Atlantischen segeln. Du machst dir keinen Begriff davon, wie leicht es uns werden kann, wenn auch nur das kleinste Weltmeer zwischen uns und unsern Sorgen liegt; namentlich, wenn sie an einer Brücke kleben. Du kannst in Panama wieder umkehren, wenn dir dieser Gedanke tröstlich ist. Aber ich weiß, du gehst mit bis Peru. Es sollen dort die tollsten Brücken gebaut werden. Zieht dich's endlich?"
Stoß lachte schwermütig. "Du denkst dir die Sache leicht. Die Ennobrücke schleppe ich mit mir herum, solange ich lebe. Eine ist genug. Die von Peru brauche ich nicht."
"So geh auf ein halbes Jahr nach Ägypten. Jedermann geht nach Ägypten!" rief ich. "Nimm Weib und Kind und eine Dahabie und fahre bis zum zweiten Katarakt. Nicht eine Brücke auf dem ganzen Weg, und Hunderte haben dort ihre Nerven wiedergefunden! Das ist etwas, was dir fehlt. Deine Rechnerei hat dir den Kopf verdreht. Es ist nicht einmal ein ungewöhnlicher Fall. Jeder Arzt, dem du ihn vorlegst, wird dir dasselbe sagen. Also versprich mir: in einer Woche hast du drei Fahrscheine nach Alexandrien in der Tasche; die zwei Kinder brauchen nur einen. Versprich mir's!"
Wir waren auf dem kleinen Bahnhof angelangt und konnten unter dem Schutz des Gebäudes ruhiger sprechen. Nach und nach schien Stoß meinen Vorschlag ernstlicher zu überlegen. Ich schilderte ihm die platonischen Freuden von Kairo und die beruhigenden Genüsse einer Nilfahrt. Dann, wenn es im Frühjahr für die Kinder zu heiß würde, könnte die kleine Karawane über Triest zurückkehren und ein paar Monate in seiner alten Heimat und den Steirischen Alpen zubringen. Wenn er dann nicht als ein neugeborener Mensch England erreiche und lachend über alle seine Brücken schreiten könne, wolle ich meinen Kopf und jede beliebige andre Wette verlieren, die er nur vorschlagen möge.
Der höfliche Stationsvorstand teilte uns mit, daß der aus Newcastle erwartete Zug zehn Minuten Verspätung habe, wahrscheinlich infolge des Sturms, der ihm fast in die Zähne blase. Wir setzten uns deshalb in den kleinen kahlen Wartesaal, den eine schwankende Petroleumlampe dürftig erleuchtete. Als einziger Zierat hingen an den Wänden, in schwarzen Rahmen, zwei Bibelsprüche und ein Fahrplan. "Bedenke, o Mensch, daß du dahin mußt", lautete der erste, der für eine kleine Bahnstation sinnig gewählt war. Der andre erschien mir an dieser Stelle weniger passend: "Der Tod ist der Sünde Sold". Eine spanische Kartause hätte kaum einen weniger erheiternden Eindruck machen können. Trotzdem ließ ich mich nicht abschrecken. Stoß begann sichtlich aufzuleben.
"Ich glaube, du hast recht!" sagte er müde, mit einer Erinnerung an sein altes Lächeln auf den eingefallenen Zügen. Dann plötzlich auffahrend, fuhr er fort: "Bei Gott, ich glaube, du kannst recht haben, Eyth. Vielleicht ist alles nur ein häßlicher Traum, der aus dem Magen kommt. Mein Magen ist sowieso nicht mehr in Ordnung. Ich will mir's überlegen."
"Überleg dir nichts, alter Freund", mahnte ich dringend. "Mit dem Überlegen bist du in deinen elenden Zustand hineingeraten und kommst in deinem Leben nicht mehr heraus. Du brauchst reine Luft, leichte Kost, eine brückenlose Umgebung und einen andern Himmel über dir, das ist der ganze Witz. Glaube mir, ich saß schon zweimal in der gleichen Tinte und wäre so übel daran wie du, wenn ich nicht von einem gütigen Geschick und meinem Geschäft von Zeit zu Zeit in alle Weiten hinausgeschleudert würde, als ob ich auf einer Dynamitbombe gesessen hätte. Das tut gut. Morgen abend bin ich in London. Laß mich deine Billette nach Alexandrien besorgen. Paris, Brindisi, nicht wahr? Abgemacht!"
"Du bist noch der alte -"
"Und du mußt es wieder werden. Abgemacht?"
"Abgemacht! Wahrhaftig, es fällt mir wie ein Stein vom Herzen", sagte er aufseufzend, wie wenn er eine wirkliche Last abwürfe. "Ich glaube, mit den ewigen Stürmen in diesem Hundeklima hätte ich den Dezember nicht mehr durchlebt. Es ist mir seit zwölf Monaten zum erstenmal wieder wie Sonnenschein ums Herz. Leicht, alter Freund, tatsächlich leicht! Meine Frau wird eine kindische Freude haben, wenn sie von dem Plan hört. Sie hat natürlich keine Ahnung davon; wußte ich's ja selbst nicht vor einer Stunde. Eyth, ich glaube, du hast ein gutes Werk getan."
"Ich hoff's!" entgegnete ich; aber selbst seine freudige Aufregung gefiel mir jetzt nur halb. Er sprach wie im Fieber:
"Die Sitzung in Pebbleton ist morgen vormittag um elf Uhr zu Ende", fuhre er hastig fort. "Ich gehe mit dem nächsten Zug nach Richmond, um alles Nötige in Bewegung zu setzen. Du weißt nicht, was es heißt, eine Familie auf sechs Monate einzupacken. Und dann fort, hinaus in eine andre Welt. Du bist doch sicher, daß das Wetter in Ägypten jetzt paradiesisch ist - still - mild! Ich muß Licht haben und Luft, und ein Land, in dem der Sonnenschein nicht aufhört."
"Darauf kannst du rechnen. Das ist eben das Schöne dort, daß man sich darauf verlassen kann!" sagte ich, als mich das Rollen des heranbrausenden Zugs unterbrach. Stoß griff nach seinem Gepäck. Ich brauchte einige Anstrengung, um die Türe des Wartesaals aufzustoßen, die der Winddruck hinter uns mit einem lauten Krach wieder schloß. Im gleichen Augenblick schnaubte das schwarze, triefende Ungeheuer mit seinen zwei Feueraugen an uns vorüber, und weiße Rauchfetzen flatterten über die Plattform. Der Stationsvorstand öffnete eine Wagentüre und hielt sie mühsam mit beiden Händen. Stoß sprang ein, und der Sturm schlug sie zu.
Der Zug setzte sich bereits wieder in Bewegung. Offenbar hatte der Lokomotivführer Eile, die verlorene Zeit einzubringen. Mein Freund hatte das Wagenfenster geöffnet, um mir noch einmal zuzurufen.
"Adieu, Eyth! Wir sehen uns noch, in London! Du besorgst die Billette; drei Stück!"
In diesem Augenblick fuhr er an der einzigen Laterne vorüber, die auf der Plattform steht. Das grelle Licht warf seinen flackernden Schein noch einmal auf sein bleiches Gesicht, daß es glänzte - heiter und voller Hoffnung.
Wahrhaftig, es tat mir wohl. Ich fühlte, daß, wie Stoß es genannt hatte, ein gutes Werk gelungen war.
Und es war so einfach, so leicht gewesen.


DIE STURMNACHT

Ohne auf den Weg zu achten, ging ich nach dem Wirtshaus zurück. Der Sturm schien etwas nachgelassen zu haben; wenigstens folgten sich die brausenden Stöße nicht so häufig wie vor einer halben Stunde. Unser Wiedersehen gab mir genug zu denken. Das also war aus dem Mann geworden, den wir in aller Freundschaft bewunderten und beneideten. Ich zählte das Schöne und Gute auf, das ihm das Glück in den Schoß geworfen hatte: seine reizende Frau, seine Kinder, seine gesicherten äußeren Verhältnisse, die glänzende Stellung in seinem Beruf, welcher er entgegenging. Und dann dachte ich an das abgearbeitete Gesicht, an den ängstlichen, scheuen Blick, mit dem er, kaum mehr kenntlich, neben mir gesessen hatte. Aber es konnte und mußte anders kommen. Der heutige Abend hatte den Anstoß zu einer Wendung zum Besseren gegeben.
In meinem Zimmer standen unsre beiden Whiskygläser auf dem Tisch. Das seine war noch halb gefüllt. Ich weiß nicht, weshalb mir dies besonders auffiel; aber ich erinnere mich der Bewegung deutlich, die mich wie ein leiser, unerklärlicher Schauder erfaßte. Es war vielleicht nur die eiskalte Dezemberluft, die durch alle Ritzen des Hauses pfiff.
Das klügste schien, zu Bett zu gehen; doch es war zu früh, obgleich im Hause schon tiefe Stille herrschte. Ich holte eine Monatszeitschrift aus meiner Reisetasche, die ich für müßige Augenblicke mitgenommen hatte, stierte das Feuer auf und setzte mich in dem Großvaterstuhl des "Goldenen Brückenkopfs" zurecht, um noch ein halbes Stündchen zu lesen.
Wie es wieder tobte! Das Unwetter hatte offenbar aufs neue Atem geholt. Schwere Regentropfen schlugen jetzt mit dem harten Klang, den kleine Kiesel geben, an die Fenster. Zwischen dem Brausen der Windstöße hörte man langes pfeifendes Seufzen in weiter Ferne. Manchmal kam ein Stoß durch das Kamin herunter, so daß das unruhige Kohlenfeuer flackernd ins Zimmer schlug. Wunderliche Geräusche wurden auch im Hause hörbar. Draußen im Gang fiel ein Brett um. Über mir, unter dem Dachboden, krächzte und stöhnte es in unheimlicher Weise. Am fernen Ende des Hauses war ein Fensterladen losgeworden und begann zu schlagen, als ob er die Mauern einhämmern wollte. Es ging wirklich über die Gemütlichkeit einer polizeilich zulässigen Sturmnacht und streifte an groben Unfug. Auch mit dem Lesen wollte es nicht gehen. Ich dachte wieder an Stoß und die Reihe von Jahren seit der Grünheustraßenzeit, in denen trotz der seltenen Begegnungen herzliche Beziehungen, eine Art Freundschaft ohne Worte, zwischen uns aufgesprungen waren. Wir verstanden uns. Ich hatte ihn namentlich heute in seinen Sorgen verstanden und hatte ihm mit der Versicherung nichts vorphantasiert, daß ich seine Stimmung aus eigener Erfahrung kenne. Unser Beruf verlangt oft genug rasche, entschlossene Entscheidungen, und wir sind nicht immer sicher, das Richtige getroffen zu haben. Dann kann die Zukunft schwarze Schatten in den hellsten Tag von heute werfen. Ich fühlte mich zu meinem kranken Freunde hingezogen mit der Gewißheit seiner Nähe, mit einem Drang, ihm zu helfen, daß mir die rätselhafte Empfindung fast unheimlich wurde. Doch glaubte ich endlich eine Lösung für meine nervöse Spannung gefunden zu haben: Wie wär's, wenn ich auf sein Wohl noch einen Tropfen tränke.
Da passierte das Wunderlichste dieser Nacht; fast scheue ich mich, es in diesem wahrheitsgetreuen Berichte zu erwähnen. Als ich mich dem Tisch zuwandte, um mein Glas zu füllen, waren beide leer. Ich hätte darauf geschworen, daß ich das seine noch vor zehn Minuten halbvoll gesehen hatte. Und daß ich es nicht berührt haben konnte, aus Versehen, in Gedanken, spürte ich an der Trockenheit meiner Kehle. Oder hatten seine Nerven auch die meinen aus Rand und Band gebracht? Es war am Ende doch besser, zu Bett zu gehen. Natürlich! Ich mußte sein Glas in Gedanken ausgetrunken haben. Dann war es genug für heute.
Ein mächtiges Himmelbett mit roten Vorhängen stand im Nebenzimmer und sah mich behäbig und beruhigend an; ein Bau alten Schlags, mit entsprechendem Bettzeug. Wenn ich nur die Hälfte der Kissen über die Ohren zog, die zur Verfügung standen, konnte die Welt in Trümmer gehen, ohne daß ich es zu hören brauchte. So wollte ich's machen. Dabei konnte der verrückte Laden draußen schlagen, so lange er Lust hatte. Ich zog meine Uhr auf: es war dreiviertel auf elf Uhr. Wie die Zeit fliegt, wenn man den Kopf voll hat!
Doch jetzt klapperte etwas Neues: zwei scharfe Schläge unten am Haustor. Ich stand mit der Uhr in der Hand und lauschte. Sie wiederholten sich nach einer kurzen Pause. Rapp! Rapp! Das war sicherlich nicht der Wind.
Im Gang schlurften schwere Schritte. Türen gingen auf und zu, eine mit einem lauten Knall. Der Sturm mußte sie zugeschlagen haben.
- Rapp! Rapp! - Das war wieder nicht der Sturm. - - Jetzt hörte ich die Stimmen unter mir in dem Hausflur, hastig, ungeduldig, dazwischen eine weinerliche Kinderstimme, dann eine schrille Frau auf der Treppe über mir. Ich zog halb mechanisch meinen Rock wieder an, den ich bereits abgelegt hatte, und öffnete die Zimmertür.
Es war schon Licht unten. Ein kleiner Bursche stand unter dem offenen Haustor, der Wirt halb angekleidet, der Hausknecht mit einer Stallaterne vor dem Kleinen. Die flackernde Helle fiel auf das Gesicht des Jungen, der verstört und außer Atem schien. Er schluchzte fast:
"Großvater schickt mich zum Stationsvorstand. Es ist etwas nicht in Ordnung mit der Brücke. Wie ich an Euerm Haus vorüber will, sehe ich Licht oben. Da wollte ich auch bei Euch anrufen, Onkel."
"Der Hausknecht soll mit dir gehen", sagte der Wirt. "Der Wind könnte dich ins Wasser blasen, Bobby. Was ist los? Was sagt der Großvater?"
"Er sitzt am Telegraph und zittert. Etwas ist geschehen. Ich muß zum Stationsvorstand. Vater war auf der Maschine."
Jedenfalls zitterte der Kleine wie ein Blättchen Espenlaub und lief, sich plötzlich umdrehend, laut schluchzend in den Sturm hinaus.
"Halt, Bobby, halt!" schrie der Wirt ihm nach.
"Vater war auf der Maschine", hörte ich nochmals, schon aus der Ferne. Ich war jetzt selbst unten und sah den Wirt fragend an. Ein dumpfer Schrecken war auch mir durch Leib und Seele gefahren.
"Es ist der Bub des Brückenwärters, heißt das, sein Enkel!" erklärte der Wirt unruhig. "Jack lauf ihm nach; schnell! Dem Kind könnte etwas passieren in einer solchen Nacht. Ja, ja, Herr", fuhr er, sich zu mir wendend, fort, "ganz geheuer ist es nicht. John Knox ist ein ruhiger Mann. Für nichts schickt er den Kleinen nicht in dieses Unwetter hinaus. Es könnte schon etwas passiert sein."
"Ich muß sehen, was es ist!" rief ich ohne Besinnen und flog die Treppe wieder hinauf, um Hut und Schirm zu holen. Als ich herunterkam, hatte der Wirt seine Mütze auf und zog einen schweren Überrock an.
"Den Schirm können Sie zu Hause lassen, wenn Sie ihn nicht in tausend Fetzen sehen wollen", sagte er lachend. Er hatte den stoischen Gleichmut seiner Rasse wieder völlig erlangt, gab mir einen Stock und drückte mit aller Macht das Haustor auf, das der Wind donnernd geschlossen hatte. Der Hausknecht begegnete uns nach wenigen Schritten. Er hatte den Jungen nicht mehr finden können und das Rufen gegen den Wind als hoffnungslos aufgegeben. "Dem geschieht nichts!" tröstete er sich. "Er läuft im Straßengraben wie ein Wiesel." Für uns war es gut. Wir ließen ihn vorangehen, mit der Laterne unter seinem Mantel. Wenn er den Kragen zurückschlug, konnte man wenigstens von Zeit zu Zeit sehen, wo man war. Erst als wir den Bahndamm erreicht hatten, der uns gegen Westen schützte, war es möglich, wieder aufzuatmen. Schweigend gingen wir den Fußpfad entlang, den ich bereits kannte. Über unsre Köpfe weg sauste und zischte der Wind, ohne uns packen zu können. Gelegentlich fiel ein abgerissener Baumzweig vor uns zu Boden, den er verloren hatte. Über uns, in der Luft, schienen schreiende Katzen und Hunde durcheinander zu fliegen. Keiner von uns sprach. Nach zwanzig Minuten sahen wir über dem Rand des Bahndamms das Licht des Wärterhäuschens.
Der Knecht wickelte seine Laterne zum zehntenmal aus dem Mantel und beleuchtete die schmale Treppe, die an der Böschung hinaufführte. Wir kletterten mit einiger Vorsicht in die Höhe. Es war ein wunderliches Gefühl, als wir mit dem Kopf über die Dammkante in den vollen Sturm kamen, der über die Schienen wie über eine Messerschneide wegpfiff. Zum Glück hatten wir nur ein paar Schritte bis zur Türe des Häuschens und fühlten uns in den kleinen Raum völlig hineingeblasen. Der Knecht hatte die Türe auf gerissen, die mit einem Knall hinter uns zuschnappte.
Alles war heute nacht in Bewegung: eine unruhig schwankende Hängelampe beleuchtete das nur mit einem Tischchen, mit ein paar Stühlen und mit einem Schrank dürftig ausgestattete Gemach. In der Ecke an der Rückwand stand ein Telegraphentisch mit einem der einfachsten Instrumente, die für Dienstsignale benutzt werden. Vor diesem Tisch saß ein regungsloser Mann, mit dem Kopf auf den Armen, der fest eingeschlafen schien.
"John! John Knox!" schrie unser Wirt, indem er ihm einen derben Schlag auf die Schulter gab.
Der scheinbar Eingeschlafene richtete langsam den Kopf auf, sah sich scheu um und starrte den Wirt an, wie wenn er noch nicht ganz bei Besinnung wäre.
"John Knox - wach auf, Mann!" rief unser Führer ungeduldig.
"Wir glaubten, es sei ein Unglück geschehen. Donnerwetter, ich glaube, es ist Whisky!"
"Nein", sagte John Knox, indem er aufstand und plötzlich am ganzen Leib zu zittern anfing. "Ich glaube - ich glaube, es ist ein Unglück."
"Aber was ist los, Mann? Deine Brücke steht noch."
"Mein Ende."
"Wach auf, Knox!" schrie der Wirt, den die irre Ruhe des Mannes nervös machte. "Was in Teufels Namen ist passiert?"
Knox wies nach dem Telegraphentisch, wie wenn er sich vor dem Apparat fürchtete. Dann sagte er mit heiserer Stimme: "Ich kann keine Antwort vom andern Ende erhalten: keinen Laut, seit zwei Stunden."
"Bloß das?" lachte der Wirt jetzt, laut und lärmend. "Alter Schafhund! Der Draht ist gerissen. Ist das ein Wunder in dieser Nacht?"
"Nach der Station hin, auf unsrer Seite, sind sie alle gerissen versetzte Knox wie in dumpfer Gleichgültigkeit. "Aber über die Brücke können sie nicht reißen. Sie sind in die Brückenbalken eingelassen. Seit der letzte Zug von hier abging - kein Laut." Er trat an den Tisch und klopfte wie wütend auf die Taste des Instruments. - "Wilson! Wilson!" schrie er dann plötzlich auf. "Die Brücke ist gebrochen!"
"Großer Gott!" rief der Wirt. "Das ist nicht möglich! Mit dem Zug? Du hast es nicht gesehen. Das kann nicht geschehen sein."
"Mit dem Zug!" erzählte Knox keuchend, wie wenn plötzlich alles in ihm wach geworden wäre. "Er fuhr durch - alles in Ordnung. Der Maschinenführer, mein George, mein Sohn George, riß mir den Signalstock aus der Hand, wie gewöhnlich, und fuhr los. Er hatte zehn Minuten Verspätung und war in Eile und fuhr los. Man konnte kaum aus den Augen sehen, so stürmte es. Aber ich sah die roten Lichter am letzten Wagen noch eine Zeitlang - drei, vier Minuten - wie sie kleiner wurden. Dann mit einem Male waren sie verschwunden - wie ausgeblasen."
"Du hast nichts gehört?"
"Bei dem Gebrüll von oben und unten! Die Flut heulte noch lauter als der Sturm. Sie waren mit einem Male weg, wie ausgelöscht. Ich dachte nicht gleich daran, was es bedeuten könnte. Erst fünf Minuten später packte mich eine Angst - eine Angst, Wilson, wie wenn hundert Menschen ihre Arme aus dem heulenden Wasser heraufstreckten und sich an mich klammerten. - Ich hinein und an den Telegraphen. Der Zug mußte jetzt drüben sein. Bob Stirling konnte mir antworten. - Aber keine Antwort, keinen Laut! Seit zwei Stunden kein Laut!"
"Und du bist nicht der Brücke entlang gegangen, um nachzusehen?"
"Der Brücke entlang gehen? - nachsehen? in dieser Finsternis; in diesem schwarzen Aufruhr!" stöhnte Knox. "Was hätte ich machen können, als mich hinunterblasen lassen, wo die andern sind. Aber ich habe es kommen sehen, seit Monaten. Morgen wollte ich's Herrn Stoß sagen; dem konnte ein gemeiner Mann wie unsereins dergleichen sagen."
Jetzt konnte ich nicht mehr stille halten. Der ganze Schrecken des entsetzlichen Unglücks hatte auch mich gepackt.
"Großer Gott, was wollten Sie Stoß sagen?" fragte ich tief erregt.
"Sie wissen, die Zugstangen, die Kreuze zwischen den Pfeilersäulen, sechs in jeder der hohen Säulen -"
"Was ist es mit den Stangen?"
"Sie sind mit Keilen in den Säulen befestigt, und vom Zittern der Brücke wurden die Keile immer loser. Ein Dutzend sind in der letzten Woche herausgefallen, und die ganze Brücke zitterte und schwankte, wenn ein Zug rasch darüberging, daß es mir den Leib zusammenschnürte. Ich habe mit Stirling oft darüber gesprochen. Er meinte, wir sollten es Herrn Stoß schreiben. Aber wir wußten auch, daß Herr Stoß nichts mehr mit der Brücke zu tun hat."
"Aber um Gottes willen, Mann - Sir William! Er ist noch heute der Ingenieur der Bahn. Warum haben Sie es nicht Sir William gesagt?"
"Da wären wir schön angekommen, wenn wir armen Teufel einem so hohen Herrn geschrieben hätten, daß seine Brücke einfallen wollte! Aber ich wollt', ich hätt's getan, oder Stirling, trotz alledem; ich wollt', ich hätt's gesagt!"
Er schrie dies hinaus, dann warf er sich auf seinen Stuhl und murmelte kaum hörbar: "Es hätte nichts genutzt."
"Komm, komm, Mann!" rief Wilson, der Wirt, und versuchte ihn aufzurichten. "Was soll das heißen! Wir wissen noch gar nicht, was geschehen ist. Vielleicht ist doch nur der Draht gerissen!"
"In dreißig Minuten werden wir es wissen. Das halte ich nicht mehr aus. Wer geht mit?" fragte ich.
"Unmöglich!" rief der Wirt. "Sie können nicht über die Brücke. Man kann nicht auf ihr stehen, solange der Sturm anhält."
Knox stand auf, ruhig, wie umgewandelt, griff nach einer kleinen Blendlaterne auf dem Schrank, wie sie Bahnwärter benutzen, und zündete sie an, ohne ein Wort zu sagen.
"Gehen Sie nicht", bat der Wirt. "Was kann es nützen, so oder so? Helfen kann niemand mehr, wenn das Schlimmste geschehen ist."
"Aber ich kann's nicht länger aushalten", entgegnete ich. "Kommen Sie, Knox!"
Ich drückte die Türe auf. Es schien doch, als ob der Wind wieder etwas nachgelassen habe. Wir konnten stehen, wenn wir mit aller Kraft nach Westen überhingen. Da und dort war das Gewölk jetzt wieder zerrissen, und ein paar Sterne schienen in wilder Flucht dem Sturm entgegenzujagen. Dann wurde auf Minuten die Nacht wieder pechschwarz.
Es war kein Kinderspiel, dieser Gang. Zum Glück hatten wir jetzt vollauf mit uns selbst zu tun, so daß wir kaum an das Unglück denken konnten, das uns vorwärtstrieb. Knox ging voraus, drehte sich aber um, sooft er ein paar Dutzend Schritte gemacht hatte, um mir zu leuchten. Ich folgte ihm stetig und langsam, vor jedem Schritt versuchend, ob ich fest genug stand, um dem wechselnden Luftdruck Trotz bieten zu können. Wir hatten so den Brückenkopf erreicht. Zwischen seinen monumentalen Granitblöcken war man etwas geschützt und konnte aufatmen. Dann traten wir auf die Brücke, indem wir uns mit beiden Händen an dem luftigen Eisengeländer anklammerten und daran fortarbeiteten. Unser Steg war die etwa zwei Fuß breite Dielung, die nach der Innenseite der Brücke an der linksseitigen Bahnschiene anstieß. Dies war die gefährlichere Seite, denn zwischen den Schienen und den bloßliegenden Schwellen gähnte der schwarze Abgrund, und der Wind blies uns mit boshaften Stößen in diese Richtung. Nach der andern Seite hatten wir wenigstens das Geländer und den Winddruck zu unserm Schutz. Gut war es, daß der Blick nicht in die Tiefe dringen konnte, wo ein zischender Lärm die hereinbrechende Sturmflut ankündigte. Auf Augenblicke nur sah man dort unten weiße Flocken blinken, ohne abschätzen zu können, ob sie sich ganz nahe oder turmtief unter uns bewegten. Das waren die Schaumkronen der sturmgepeitschten Wellen. Über uns war die Nacht ein Wühlen und Wallen, ein Sausen und Seufzen, ein Klatschen und Krachen, als ob der Wilde Jäger und der Fliegende Holländer sich in den Haaren lägen. Aber wir kamen vorwärts, Schritt für Schritt. Die Brücke zitterte fühlbar, aber sie stand noch. Wenn es so fortging, konnte vielleicht alles gut werden.
Da nach zwanzig Schritt das Ufer in undurchdringlicher Finsternis versunken war und uns das gleiche, bleierne Schwarz entgegenstarrte, zählte ich die Pfeiler, über die wir kamen, um ungefähr zu wissen, wo wir uns befanden. Es war dies möglich, obgleich sie nicht zu sehen waren, weil das Geländer auf jedem Pfeiler von einem höheren reichornamentierten Pfosten getragen wurde, der uns sozusagen durch die Finger ging. So wußte ich, wie langsam wir vorwärts kamen, und nachdem wir fünf, sechs Pfeiler hinter uns hatten und über einer scheinbar unendlichen See hingen, die einförmig, unablässig, in schwarzer Wut unter uns toste, gewöhnte ich mich an unsern krebsartigen Gang und fing an, mich über meine kalt werdenden Hände zu ärgern, wie wenn es eine alltägliche Beschäftigung wäre, so in die unergründliche Nacht hinauszuklettern. Auch ging es nach jedem Pfeiler rascher. Ich glaube, ich wäre förmlich munter geworden, wenn nicht das leise, unheimliche Zittern der Brücke mich von Zeit zu Zeit daran erinnert hätte, daß wir auf einem Todesgang begriffen waren. Jetzt hörte man aus weiter Ferne den hartklingenden Schlag eines Eisens - jetzt wieder. Dies war unerklärlich, unnatürlich. Ich hielt an und lauschte, hörte dann aber nur das Pfeifen des Windes und das dumpfe, summende Zischen des Wassers unter meinen Füßen. Weiter!
Knox war ohne Zweifel an diese Art der Fortbewegung gewöhnt. Jedenfalls ging es bei dem alten Manne schneller als bei mir. Ich konnte im Dunkeln oft kaum mehr die Umrisse seiner Gestalt erkennen, dreißig, vierzig Schritte vor mir eine unruhige, gespenstische Silhouette am Nachthimmel. Wir mußten uns dem mittleren Teil der Brücke nähern. Wenn ich richtig gezählt hatte, lag der sechsunddreißigste Pfeiler hinter uns. Ich erinnerte mich, daß vom siebenundzwanzigsten an das Bahngeleise innerhalb der höher liegenden Gitterbalken läuft, anstatt, wie bisher, auf der oberen Flansche derselben. Meine Hoffnung stieg, daß sich noch alles zum Guten wenden müsse. Auch hatte seit den letzten zehn Minuten der Sturm rasch nachgelassen. Das schwarze Gewölk über uns zeigte Risse und lichtbraune Ränder. Ich fing an aufzuatmen.
Da plötzlich war die Schattengestalt meines Vordermanns verschwunden, das Geländer, das ich jetzt auf dreißig Meter ganz deutlich sehen konnte, war leer. Er konnte doch nicht abgestürzt sein. Ich schrie laut: "Knox! Knox!" Keine Antwort. Ich ließ jetzt selbst das Geländer mit der Rechten los und lief vorwärts, so schnell ich konnte. "Knox! Knox!!"
Nein, er war nicht abgestürzt. Dort saß er auf dem Bretterboden, die Beine über die Schienen zwischen den Schwellen herabhängend, die Arme auf den Knien, den Kopf auf den Armen, wie ein Igel, der sich zusammengerollt hat.
"Knox, was ist Ihnen?" rief ich durch den Lärm des Sturms, der eben wieder mit einem brausenden Stoß über uns wegging und die Brücke in zollweite Schwankungen brachte. Ich packte ihn an den Schultern. Wie der Mann dasaß, war es doch allzu gefährlich. Jeden Augenblick mußte ich fürchten, ihn zwischen den Schwellen durchschlüpfen zu sehen.
Er richtete sich ein wenig auf und deutete mit dem linken Arm nach vorwärts. Zum erstenmal, seit wir auf dem Wege waren, zerriß das Gewölk unter der dünnen Mondsichel und ließ einen grellgrünlichen Fleck des Himmels erscheinen. Man sah mit einemmal ziemlich weit nach allen Seiten. Es war, als stünde man in der Mitte einer Zauberkugel, tief unter uns in einem dämmerigen Kreis die schaumbedeckte See, um uns bestimmt und klar die Schienen, die Schwellen, das Geländer, vor uns plötzlich scharf abgeschnitten, das Ende der Brücke, das ins leere Nichts hinausragte.
Ich ging noch zwanzig Schritte vorwärts, fast ohne zu denken, einem qualvollen Drange folgend, der mich weitertrieb. Dann klammerte ich mich wieder mit beiden Händen ans Geländer und sah in das dunstige Blau hinaus, wo noch vor zwei Stunden die riesigen, tunnelartigen Gitterbalken begonnen hatten. Sie waren verschwunden, spurlos weggeblasen.
Erst wollte ich mich setzen, wie Knox saß, und darüber nachdenken, ob das alles nicht doch am Ende nur ein häßlicher Traum sei. Dann packte mich eine fürchterliche Neugier. Ich sah um mich mit der gespanntesten Anstrengung aller Nerven. In weiter, weiter Ferne sah man die Brücke wieder, das Ende, das vom Nordufer der Bucht kam, wie einen schlanken, senkrechten Pfahl, der hoch aus dem Wasser emporragte. Zwischen diesem Ende und dem unsern war eine leere Strecke, fast einen Kilometer breit, über die in ungestörter Kraft und Freiheit das heraufstürmende Meer hinwogte. Nur eine Reihe weißer Punkte bezeichnete über die Wasserfläche weg die Linie der einstigen Brücke. Es war die Brandung, die an den Resten der verschwundenen Pfeiler aufschäumte. Ich zählte sie mechanisch, ohne zu denken. Zwölf! Ich wußte, dies war die Zahl der großen Pfeiler, auf denen der höhere Teil der Brücke geruht hatte. Wenn ich träumte, so träumte ich mit entsetzlicher Folgerichtigkeit. So mußte es gekommen sein. Die ganze Länge der hochliegenden Gitterbalken war eingestürzt.
Knox berührte jetzt mich, wie ich ihn vor wenigen Minuten berührt hatte.
"Sehen Sie etwas?" fragte er, nach der bleigrauen, weißgefleckten Wasserfläche deutend. "Da drunten liegt alles: die Gitterbalken, der Zug, die hundert Reisenden, die Lokomotive, mein George! Dreißig Fuß unter Wasser. Es ist alles vorüber. Und wie es sich so ruhig ansieht!"
In diesem Augenblick klang wieder ein lauter Schlag von unten herauf, wie der Klang einer zersprungenen Glocke, nur härter, und ein leiser Schauer zitterte durch die ganze Brücke. Es waren ohne Zweifel losgerissene, herabhängende Eisenstangen des letzten stehenden Pfeilers, die der Wind hin und her schlug.
"Er führte die Lokomotive, mein George", begann Knox aufs neue und lehnte sich neben mir auf das Geländer, wie wenn er zu einem gemütlichen Gespräch aufgelegt wäre. "Ich fürchte, er ist etwas zu schnell gefahren. Ich weiß, es ist gegen die Vorschriften; die Herren trauten der Brücke selbst nicht ganz. Aber gestraft wird er nicht mehr, das hat ein Ende. Und dann die losen Keile in den Zugstangen und der Höllensturm! Man kann sich denken, wie es kam, jetzt, seit es zu spät ist. - Er war ein guter Sohn, mein George; ich hoffe, er hat nicht lange leiden müssen."
Er schwieg und sah starr ins Wasser hinab.
"Wenn man denkt, was jetzt alles drunten liegt!" fuhr er fort. "Gelitten hat er nicht lange, das ist ein Trost. 's ist Flutzeit. Die Lokomotive mit dem ganzen Zug in den Gitterbalken, gut fünfzig Fuß unter Wasser: fünf Wagen, vielleicht hundert Passagiere, und alle so still - wie Mäuse, die man in ihrer Falle ersäuft. - Auch ein Wagen erster Klasse. Ich sah Herrn Stoß am Fenster, als er an meinem Posten vorbeifuhr. - Ja, ja, auch erster Klasse! Es ist alles eine Klasse, wenn der allmächtige Gott Brücken umbläst. Aber ich fürchte, man wird sie wieder aufbauen."
"Kommen Sie, Knox! Es tut nicht gut, hier hinunterzusehen", sagte ich, mich zusammenfassend. "Wir können ihnen nicht helfen. Vielleicht sind sie besser aufgehoben als wir hier oben."
Ich führte ihn am Arm; er folgte mir willig. Wir brauchten uns nicht mehr am Gitter zu halten. Eine Art Zyklon mußte in jener Nacht über die Bucht gefegt haben. Wir befanden uns jetzt ohne Zweifel in der ruhigen Mitte des Wirbelsturms.
Als wir das Ende der Brücke wieder erreicht hatten, war es fast windstill. Hoch über uns war der Himmel blaugrün und von unheimlicher Helle. Hinter uns, wie ein großes offenes Grab, lag die Ennobucht.
Der Herr des Lebens und des Todes schwebte über den Wassern in stiller Majestät.
Wir fühlten ihn, wie man eine Hand fühlt.
Und der alte Mann und ich knieten vor dem offenen Grab nieder und vor ihm.


NEUES LEBEN

Auch in England ist nicht jeder Dezembermorgen Nebel, Regen und Sturm. Im herrlichsten Sonnenschein lag der Solent vor mir, am Horizont, gegen Süden, die bläulichen Hügel der Insel Wight, rechts und links die sanft ansteigenden Höhen von Hampshire, hinter uns das bewegte Hafenbild von Southampton, fern genug, um die freundliche Morgenstille nicht zu stören. Lautlos zog eine Schar von Fischerbooten am jenseitigen Gestade dem offenen Meere zu. Da und dort tanzten, klein wie Nußschalen, Dampfschleppboote über die Bucht. Weiter im Süden, gegen Cowes, sah man die graziösen Segel von Jachten, weiß wie blitzender Schnee, im warmen Sonnenlicht. Man hätte sich in den Frühling versetzt glauben können, was ja, schon halb auf dem Meere, an einem Morgen nicht schwierig ist, wenn die sanft gekräuselte grünblaue Fläche von munter dahintreibenden weißen Flöckchen belebt ist, die erscheinen und verschwinden, wie wenn sie sich in lustigem Kinderspiel tummelten, und der laue Seewind aus Südwesten mit seiner salzigen Frische und Reinheit alles in ein Gefühl von Wohlbehagen und Freiheit auflöst, das selbst Wald und Heide nicht zu geben vermögen.
Seit einer Stunde saß ich hinter dem mächtigen Steuerrad auf dem Deck der "Pará", einem der großen westindischen Dampfer, die wöchentlich einmal von Southampton nach St. Thomas und Colon abgehen. Es war die erste Stunde seit fast acht Tagen, in der ich ein wenig aufatmen konnte. Der Dampfer lag vor Anker und wartete nur noch auf die Post, um seine Reise über den Ozean anzutreten. Schwarz und eifrig stieg der Rauch aus seinen zwei mächtigen Schornsteinen, und arbeitsungeduldig zischte von Zeit zu Zeit der weiße Dampf aus dem Sicherheitsventilrohr in die Morgenluft hinaus. Manchmal rührte sich auch schon die Schraube, die tief unter mir im grünen Wasser lag, und verriet dies durch ein plötzliches dumpfes Rauschen und den milchweißen Wasserstreifen, den sie vom Schiff abstieß. Hier hatte ich Ruhe. Selbst der bärtige Steuermann plauderte gleichmütig mit einem noch bärtigeren Freund, welcher von ihm Abschied zu nehmen gekommen war. Der unsre ging in einer halben Stunde nach Panama, der andre heute nachmittag nach Singapore.
Weiter vorn auf dem Deck ging es lebhafter zu. Ein Hilfsdampfer hatte die letzten Reisenden gebracht, die an der Schiffsleiter heraufkletterten und ängstlich nach ihren Regenschirmen und ihrem Handgepäck schrien. Koffer und Kisten, elegant und das Gegenteil, Krankenstühle und Kinderwagen wurden heraufgewunden und fielen krachend auf dem Deck nieder, wo die Stewards und ein halbes Dutzend Matrosen sie mit der Geschwindigkeit von Taschenspielern verschwinden ließen. An den Schiffsbrüstungen standen zahlreiche Gruppen, mit feuchten, winkenden Taschentüchern von Freunden Abschied nehmend, die sie aufs Schiff begleitet hatten, oder von andern, die sie noch am fernen Ufer zu sehen glaubten. Zwischen dem ruhigen Englisch konnte man ängstliches Spanisch und aufgeregtes Französisch hören. Es hat jede Nation ihre eigne Art, von der Heimat Abschied zu nehmen. Der Deutsche geht still auf die Seite und schneuzt sich.
Der kleine Dampfer, welcher unruhig schaukelnd neben dem regungslosen Koloß lag, um die letzten saumseligen Gäste ans Ufer zurückzunehmen, hatte auch einen Mann mit den Morgenzeitungen gebracht. Ich kaufte einen Arm voll. Es waren die letzten, die wir in den nächsten vierzehn Tagen zu sehen bekommen sollten. Man mußte sich verproviantieren.
Nach einer ungewöhnlich harten Woche hatte ich die "Pará" gerade noch erreichen können. Am Morgen nach dem großen Unglück war ein Sonderzug von zwei Wagen von Edinburg nach der Ennobrückenstation gekommen, um die Verbindung notdürftig wiederherzustellen. Im Grau des anbrechenden Tages hatte ich Zeit gefunden, die Bucht nochmals zu übersehen. Die Reste der Brücke standen starr und regungslos da, wie erschöpft nach den Stürmen der entsetzlichen Nacht. Die beiden Endstrecken, jede über einen halben Kilometer lang, ragten vollständig unverletzt bis gegen die Mitte der Bucht. Dann kam die schreckliche Lücke, in der, vom Ufer kaum sichtbar, zwölf kleine Inselchen mit den zerknickten Säulenfüßen die verschwundene Verbindung andeuteten. Sonst war nichts zu sehen, keine Trümmer, keine Spur der riesigen Gitterbalken, die gestern noch stolz und kühn in der Luft geschwebt hatten, kein Zeichen des verlorenen Bahnzugs: alles begraben unter der glatten, bleigrauen Wasserfläche, die mit unerbittlicher Gleichgültigkeit darüber hinzog. Noch war auch kein Lebenszeichen an den beiden Ufern zu bemerken. Es war zu früh, namentlich da alle Telegraphenverbindungen vom Sturm zerrissen waren. Das schläfrige Pebbleton hatte den Schrecken noch nicht begriffen, der über die Stadt und die ganze Gegend hereingebrochen war. Erst gegen neun Uhr, als mich der Wirt rief, weil mein Zug abgehen sollte, zeigten sich zwei kleine Schraubendampfer am jenseitigen Ufer, die hastig der Unglücksstätte zudampften. Ich konnte hier nichts helfen. Es mußten viele Tage, vielleicht Wochen vergehen, ehe man den versunkenen Bahnzug heben konnte. Vom Grab der sieben Senkkastenleute sandte ich einen letzten Gruß an meinen Freund dort unten und fuhr ab.
In Leeds war Greigs Gedanke und meine peruanische Reise in zwei Stunden zum Beschluß geworden. In London, wo alles, was der Mensch in der Welt bedarf, ob er Afrika durchqueren oder den Nordpol aufsuchen will, in irgendeinem Kaufladen zu haben ist, man muß nur wissen, wo, oder jemand kennen, der es weiß, genügten zwei Tage, um mich für die Antipoden auszurüsten. Ich hatte sogar Zeit für eine heilige Herzenspflicht gefunden und war nach Richmond gefahren. Es war einer der schwersten Augenblicke meines Lebens, als ich an dem Gartentor der eleganten Villa anhielt und unter dem Glockenzug auf einer Porzellanplatte das Wort "Ennovilla" las.
Dies war am vierten Tag nach der Katastrophe. Natürlich wußte man hier schon am ersten, was geschehen war, und nach weiteren qualvollen vierundzwanzig Stunden, wie nahe das Unglück dieses Haus betroffen hatte. Man sah es dem Dienstmädchen an, das mir die Tür öffnete, auch wenn sie keine schwarze Schürze und schwarze Bänder in ihrem Häubchen getragen hätte. Sie blickte mich an, als ob auch ihr der Schrecken und die Angst im Gesicht stehengeblieben wären. Dann nahm sie meine Karte, führte mich aber ohne weiteres in das Empfangszimmer, wo ich längere Zeit warten mußte. Auch hier hing ein großes Aquarellbild der Ennobrücke in prachtvollem Goldrahmen dem Hauptfenster gegenüber. Wie kühn und stolz sich die zwölf Mittelpfeiler und die riesigen Gitterbalken ausnahmen! Der Künstler hatte etwas von der Poesie unserer Zeit in das Bild zu legen gewußt.
Nach zehn Minuten trat Missis Stoß ein: hastig, schwankend, bleich, mit starren, erschreckten Kinderaugen, faßte mich an beiden Händen und flüsterte:
"Keine Hoffnung?"
Sie hatte noch gehofft. Ich konnte ihr nicht antworten. Wie plötzlich schien diese Blume geknickt zu sein. Sie verstand mein Schweigen, setzte sich in den nächsten Stuhl und schluchzte.
Ich konnte mich nicht entschließen, ihr viel von dem letzten Abend zu erzählen, den ich mit Stoß zugebracht hatte. "Es wäre fast gelungen, Ihren Auftrag auszuführen", berichtete ich nur. "Er wollte mit Ihnen und den Kindern nach Ägypten und freute sich herzlich darauf. Ich glaube, er starb im Gefühl dieser Freude. Nun hat er weiter reisen müssen, und allein."
Ich glaube, ich hätte selbst so viel nicht sagen sollen. Trostworte in den ersten Tagen eines solchen Schmerzes sind etwas Trostloses; es ist besser, den Tränen ihren Lauf zu lassen. Und auch ich war meiner selbst nicht ganz Herr und ging bald, fast ohne Abschied, davon. Sie bemerkte es kaum, denn sie konnte durch ihre Tränen nichts sehen. Doch sie weinte wenigstens, das war immerhin etwas.
Sir William war zum Glück nicht um den Weg. Er sei vorgestern nach Pebbleton abgereist, sagte mir das Dienstmädchen, das mir die Gartentür wieder öffnete. Das mag auch für den alten Herrn eine Reise gewesen sein, die er für den Rest seiner Tage nicht vergißt. Vielleicht war Stoß besser daran. . .
'Es ist schön hier, aber sie lassen uns Zeit zum Abschiednehmen', dachte ich, mit einem gewaltsamen Versuch, auf andre Gedanken zu kommen. Zwei niedliche Mädchen halfen mir. Sie hatten seit einer halben Stunde ihre Taschentücher im Kreis geschwungen, als seien sie zwei lebendige kleine Windmühlen, schöpften ein wenig Atem und fingen von neuem an. Der Onkel am Ufer war wahrscheinlich schon längst wieder auf seinem Bureau, aber sie glaubten ihn in einem alten Fischerweib noch immer zu erkennen, bis ich ihnen mein Feldglas lieh. Dann begann ich meine Zeitungen zu entfalten, zu deren Studium ich jetzt zwei Wochen behaglich Zeit hatte.
"Ennobrücke", "Ennobucht", "Ennokatastrophe" - wo man hinsah. Je weniger sie davon wußten, um so mehr hatten sie darüber zu schreiben. Kein Mensch, das schien jetzt festzustehen, hatte das eigentliche Unglück, den Fall der Brücke, gesehen. Einem Berichterstatter der "Daily News" war es gelungen, in Pebbleton zwei Kanalbootschiffer zu entdecken, die gegen zehn Uhr in etwas angetrunkenem Zustand auf ihre Barken zurückgekehrt waren. Der eine dieser Männer versicherte, in der Richtung der Brücke plötzlich zweimal rasch hintereinander große weißliche Feuerscheine wie Garben aufflammen gesehen zu haben. Daraufhin habe sein Kamerad behauptet, er sei ohne Zweifel der Betrunkenere von beiden. Hieraus sei ein kleiner Wortwechsel entstanden, der zu ernsten Tätlichkeiten geführt habe und dessen sie sich beide noch ganz deutlich erinnerten. Der Berichterstatter glaubte vermuten zu dürfen, daß der Schiffer das riesenhaft aufspritzende Wasser gesehen habe, das bei dem Sturz der Brücke vielleicht von dem aus der Lokomotive herausfallenden Feuer beleuchtet wurde.
Der "Daily Telegraph" hatte auf dem andern Ufer der Bucht den Brückenwärter Knox gefunden, der ihm, wie ich mir denken konnte, außerordentlich magere Mitteilungen gemacht zu haben schien. Das wichtigste war, daß dieser Mann der erste gewesen zu sein schien, welcher in Begleitung eines fremden Herrn das Geschehnis festgestellt habe. Der Berichterstatter sei damit beschäftigt, den fremden Herrn zu ermitteln, der als intelligent und nicht ohne Sachkenntnis geschildert werde und vielleicht näheren Aufschluß geben könne. Es werde vermutet, daß er sich in Manchester befinde. Unzweifelhaft sei, daß einer der leitenden Ingenieure der Brücke, Herr Stoß, Ennovilla, Richmond, der Schwiegersohn des Erbauers Sir William, bei der Katastrophe das Leben verloren habe. Soweit sich bis jetzt ermitteln lasse, seien zweiundsiebzig Reisende und das aus fünf Mann bestehende Zugpersonal umgekommen. Wo die Verantwortung für das entsetzliche Unglück zu suchen sei, werde eine eingehende Untersuchung wohl erst nach Monaten feststellen können. Nach der Ansicht von Sir William, der sich seit gestern an der Unglücksstätte befinde, müsse der Zug durch den Winddruck zum Entgleisen gebracht worden sein und dann das Gitterwerk in die Tiefe gerissen haben. Wenn sich die Sache so oder ähnlich zugetragen habe, so sei allerdings der Konstrukteur der Brücke, dessen weltberühmter Name dies voraussehen lasse, von jeder Schuld freizusprechen.
Der "Daily Chronicle" wußte zu berichten, die aus Leith herbeigerufenen Taucher, die Herren Fred Shaw und Thomas Gladhill, hätten festgestellt, daß der Bahnzug samt Lokomotive und Tender innerhalb der tunnelartigen Gitterbalken auf dem Grund der Bucht zur Zeit der Ebbe etwa dreißig Fuß unter Wasser liege, und zwar zwischen dem vierten und fünften der zusammengebrochenen Pfeiler. Die vollständige Zerstörung dieser Pfeiler fuhr der Bericht fort, von denen nur noch kleine Reste aus dem Wasser hervorragen, lasse darauf schließen, daß sie der schwache Punkt der ganzen Struktur gewesen seien und den außerordentlichen Stürmen jener Nacht nicht standzuhalten vermochten. Es sei zu hoffen, daß die sträfliche Leichtfertigkeit, welcher nicht nur hundert Menschenleben zum Opfer gefallen, sondern die namentlich auch dem Ansehen und der Ehre des englischen Ingenieurwesens einen schweren Schlag versetzt habe, nachgewiesen und in rücksichtsloser Weise an den Pranger gestellt werde.
Der "Standard" wußte zu erzählen, es sei außer Zweifel, daß der verunglückte Lokomotivführer gegen die ausdrücklichen Bestimmungen der Bahnverwaltung mit einer Geschwindigkeit über die Brücke gefahren sei, welche die Katastrophe herbeiführen mußte. Das entsetzliche Unglück weise aufs neue darauf hin, daß es Grenzen gebe, die der Mensch nicht ungestraft überschreite, daß aber der Ruf der englischen Technik von diesem tief bedauerlichen Unfall nicht ernstlich berührt werde. Der schleunigste Wiederaufbau der Brücke sei eine selbstverständliche Sache. Der Oberbürgermeister von Pebbleton habe auf den kommenden Montag eine Versammlung hervorragender Bürger der Stadt und der nördlichen Grafschaften einberufen, um die erforderlichen Maßregeln zu besprechen. Von den Leichen der Verunglückten habe bis jetzt noch keine geborgen werden können, da dieselben teilweise noch in den Wagen eingeschlossen seien, teils vielleicht schon durch die Flut in die hohe See hinausgeführt sein dürften. -
Ich hatte vorläufig genug von meinen Zeitungen und ließ mich in Gedanken auf die hohe See hinausführen, die unter der höher steigenden Sonne immer heller und fröhlicher schimmerte, als ob mir die Alte Welt zum Abschied ein besonders freundliches Gesicht machen wolle. Es war ein glänzender Tag zum Anfang meiner Reise, und wie viel Düsteres ließ ich hinter mir! Namentlich freute mich, daß der Berichterstatter des "Daily Telegraph" den "intelligenten Fremden" wohl kaum mehr erwischen dürfte, den er in diesem Augenblick vielleicht in Manchester suchte. Was hätte ich ihm sagen können?
Endlich legte das langerwartete Postboot an, und dreiundfünfzig Säcke voll Briefe und Pakete für Westindien, Kalifornien, Chile, Honolulu, Samoa und hundert andre heiße Winkel der Erde begannen auf dem Nacken von Matrosen an der Schiffsseite heraufzuklettern. Auch auf Deck wurden Briefe ausgegeben und die Namen der Empfänger, die noch niemand kannte, laut ausgerufen, darunter in einer seiner vielfachen englischen Verzerrungen der meine. Ich erhielt zwei kleine Pakete und einen Brief. Das erste stammte aus unserm Londoner Bureau und enthielt ein Bündel Empfehlungsbriefe an Kaufleute und Pflanzer in Portoriko und Trinidad, in Callao, Lima und Truxillo.
Das zweite, mit schwarzen Siegeln geschlossen, kam aus Richmond. Ein kurzer Brief von Frau Stoß fiel mir zuerst in die Hand:

Lieber Herr Eyth!

Ihr Besuch hat mir so wohl getan und so weh, daß ich Ihnen heute erst danken kann. Es ist mir ein Herzensbedürfnis, daß wenigstens Sie wissen, wie alles gekommen ist. Ich sende Ihnen deshalb Harolds Briefe, die er mir von der Ennobucht geschrieben hat. Lesen Sie sie auf der Seereise und denken Sie an uns. Sein bester Freund hat ein Recht, sie mit mir zu teilen.
Gott geleite Sie. Ich weiß jetzt, wie sehr man seiner bedarf.

Ihre

Ellen Stoß.

Auf diese Weise kam ich zu den Schriftsachen, von denen ich einige diesen Erinnerungen anfüge.
Der dritte Brief, den ich erhielt, war mir seit fünf Tagen nachgelaufen, wie sich aus den Postzeichen ergab: erst nach Leeds, dann nach Dunrobin, dann wieder nach Leeds, dann nach London und schließlich hierher nach Southampton und an Bord der "Pará". Unter Umständen kann das Wanderleben eines Briefumschlages sehr interessant werden, auch wenn in dem Briefe selbst nicht viel steht; gerade wie bei Menschen.
In diesem Brief aber stand einiges. Er war aus Thüringen. Es tat mir wohl, im letzten Augenblick auf europäischem Boden einen Gruß von meinem alten Schindler zu erhalten. Das Kleeblatt aus der Grünheustraße war doch noch nicht ganz entblättert. Er schrieb:

Lieber Freund!
'Quand on a du courage, on vient à bout du tout': Weißt Du noch, wie mir dies seinerzeit den gebrochenen Mut wiedergab und Ihr beide an meiner Weisheit schmarotztet? Denn hätte ich diese herrliche Lehre nicht von Derby mitgebracht, so wäre aus uns allen höchstwahrscheinlich nichts geworden. Also merke Dir's: in freier deutscher Übersetzung: 'Der Mutige kommt ans Ziel, er weiß nicht wie.'
Daran halte ich mich seit Jahren und schreibe unter diesem Zeichen auch heute Dir und unserm Freund Harold fast gleichlautende Briefe. Ich brauche Euch hier und Ihr müßt kommen! Du wirst dies sofort selbst einsehen.
Vorige Woche hat meine liebe Frau ein Einsehen gehabt und uns ein Knäblein geschenkt; ich sage Dir, einen prächtigen Jungen. Er steht schon in der 'Kölnischen Zeitung', wie Du vielleicht bemerkt hast. Du kannst Dir den Jubel vorstellen, nach fünf Mädchen. Obschon uns die herzigen Dingelchen gewiß auch gefreut haben und aufblühen wie fünf wilde Rosenknöspchen, hatten wir doch manchmal zusammen gesagt, daß eine kleine Abwechslung recht nett wäre. Und nun ist's gelungen.
Du verstehst leider Gottes von all dem nichts und mußt auf Treu und Glauben hinnehmen, was ich Dir erzähle, aber du kannst mir glauben. Mit solchen Dingen soll der Mensch nicht scherzen, sie sind kein Kinderspiel.
Nun weißt Du seit den Tagen in der Grünheustraße zu Manchester, daß wir uns leidlich gern haben, aber Du hast keine Ahnung davon, wie meine Frau Harold und Dich verehrt. Harold stelle ich voran, um Deiner Bescheidenheit nicht zu nahe zu treten. Ich habe ihr natürlich in den letzten Jahren viel von euch erzählt. Von Stoß wußte ich immer genau, wie seine Brücke vorwärtskroch. Bei Dir war man allerdings nie sicher, wo man sich hindenken mußte, um Dich zu finden; das war meiner Frau um so interessanter. Sooft wir wieder erfuhren, daß Du am unteren Po in einem Sumpfe stecktest oder in den Eriekanal gefallen seiest, hatten wir eine rührende Freude. So kam's, daß wir schon vor unserm zweiten Mädchen beschlossen, das Kind müsse 'Max Harold' heißen, eine sinnige Zusammenstellung von Namen, in die meine Frau, unter uns gesagt, ganz vernarrt ist. Das ging nun nicht gut an, und beim dritten und vierten und fünften ging's auch nicht. Jetzt aber geht's, und nichts in der Welt soll mich abhalten, ihren Herzenswunsch zu erfüllen. Ich weiß, Du bist gutmütig genug, Dir's gefallen zu lassen, und Stoß hat seine Zustimmung schon vor sechs Jahren gegeben, als ich indiskret genug war, etwas zu früh anzufragen.
Aber dies ist nicht alles, was ich heute haben will. Quand on a du courage und so weiter. Ihr müßt selbst kommen, persönlich, eigenhändig! Diese Feier soll ein Tripelfest werden, wie in Thüringen noch keines erlebt wurde. Fünf weißgekleidete Jungfrauen liefere ich selbst. Bei Harold stoße ich auf keine Schwierigkeiten. Er hat mir schon bei seinem unvergeßlichen Brückenfest versprochen, zu kommen. Du allerdings wirst Dich winden und drehen. Aber es nützt Dir nichts; Du mußt. Verstehst Du noch, was das heißt: Du mußt?
Meine Frau sagt zwar, ich dürfe unter keinen Umständen auch nur die leiseste Andeutung davon fallen lassen; es würde dies alles verderben. Aber ich verstehe die Welt denn doch ein wenig besser als sie. Harold macht ihr keine Sorgen. Ihr einziger Kummer in bezug auf die hochverehrten Paten ihres künftigen Mäxchen alias Haröldchen ist, daß Du noch immer so verwahrlost in der Welt herumläufst. Manchmal, wenn sie daran denkt und sich Dein Elend vorstellt, packt sie ein Gemisch von wilder Empörung und unbeschreiblicher Sehnsucht, Dir zu helfen; und ich muß zugeben, es ist die höchste Zeit. Nun haben wir bis zur Taufe eine Nichte meines Gretchens hier - lache nicht, in der Bosheit Deines Herzens -, die anerkannte erste Schönheit Thüringens, spricht Englisch, musiziert, kocht, möchte um jeden Preis mit jemand ein paarmal um die Welt reisen und würde ihn, wenn ihr dieser Wunsch erfüllt würde, zur Not sogar heiraten, ein Herz wie Gold nebenbei -, eigentliches gemeines Gold brauchst Du ja nicht - kurz -: ich will nichts weitersagen, um dem Wink meiner Frau einigermaßen Rechnung zu tragen. Du mußt selbst sehen, dann ist mir nicht mehr bange. Welcher Spaß, wenn Gretchen Deine Tante würde!
Das also wäre abgemacht, wenn Dir der 15. März paßt. Wir können den Tag ohne Anstand vor- und rückwärts schieben. Mache dies mit Stoß aus. Wir taufen zu jeder Zeit, die Euch gut dünkt.
Daß es mir vortrefflich geht, brauche ich Dir kaum zu sagen; ich hoffe, Du fühlst es in diesen Zeilen. Der namenlose Knirps schreit zwar schon wieder, aber es ist eine Freude, seinen guten Lungen durch drei geschlossene Zimmertüren hindurch zuzuhören. Dabei macht mein technisches Wörterbuch glänzende Fortschritte. Wenn Du nicht völlig zum langweiligen Engländer ausgedörrt und zusammengeschrumpft bist, lese ich Dir nach der Taufe einen Buchstaben vor. Es wird Dich interessieren.
Nun Gott befohlen! Gretchen hat Dich zwar noch nie gesehen, freut sich aber auf 'unser Wiedersehen', wie das Kind, das sie ist, trotz ihrer sechse. Laß ihre Freude nicht zuschanden werden!

Dein alter Schindler.

Es war ein Brief wie aus einer andern Welt. Ich sprang auf. Eine Zeile mußte er zur Antwort haben, wenn auch nur eine Zeile. Allein während ich las, hatte ich nicht beachtet, was an Bord vorging. Der letzte Händedruck war gewechselt, die letzte Abschiedsträne gefallen. Hals über Kopf war auch der letzte Abschiedsgast in das Postboot hinuntergeflogen, das ihn aus Barmherzigkeit ans Ufer nehmen mußte. Als ich aufsah, war der kleine Dampfer schon zehn Schritte von unsrer Schiffsseite abgetrieben. Die verbindenden Taue fielen klatschend ins Wasser, und durch unsern Koloß ging ein leises, geheimnisvolles Zittern: wir waren in Bewegung. Unsre Dampfpfeife stieß ein ohrenzerreißendes Geheul aus. Europa lag hinter uns.
Es war nun einfach unmöglich, Schindler ein Lebenszeichen zu geben, ehe wir in fünfzehn Tagen St. Thomas in Westindien erreicht hatten. Das machte mit der Zeit der Rückkehr des nächsten Postdampfers mindestens fünf Wochen für ihn. Was sein Gretchen von den "hochverehrten Paten" denken mochte? Denn auch Harold antwortete nicht mehr.
Ich ging nach vorn. Das Zurückblicken ist nicht meine Sache. Das stolze Schiff bog in mächtigem Schwung aus der Bucht von Southampton nach Westen, und der schwarzblaue Ozean lag vor uns in der sonnigen Klarheit des Mittags. Am Horizont versanken die Schiffe, die wie wir gen Westen steuerten. Ein Viermaster, schwer beladen, alle Segel vom Winde gebauscht, stieg majestätisch herauf, aus unbekannten Ländern. Dort lagen auch für mich neue Arbeit, neue Mühen, neue Freuden. Das ist Manneslos. Hinaus!



(1) Es möge hier ausdrücklich betont sein, daß sämtliche Namen, auch die Ortsnamen, die sich in irgendwelcher Weise auf die "Ennobrücke" beziehen, aus naheliegenden Gründen erfunden sind. Dagegen ist die technische Geschichte des Unternehmens auch im einzelnen den Tatsachen entsprechend erzählt.